Ergebenheitslyrik zum Tango-Hochadel

Mein alter Tangofreund Peter Ripota hat mich gestern auf einen Artikel in der neu erschienenen Ausgabe der Zeitschrift „Tangodanza“ aufmerksam gemacht. Er beschreibt Eindrücke bei einem Workshop mit den internationalen Tangostars Nicole Nau und Luis Pereyra. Titel: „Tango, das ist drei Minuten voller Anfänge“. Schön, dass man dies auch im Text voll umgesetzt hat! Autorin ist Lea Martin, die Spezialistin fürs Tango-Gefühl. Ich habe von ihr schon berichtet:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2020/10/von-lov-ern-und-lov-sies.html

Bei solchen Beiträgen weiß ich von vornherein: Weniger als Held*innenverehrung ist da nicht zu befürchten. Solche Paare können nix falsch machen – im Gegenteil: Da bekommt noch die banalste Sentenz den Heiligenschein mystischer Anbetung verliehen. So auch hier.

Von den eigentlichen Übungen im Workshop erhalten wir nur schlaglichtartige Einblicke:

Man habe auf dem Boden liegende Tücher herumgeschoben, „um die Musik mit den Füßen zu greifen und sie mitzunehmen in jede Bewegung“. Das dürfte in München auch dringend nötig sein – nach meinem Eindruck watet man auf den dortigen Tanzböden knöcheltief in Noten, welche die Tanzenden liegengelassen haben.

Man habe auch nicht „1,2,3“ zu zählen, sondern „oummmmm“, denn die Struktur des Tango liege „unter den Melodien, unter dem Rhythmus“. Halt wohl da, wo es dumpf trommelt. Denn, aufgemerkt: „Nicht die europäischen Immigranten erfanden den Tango“, so Nicole Nau. Der sei schon da gewesen: In der Folklore, die von einfachen Leuten auf dem Land getanzt wurde. Seine Wurzel seien die „mit den Füßen getrommelten Rhythmen“.

Und da kann Luis Pereyra mitreden, dessen Tanz die „Rebellion der Vorstädte“ an den Stadtgrenzen von Buenos Aires präge. Na, ja, geografisch nicht ganz korrekt: Pereyra stammt aus der weit entfernten Provinz Santiago del Estero und hat zunächst Folklore getanzt. Da hätte sich etwas mehr Recherche durchaus gelohnt.

https://de.wikipedia.org/wiki/Luis_Pereyra

Ansonsten viel Herzklopfen und Zittern, da man auch mal allein vortanzen sollte oder gar – halten zu Gnaden – mit dem Maestro persönlich. Da habe sie – so das Bekenntnis der Autorin – gespürt, was Nicole Nau in ihrem Buch so schön beschrieben habe: Seine Füße würden beim Tanzen Teil der Partitur. „Er tanzt, als sei sein Körper ein Teil der Musik, voll präsent und schwerelos zugleich.“

Ansonsten wird viel Sensationelles mitgeteilt: Nicht denken, sondern tanzen! Man dürfe, ja solle sich allein bewegen. Und: Man müsse den Tango fühlen. Das mag für die heutige Population ungefähr so neu sein wie die Mitteilung an Goldfische im Glas, man könne auch selber auf Nahrungssuche gehen als zu warten, dass der Besitzer oben was reinwirft.

Besonders schön finde ich die Aussage: „Tango, das ist drei Minuten voller Anfänge, Darum müsst ihr fühlen, wann es losgeht.“ Tja, da sagt Nicole was! Und ich dachte immer, es sei gute argentinische Tradition, die erste Minute der Musik zu verquatschen! Um dann auf der Zwei zu starten…

Und dann noch mein Lieblingssatz: „Es ist faszinierend zu beobachten, welche Worte fallen, welche nicht.“ Da kann ich nur voll und ganz zustimmen!

Quelle: Tangodanza 4.23, S. 61

Natürlich erkenne ich die tänzerischen Fähigkeiten von Nicole und Luis durchaus an. Und ich erlaube mir auch kein Urteil darüber, ob die beiden einen guten Unterricht geben. Schließlich war ich nicht dabei. Ich frage mich nur – und nicht zum ersten Mal: Muss man solche Berichte und Schilderungen wirklich als derart verquaste Ergebenheitslyrik gestalten, die im Stil den Berichten über den europäischen Hochadel in Frauenzeitschriften nahekommt?

Aber Nicole Nau sagt ja selber: „Argentinischer Tango ist ein rebellischer Tanz.“ Daher sei es mir gestattet, etwas Rebellion nahzuliefern!

Der Tangostar aus Düsseldorf wird anfangs so zitiert, dass ihr Partner einst zu ihr sagte: „Ich kann nicht mit dir tanzen.“ Ich finde tatsächlich, die Tangostile der beiden passen nicht gut zusammen. Mit ihrem heute konsequent verschwiegenen früheren Partner Ricardo Klapwijk, mit dem sie ihren Ruhm begründete, harmonierte das deutlich besser.

Bilddokumente ihrer Tänze gibt es kaum noch. Eines habe ich heute gefunden – Tangostil der 90er Jahre. Dennoch, wie ich finde, immer noch eindrucksvoll:

https://www.youtube.com/watch?v=jUSM4I4beDw#

Tja, wie man sieht, tut Nicole Nau alles, um ihren früheren Partner von den Bildschirmen zu verbannen. Aber ich habe noch ein anderes Video, das ich demnächst einstellen werde!

So, hier ist es:

Und hier doch noch der oben gesperrte Tanz (ab 19:50) - herzlichen Dank an Ricardo Klapwijk!

https://www.youtube.com/watch?v=0LkJogLrnIU&t=1194s

P.S. Zum Weiterlesen:

http://milongafuehrer.blogspot.com/2018/03/tango-in-der-klischee-kiste.html

Kommentare

  1. Hier ein Kommentar von Peter Ripota:

    Schön, dass du diesen Pseudobericht so herrlich zerlegt hast. Ich möchte nur noch mal zwei Aspekte betonen, die du auch angesprochen hast:

    (1) Trommeln haben im Tango nichts zu suchen. Es gibt in den drei Tangoformen (Tango, Vals, Milonga) nicht einmal Rhythmusinstrumente, geschweige denn Trommeln. Die kommen höchstens mal in einer Candombe vor, und das ist Karnevalsmusik. Zudem ist, wie du auch gesagt hast, Tango keine Folklore, sondern ein großstädtisches Phänomen, stark beeinflusst von Spanien und Frankreich.

    (2) Jeder gönnt Nicole eine neue Karriere, auch wenn es manchmal so scheint, als müsse sie sich, um eine adäquate Tanzpartnerin für ihren neuen Mann zu sein, einer kosmetischen Operation zur Kürzung ihrer Beine unterziehen. Aber das ist ihre Sache. Die absolute Verleugnung ihres früheren Ehemanns allerdings grenzt schon an Geschichtszensur, wie sie in der Sowjetunion üblich war (Weg-Retuschieren in Ungnade gefallener Politiker). Denn sie wurde nicht berühmt, sondern sie zusammen mit ihrem ersten Mann. Und sie ist nicht auf der Briefmarke in Argentinien zu sehen, sondern sie und ihr erster Mann. Nicht Luis hat ihr den Tango beigebracht, sondern Ricardo. Wirklich schade, dass diese Heldenverehrer sich Nicoles (vermutlich Luis') Zensur unterwerfen.

    -Peter Ripota-

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    1. Lieber Peter,

      die Anatomie von Tanzlehrerinnen ist nicht so mein Thema...

      Natürlich hast du völlig Recht: Tango ist ein Großstadtphänomen, keine Folklore. Nicht nur da hat Nicole Nau oft seltsame Ansichten.

      Mir fällt generell auf, dass bei Tangolehrenden frühere Partner oft gnadenlos aus der Biografie gelöscht werden. Vielleicht, weil man den Tango gerne als achtsam, liebevoll und auf den Partner eingehend verkauft. Da machen sich frühere Ehen und andere gescheiterte Verhältnisse nicht so gut.

      Danke und liebe Grüße
      Gerhard

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  2. Ach ja, schönes Zeitzeugnis von damals. Schönen Dank fürs ausgraben🙏
    Wer vergleichen möchte/muss
    https://youtu.be/aZSn2THzZlE?si=3tvQ2MP_wnumTGHM

    Luis kann nun mal den Stepptanz nicht weglassen 🤷‍♂️ Gehört zu seinem Stil.
    Im Tango werden keine Rythmusinstrumente eingesetzt?!?
    Hab ich was verpasst?
    Gut, vielleicht keine nativen - Außer im Tango Nuevo - , aber das Bandon(e|i)on selbst wird doch mitunter sehr Rhythmisch eingesetzt, und auch alle anderen, vom Solo Spiel bis zum Orquesta Tipica.
    Duo Ranas, Cosae Mandinga bis Orq. Misteriosa Buenos Aires, übrigens nächste Woche den 15.10. auch in Frankfurt.

    Das findet sich dann eben auch in Luis Step Tanz Füßen 😋

    Die gemeinsame Schule bzw. der gemeinsame Stil von Ricardo und Luis ist aber eindeutig zu erkennen, oder?

    Und Candombe find ich Toll!

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    1. Ich finde, mit Stepptanz hat Tango gar nichts zu tun. Und Ricardo hat Nicole deutlich besser aussehen lassen. Na gut, Geschmackssache.

      Klar. im traditionellen Tango übernehmen Melodie-Instrumente den Rhythmus, keine Frage. Und bei moderner Tangomusik werden natürlich auch Rhythmusinstrumente eingesetzt, was tänzerisch eine zusätzliche Herausforderung ist.

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