Von antiken Marathons
Eine Chronik schreibt nur derjenige, dem die Gegenwart
wichtig ist.
(Johann Wolfgang von Goethe)
Die Menschen, welche vor dem Jahr 2000 mit dem Tango angefangen haben und heute noch
dabei sind, werden immer weniger. Und vom Rest haben sich etliche dem heutigen Zeitgeist
(wie freiwillig auch immer) angepasst. Daher freut es mich stets besonders,
wenn einer der „Alten“ sich seine meist eher widerborstigen Einstellungen noch
bewahrt hat.
Kürzlich
stieß ich auf den Facebook-Post
eines Tänzers, der wohl mehr zufällig in die Gruppe eines Tango-Marathons geriet. Die Veranstalterin verstand das wohl so,
dass er sich dafür anmelden wollte. Prompt wurde er gefragt, wie lange er schon
tanze. Er antwortete ihr: „Seit dem
letzten Jahrhundert“. Seine Gegenfrage ergab: Die Organisatorin ist seit
zwei Jahren beim Tango.
Sofort
lud sie ihn zum Event ein. Das Gesamtticket koste 70 €, für erfahrene Tänzer
gebe es jedoch einen Rabatt von 50 Prozent. Der Angesprochene fragte zurück: „Wenn ich also sagen würde, ich tanzte erst 6
Monate, würdest du mich nicht einladen, stimmt’s?“ Die Replik: „Sechs Monate sind schon wenig, aber wenn du
Übersicht auf dem Parkett hast und es dir zutraust, werden wir uns das
überlegen. Könntest du uns ein Tanz-Video von dir schicken?“
Daraufhin
veröffentlichte der Tänzer die folgende Stellungnahme
auf Facebook:
1.
Das Konzept des immerwährenden Anfängers
Ich tanze wirklich
viel länger als du, aber ich fürchte, ich kann an deinem Event nicht
teilnehmen. Der Grund ist, dass ich ein immerwährender Anfänger bin. Nicht,
dass ich in all den Jahren nichts gelernt hätte, aber in meinem Bewusstsein ist
es tief verankert, mich als Anfänger zu fühlen.
Lass mich das
erklären: Unser Tanz wurde Ende des 19. Jahrhundert von Schwarzen erfunden,
dann von Weißen gestohlen, anschließend von Europäern zu einem schrecklichen
Standardtanz degradiert, in der Folge von Argentiniern für Jahrzehnte versteckt
und schließlich von zeitgenössischen Tänzern in den 1990-er Jahren
wiederentdeckt. Nach meiner Überzeugung ist Tango kein Tanz wie die anderen. Uns ist nicht einmal klar, was Tango ist, wie Gustavo Naveira feststellte: „Wir
wissen nicht, was wir da tun.“
In meiner Sicht gibt
es keinen Weg, auf dem „jeder Tango lernen sollte“ – eher die Tatsache, dass man
von allen anderen Tangotänzern auf diesem Planeten all ihre Arten, Tango zu
tanzen, erlernen sollte. Dies ist nämlich für mich die Besonderheit eines
improvisierten Tanzes: Es gibt so viele Weisen, Tango zu tanzen wie es Tänzer
gibt. Und auch jemand, der erst seit zwei Stunden oder zwei Tagen Tango tanzt,
wird mir seine Art zu tanzen zeigen, und ich werde sie schätzen. Natürlich
klappt es manchmal und mal auch nicht,
und nach einem Tanz kann man sich beim anderen bedanken und es an einem anderen
Tag erneut probieren.
Aber je mehr ich
dieses Bewusstsein erlange, desto besser klappt es. Somit gibt es keine
Tanzlevel, sondern nur Menschen, die zueinander passen und andere, die das
nicht tun… an diesem Tag. Ich mag es, mit Anfängern zu tanzen, und wenn die auf
einer Veranstaltung nicht willkommen sind, bleibe ich weg.
2.
Das “Niemand beobachtet mich”-Konzept
Und das ist der
Punkt, auf den ich kommen möchte: Wenn uns beim Tanzen ein Haufen Leute
zuschaut, bedeutet das für viele von uns: „O, das ist toll, die Menschen
schauen mir bei meinem Super-Tanz auf dem Parkett zu, das heißt, ich tanze
wirklich gut, viele werden nach einem Tanz mit mir lechzen“ usw. Und diese
Denkweise gibt es öfters auf internationalen Tangoevents, wie du eines
organisierst. Und das führt manchmal dazu, anzugeben, zu zeigen: „Schau, wie
gut ich bin, vielleicht kriegst du die Chance, nachher mit mir zu tanzen.“
Für mich aber und ein
paar andere bedeutet es manchmal genau das Gegenteil: Wenn keiner mehr auf dem
Parkett von mir Notiz nimmt, habe ich das Gefühl, am besten mit meiner
Partnerin zu tanzen – weil all die Energie des Tanzes innen bleibt und nicht
nach außen verschwindet.
Natürlich bist du
nicht die Einzige, welche die Leute für ihre internationalen Tangoevents nach
ihrem Tanzlevel aussucht, aber die Tatsache, dass du es offensichtlicher tust,
hilft mir, dies zu schreiben: Die Art, wie manche Leute Tanzende nach ihren
Fähigkeiten einteilen, macht mich ein wenig traurig. Ich verstehe, dass es für
einige von euch lästig ist, zu einer internationalen Milonga zu fahren und dann
mit Anfängern zu tanzen, die euch auf die Füße treten. (Und ihr zu schüchtern seid,
euch nach einem Tanz zu bedanken – ich meine, wir müssen wirklich die Regel
einer Tanda eines Tages abschaffen). Aber wenn ich in ein anderes Land zum
Tanzen reise, bin ich dort ebenso neugierig auf die Anfänger wie die
Top-Tänzer.
3.
Die ersten „Tango Marathons“
Und da du dein Event
als „Tango Marathon“ bezeichnest, will ich dir vom allerersten „Tango Marathon“
auf diesem Planeten erzählen: Es war Eric Jorissen, der dieses Konzept in
seiner Milonga „El Corte“ in den Niederlanden zu Beginn dieses Jahrtausends
schuf. Wahr ist, dass dies Events mit einem sehr großen Anteil wirklich
erfahrener Tänzer waren, aber…
Diese
Tango-Wochenenden waren nicht die gleiche unnatürliche Auswahl des Typs, wie du
sie versuchst, indem du die guten Tänzer bittest, zu kommen und die Anfänger, daheim
zu bleiben. (…)
Diese Tango-Wochenenden in Eric Jorissens
Lokal waren große Tango-Partys, die langsam durch Mundpropaganda immer
bekannter wurden, zu denen er ohne Bezahlung alle Tangolehrer Europas einlud,
wo jeder gerade einmal 5 € zahlen musste, um seinen Schlafsack auf dem Parkett
oder dem weiten offenen Zwischengeschoss auszubreiten, und wo die Leute
natürlich nach einigen netten Tänzen mehr oder weniger diskret Sex in ihren
Schlafsäcken hatten, und einige andere Ohrstöpsel verwendeten, falls die
Geschichte beim Paar nebenan sie ein wenig aufwecken sollte, und jeder fühlte
sich wohl.
4. Fazit
Pablo Veron, Vincent
Morelle, Tete Rusconi, Gustavo Naveira, Teresa Cunha und alle meine anderen,
geliebten Tangolehrer erzählten mir und anderen Schülern hunderte Male,
aufzuhören, während des Tanzens an unsere Füße zu denken… aber um es noch ein
wenig weiter zu treiben: Lasst uns sogar vergessen, dass wir seit unterschiedlich
vielen Jahren tanzen, lasst uns annehmen, wir seien immerwährende Anfänger, die
in diesem Moment einen neuen Tanz bei einem anderen Menschen entdecken!
Durch
zahlreiche Beiträge entwickelte sich eine lebhafte Diskussion (in englischer Sprache), die man hier nachlesen kann:
Zwei Themen möchte ich kurz durch
Zitate ansprechen:
Zum
einen schildert der Tänzer eine Erfahrung, die ich auch immer wieder mache –
Tangueras, die diesen Tanz 2004 oder früher lernten, haben einen ganz eigenen
Stil: „Es ist stets ein überraschendes
Gefühl, es ist wie Tanzen mit einem Bruder oder einer Schwester, es geht
unerwartet geschmeidig und originell.“
Und es wäre natürlich keine Tangoseite, wenn ein
Diskutant nicht den Anspruch der „guten Orientierung in der Ronda“
erhoben hätte.
Unser
Autor ist da skeptisch:
Tatsächlich hat sich
die Geschwindigkeit der europäischen Rondas in den letzten 15 Jahren auf die
Hälfte, ein Drittel oder Fünftel verringert… manchmal gibt es gar nichts mehr,
was man so nennen kann. Welche Ronda? Wenn es zwei Meter pro Stück sind, wie
zur Hölle kann man das noch eine Ronda nennen? Gibt es mehr Staus, Rempler oder
Verhaltensprobleme auf den Tanzflächen als vor 15 Jahren? (…)
Nach meiner Meinung
beginnt das Problem damit, dass heute die Hälfte der Tänzer im äußeren Kreis
nahezu statisch tanzt. Ist dies eine Frage der Tangostile?
Wir haben alle eine
unterschiedliche Sichtweise dessen, was auf dem Parkett okay oder nicht okay ist
– aber kommt schon, wir sind da, um Spaß zu haben, wir sind nicht in der
Kirche. (Oder wenn ich auf eine Milonga gerate, die sich wie eine Kirche
anfühlt, werde ich seltsamerweise scharf, vielleicht, weil ich nie meine
Fantasie ausgelebt habe, es einmal in einer Kirche zu tun…)
Wirklich,
viele von denen, die erst seit ein paar Jahren tanzen, wissen gar nicht, wie
locker und ungezwungen früher einmal der Tango sein konnte!
Es
geht mir in meinem Blog ganz wesentlich darum, dies immer wieder durch „Zeitzeugen“ in Erinnerung zu bringen.
Vielleicht liefern ja diese vor kurzem veröffentlichten Videos von AiresDeMilonga neue Impulse, vielleicht zu mehr Flow, wenn die entsprechende Autorität, von den entsprechend traditionell eingestellten Gruppierungen, zu diesen Themen anerkannt werden muss.
AntwortenLöschenMit dem allermeisten kann ich mich selbst anfreunden, aber es bleiben doch viele weitere Fragen offen, vor allem was Schummer Milongas angeht und die Problematik der extremen Kurzsichtigkeit.
Aber ich bin schon sehr froh über die Hinweise zum Auffordern von Freunden und Bekannten :-) und auch der Hinweis zu, "Die Mitte ist für Anfänger...", finde ich sehr gut.
Codigos de milonga Parte 1_ Codigo del milonguero
https://youtu.be/ZtH5rEj94X0
Codigos de la milonga, Parte 2 la pista y el baile. Milonga codes English subtitles
https://youtu.be/49l2YdJGa1E
Also Gerhard, wie findest du diese Videos?
Ich glaube, aus einigen hundert Seiten meiner Veröffentlichungen geht hervor, was ich davon halte...
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