Nudging: Wir wissen, was gut für dich ist!
„Du
willst es doch auch!“
(tangotypischer
Überredungsversuch)
Für
alle, denen es wie mir geht und die mit dem schönen Fremdwort nichts anzufangen
wissen:
„Nudging“ (englisch „Anstupsen“)
ist ein Begriff aus der Verhaltensökonomik,
der von den US-amerikanischen Wissenschaftlern Richard H. Thaler und Cass
Sunstein geprägt wurde. Die beiden Autoren verfassten das Buch „Nudge: Improving Decisions About Health,
Wealth, and Happiness“ (deutsche Ausgabe: „Nudge – Wie man kluge Entscheidungen anstößt“). Heuer wurde Thaler der „Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften“
zugesprochen.
Basis
ist die Erkenntnis, dass auch der wirtschaftlich
handelnde Mensch („homo oeconomicus“)
nicht von Vernunft gesteuert ist. Daher müsse er durch „Anstöße“ zu seinem
Glück zwar nicht gezwungen, aber doch ein wenig hinmanipuliert werden.
Klar
verhalten sich Menschen irrational: Beispielsweise
rauchen sie, obwohl es ihrer Gesundheit schadet, essen zu viel und ungesund, legen
zu wenig für ihre Altersvorsorge zurück – und Männer zielen zu oft am Pissbecken
vorbei. Dagegen helfen Schockbilder auf Zigarettenschachteln, blickgünstig
platziertes Obst in Kantinen, Warnampeln auf Lebensmittelverpackungen oder
Standardabgaben für die Betriebsrente, welche gelten, solange man ihnen nicht
ausdrücklich widerspricht. Noch schöner: Eine aufgemalte Fliege im Urinal regt
zu größerer Treffsicherheit an – und da für Forscher Ekel kein Kriterium ist,
hat man auch diese Materie schon statistisch ausgewertet und kam auf einen
Rückgang der Bodenpisse von 80 Prozent.
Hauptsächliches
Mittel für den Zwang zum Guten sind
sogenannte „Defaults“ („Standards“).
Grob gesagt versteht man darunter Voreinstellungen,
welche gelten, solange man sich ihnen nicht ausdrücklich widersetzt: Klassiker
ist beispielsweise die „Widerspruchslösung“
bei der Organspende (nur wer erklärt, alle seine Körperteile nach seinem
Tod behalten zu wollen, bleibt von einer Transplantation verschont). Dadurch
hat sich in Österreich die Zahl der Organspender (verglichen mit Deutschland)
verdoppelt. (Ob sich hierbei ein Zusammenhang mit dem momentanen politischen
Hirntod in unserem Nachbarland ergibt, ist allerdings nicht nachweisbar…)
Es
wird also ein breiter Weg mit
angenehmem Gefälle eröffnet – gegensätzliche Entscheidungen hingegen sind für
den Verbraucher mit Mühe verbunden. Setzt man Kopiergeräte werksseitig auf
doppelseitige Funktion, schränkt dies den Papierverbrauch ein – ebenso läuft
das bei den vom Computer-Hersteller gewählten Bildschirmschoner-Voreinstellungen
oder den gewünschten Versand- und Bezahloptionen von Online-Händlern.
Die
Grundeinstellung solchen Tuns lässt sich mit dem Begriff „libertärer Paternalismus“ beschreiben: „Papi weiß schon, was gut für dich ist.“ Der Unmündige wird zwar
nicht zu seinem Glück gezwungen, aber doch trickreich dazu verführt.
Mir
sind bei alldem etliche Parallelen zum
Tango aufgefallen:
Ich
habe einmal ein Event mit zwei Milongas hintereinander erlebt: zunächst
Neotango, dann traditionell. Gäste, die bereits zum ersten Teil erschienen, mussten
den Gesamteintritt bezahlen. Gingen
sie vor Beginn der zweiten Veranstaltung, konnten sie diesen Teil des Geldes
zurückverlangen: eine klare „Widerspruchslösung“!
Inzwischen
hat es sich ja eingebürgert, dass Live-Musiker oft „für den Hut“ spielen. Zunehmend steht der jedoch nicht irgendwo
herum, sondern wird (oft mit dem Wunsch, bitte nur Scheine zu geben) reihum den
Besuchern unter die Nase gehalten: Wer wagt es da, wenig oder gar kein „freiwilliges“
Salär zu „spenden“ – auch wenn er Finanzprobleme hat oder die Musik
unterirdisch fand?
Heute
gilt ja der Aberglaube als bestätigte Tatsache, man lerne Tango am besten mit
einem festen Tanzpartner – nicht wenige
fangen gar nicht erst an oder hören bald wieder auf, wenn ihnen ein solcher
fehlt. „Anmeldung nur paarweise“ – so
lautet das entsprechende Nudging der Tangolehrer – und selbst wenn man
Einzelanmeldungen akzeptiert, wird um Nachricht gebeten, dass man sich seitens
der Schule um einen „Ersatzpartner“ kümmern solle – freilich ohne Garantie und
mit dem Zwangsbekenntnis verbunden, man kriege das selber nicht hin. Dass der
Paarzwang mitnichten den Tangotraditionen
entspricht, habe ich hier bereits beschrieben:
Dennoch
wird so getan, als seien solche Kurse nicht nur der beste, sondern praktisch
der ausschließliche Weg zum Tango. Wer etwas anderes will, braucht viel
Eigeninitiative.
Ähnlich
die Umstände bei den berüchtigten Regeln
vom Auffordern bis zur Parkettbenutzung: Wiederholt habe ich erlebt, wie
Tangolehrer den gläubig guckenden Frischlingen erklärten, dies alles sei in
diesem Tanz eben üblich – kein Wort davon, dass es hierzu unterschiedliche
Auffassungen gibt und auch die Praxis auf den Milongas durchaus nicht
einheitlich ist. Ebenso die Tanzhaltung: natürlich in geschlossener, enger
Umarmung seit Anbeginn des Tango, wie denn sonst? Andere Stile
(und Lehrer, welche diese noch unterrichten) findet der Neuling nur nach
längerer, aktiver Suche.
Am
ärgerlichsten ist der Zwang zum Erwünschten bei der Musikauswahl: Die meisten „traditionellen“ Milongas hüten sich
davor, den Gästen zu erklären, dass man lediglich eine historisch begrenzte
Auswahl von Aufnahmen bietet – man ist inzwischen sogar schon vorsichtig mit
dem kontrovers diskutierten Begriff „EdO“.
Stattdessen legt der DJ eben „seine
schönsten Stücke“ auf oder bietet „bestens
tanzbare“ Titel. Nur der Insider weiß dann, was ihm blüht…
Motto:
Kümmert euch nicht um die Musik, das macht der Papi schon!
Nach meiner Kenntnis veröfffentlicht kein
traditioneller DJ seine Playlisten – er wird wissen, warum.
In
der Wissenschaft immerhin regt sich Widerspruch. Die „Welt“ befragte dazu den
Volkswirtschaftsprofessor Hanno Beck,
der sich kürzlich in einem Buch mit dem „Glücksbegriff“
beschäftigte (Hanno Beck, Aloys Prinz: „Glück – Was im Leben wirklich zählt“):
DIE WELT: Was also macht uns glücklich?
Beck: Die Antwort ist
leider einigermaßen ernüchternd. Denn das, was an Erkenntnissen wirklich
eindeutig und gesichert ist, das ist recht banal: Zum Glücklichsein trägt bei,
Freunde zu haben, gesund zu sein sowie über eine möglichst gute Bildung und
damit idealerweise über ein gutes Einkommen zu verfügen. Bei allen anderen
Dingen sind die Ergebnisse dagegen weit weniger eindeutig. Beispielsweise sind
Verheiratete zwar im Schnitt glücklicher. Es deutet aber einiges darauf hin,
dass in erster Linie jene heiraten, die ohnehin schon glücklicher sind. Und
Kinder scheinen nur dann glücklicher zu machen, wenn sich Paare bewusst für sie
entschieden haben. (…)
Sein
Rat zum Glücklichsein:
„Umgeben Sie sich mit
Freunden, leben Sie gesund, investieren Sie in Ihre Bildung. Kaufen Sie lieber
Erlebnisse als Dinge, denn von Erlebnissen zehren Sie länger. Geben Sie Geld
lieber für kleine Dinge aus als für große Würfe, dann können Sie sich häufiger
eine Freude machen. Geben Sie Geld für andere aus, das erzeugt ebenfalls
Glücksgefühle. Und vor allem: Vergleichen Sie sich nicht mit anderen. Aber
letzten Endes gilt: Glück ist immer individuell, und es ist nicht die Aufgabe
eines Ökonomen, den Menschen zu sagen, was sie glücklich macht.“
Was
er natürlich vergessen hat:
Tanzen Sie Tango –
möglichst in nudging-freien Gefilden!
Und
das passende Bild im Pissoir kann man sich ja noch überlegen…
Quellen:
Braucht man nun zum Tango einen festen Tanzpartner oder nicht? Die folgenden Informationen stammen aus einer einzigen Kurs-Ankündigung:
AntwortenLöschen„Für alle Paartänze gilt: Die Teilnahme ist natürlich besonders im Anfängerbereich auch ohne festen Tanzpartner bzw. feste Tanzpartnerin möglich! Andere kommen auch allein und im Kurs findet sich alles - getauscht wird auch! (…)
Tango Argentino ist ein Paartanz. Es ist besser, einen Partner/eine Partnerin mitzubringen, eventuell findet sich aber auch in den ersten Stunden einer oder eine. (…)
Studierende und Hochschulangehörige haben die Möglichkeit, sich zusammen mit einem externen Partner/ihrer Partnerin (kostenpflichtig) anzumelden. Die Anmeldung ist nur paarweise im Hochschulsportbüro möglich.“
https://db.zfh.uni-hannover.de/angebote/Wintersemester_2017_2018/_Tango_Argentino.html