Tantras und Cortinas
„Der Tantrismus ist
durchdrungen von okkulten und magischen Vorstellungen. Sehr ausgeprägt sind
Ritual und Kult, da die Befolgung esoterischer Stufenwege zur Erkenntnis und
Erleuchtung zentral für die religiöse Praxis ist. Von Bedeutung ist die (…)
Unterstellung des Schülers (…) unter einen kundigen Lehrer oder Meister (Guru),
der diesem auf dem spirituellen Weg behilflich ist. (…)
Das mittelalterliche Tantra diente häufig dazu, einen König,
der aus niederen Kasten stammte oder ausländischer Herkunft war, durch Rituale
zu legitimieren. (…) Deshalb reflektieren die Lehren des Tantrismus die Belange
solcher Eliten, z.B. Aspekte von Macht und den Erwerb von Macht“
Das
rituelle Verslein von der Pflichtaufteilung der zu tanzenden Musik in Tandas
und Cortinas gehört heute zum Mantra der meisten Tangoveranstalter – also ein
heiliger, bis zur Besinnungslosigkeit wiederholter Spruch, der als Klangkörper
eine spirituelle Kraft manifestieren soll. Die Logik hierbei scheint zu lauten:
Man macht es, weil sich’s so gehört und es daher alle machen. Dann muss es ja
richtig sein!
Ad majorem tanginis gloria: Ehre sei der Tanda, der Cortina und dem heiligen Geiste der EdO, wie es war im Anfang, so auch jetzt und allezeit und in Ewigkeit, Amen... äh ...ommm!
Ad majorem tanginis gloria: Ehre sei der Tanda, der Cortina und dem heiligen Geiste der EdO, wie es war im Anfang, so auch jetzt und allezeit und in Ewigkeit, Amen... äh ...ommm!
Das
mit der Ableitung vom ersten Schöpfungstag des Tango hält allerdings – wie so
manche Glaubenssätze – der empirischen Nachprüfung nicht stand: Wie ich in
meinem Blogtext „Erfundene Traditionen“
bereits dargelegt habe, ist die „traditionelle Milonga“ mit der obigen
Dreifaltigkeit von Tandas, Cortinas und einfältiger Beschallung eine Entwicklung
der letzten Jahrzehnte:
Selbst
der im Traditionslager hoch geschätzte Autor Michael Lavocah („Tango
Stories: Musical Secrets“) weiß zu berichten: „Die Tanda ist ein unverzichtbarer Bestandteil einer authentischen
Milonga, aber erinnern wir uns daran, dass in der Goldenen Zeit des Tango die
Orchester nicht in Tandas zum Tanz spielten. Ursprünglich war eine Tanda oft
nur zwei Stücke lang – die zwei Seiten einer 78-er Schellackplatte – obwohl man
in einigen Clubs gewöhnlich zwei Platten des gleichen Künstlers auflegte, also
eine Vierer-Tanda. Die Tandas, wie wir sie heute kennen, wurden erst in den
frühen 70-er Jahren Allgemeingut, als die alte Musik wieder auf LPs
herausgebracht wurde.“
Vielleicht
sollte man daran erinnern, dass bis zur technischen Möglichkeit künstlicher
Schallerzeugung in größeren Sälen Orchester mit lebenden Musikern spielten, und
die brauchten halt – wie bei jedem Faschingsball – nach einigen Stücken eine
Pause, inklusive einem Schluck aus der Pulle. (Von daher wäre für mich eine
naheliegende Cortina auch außerhalb von Bierzelten der Klassiker „Ein Prosit der Gemütlichkeit“ und
weniger der von den heutigen Bands gerne verwendete Tusch.)
Danach ging es mit demselben Ensemble weiter: Ein grober Verstoß gegen die heutigen Sitten, da die nächste Tanda selbstredend von einem anderen Orchester stammen sollte… Immerhin spielten in früheren Zeiten des Tango öfters zwei Musikgruppen, wobei die andere dann meist für die „otros ritmos“ zuständig war – je nach Mode beispielsweise Latinostücke, Swing oder Rock’n Roll: Dies allerdings würde derzeit den sofortigen Auszug der „Golden Ager“ aus dem Tanzlokal bewirken! Und dann bieten Kapellen bei einem normalen Ball sogar noch unterschiedliche Tänze in einer einzigen Runde, was im Tango hierzulande den sofortigen Griff zu Holzpflock und Knoblauchzehe zur Folge hätte!
Danach ging es mit demselben Ensemble weiter: Ein grober Verstoß gegen die heutigen Sitten, da die nächste Tanda selbstredend von einem anderen Orchester stammen sollte… Immerhin spielten in früheren Zeiten des Tango öfters zwei Musikgruppen, wobei die andere dann meist für die „otros ritmos“ zuständig war – je nach Mode beispielsweise Latinostücke, Swing oder Rock’n Roll: Dies allerdings würde derzeit den sofortigen Auszug der „Golden Ager“ aus dem Tanzlokal bewirken! Und dann bieten Kapellen bei einem normalen Ball sogar noch unterschiedliche Tänze in einer einzigen Runde, was im Tango hierzulande den sofortigen Griff zu Holzpflock und Knoblauchzehe zur Folge hätte!
Als
später mit Schallplatten und CDs aufgelegt wurde, lag es nahe, nicht vier Titel
auf ebenso vielen Tonträgern herauszusuchen, sondern den Stress etwas zu
verringern und bei einer Scheibe zu bleiben. Der Kult „selbes Orchester mit selbem Sänger nur in dem Jahr vor seiner
Blinddarmoperation“ kam erst später…
Besonders
absurd gerät das Programm, wenn heute auf traditionellen Milongas Live-Musik
geboten wird (gibt's gelegentlich noch): Während der DJ zur Vermeidung seiner Exkommunikation brav per Tandas
und Cortinas auflegt, spielen die Musiker in ihren Sets acht und mehr Titel
durch, oft genug auch Tango, Vals und Milonga einzeln hintereinander, und – o
Wunder – Proteste und Chaos ob des unangemessenen Programms bleiben aus! (Eine
strahlende Ausnahme bilden selbstredend unsere Musikerinnen von „Duo Tango Varieté“, welche brav nach
vier Stücken den „Zirkus Renz“
anspielen, gefolgt vom zweistimmigen Ausruf „Cortina“!)
Solche
Beispiele verdeutlichen, wie sehr es hier nicht um Inhalte, sondern um formale
Riten geht, die noch dazu aufeinander aufbauen. Cortinas, so wird argumentiert,
seien ja schon wegen des gemeinsamen Aufforderns per Cabeceo nötig, welches ja
nur in (bzw. nach) dieser Phase erfolgen könne. Schrecklicher Gedanke: Wenn man
nun beides ließe?
Bis
zum Beweis des Gegenteils gehe ich jedenfalls davon aus, dass die weit über der
Volljährigkeitsgrenze rangierenden Gäste einer Milonga sehr wohl allein
entscheiden können, wann sie wen um einen Tango bitten möchten. Mich reißt das
tanzunterbrechende Gedudel oder Gedröhne (für Traditionalisten ansonsten ein No
Go) jedenfalls eher aus der Stimmung als eine Runde modernerer Musik. Und mir
bliebe bei einem gemischten Programm das Ratespiel erspart, ob ein artfremdes
Geplürre nun zum Tanzen gedacht ist oder dessen Ende anzeigt. Und: Müsste man auf "alternativen" Milongas als Zwischenmusik nicht einen Tango wählen? Allenfalls, das
muss ich zugeben, ermöglichen mir Cortinas die Flucht vor Tänzerinnen,
welche in den vergangenen Minuten meinen orthopädischen Befund schon genügend
verschlechtert haben!
Sicherlich
bewege ich mich nicht gerne zu einem musikalischen Kraut und Rüben-Potpourri,
das klingt wie von der „Shuffle-Taste“ erzeugt. Das andere Extrem ist
allerdings der Regelungswahn, den man heute um die „Kunst des Auflegens“
treibt. Nur: Wenn es eine Kunst ist, muss sie keinen Regeln gehorchen! Es
erfordert weit mehr Kreativität und Fantasie, mit der Musikabfolge eine
Entwicklung aufzuzeigen, als sie aus Tabellen mit Orchester, Sänger und
Jahreszahl herauszusuchen und sie in ein „TTVTTM-Raster“ zu pressen, ja gar von "kleinen und großen Zyklen" zu faseln. Der
Unterschied ist jener zwischen Sammlern und Schöpfern. Aber nein, Mann muss ja unbedingt vorher ganz genau wissen, was ihn erwartet, auf dass er sodann die passende Di Sarli-Fee respektive D'Arienzo-Hupfdohle beglücken kann – es lebe die Lust am Abenteuer!
Mein Fazit: Bei vorhandenem musikalischen Talent wird man zum Auflegen keine Cortinas brauchen und den Begriff "Tandas" jedenfalls nicht so eng sehen.
Mein Fazit: Bei vorhandenem musikalischen Talent wird man zum Auflegen keine Cortinas brauchen und den Begriff "Tandas" jedenfalls nicht so eng sehen.
Um abschließend wieder von den Tandas zu den Tantras zu kommen: Es geht – auch im
Tango – bei solchen Fragen um die Etablierung von Machtverhältnissen, um die
Markierung der Reviere erlauchter „Auflegeexperten“, die sich durch höchste Erleuchtung im Fach Regelkunde vom gemeinen Volk unterscheiden. Einfach mal spontan was spielen, das
einem (und vielleicht sogar anderen) gefällt? Das kommt selbstredend nicht in
die Tüte – lieber setzt man selbige vors Pult mit dem Apple!
Abhängigkeiten
können durchaus in moderner Verhüllung und spirituell einherschreiten –
vielleicht sogar in des Kaisers neuen Kleidern. Unter https://www.xing.com/communities/posts/tantra-und-tango-1004371143
findet sich das folgende weibliche Statement, welches mir in unserer Zeit des
Sittenverfalls wieder Hoffnung gibt:
„Tantra und Tango:
Eine der zentralen Aussagen meiner
Tantra-Lehrerin über den Mann ist:
Er muss führen, schützen,
Verantwortung tragen. UND das können dürfen.
Eine Frau, die ihm diese
Aufgabenerfüllung unmöglich macht, weil sie alles besser weiß, sich nicht
führen lässt und sich auch nicht fallen lassen kann, die nicht vertraut, die
verhindert das Mannsein vollständig.
Andersrum: Ein Mann der nicht
absolute Sicherheit gibt, Vertrauen ermöglichst und eindeutig führt, wird nie
die Frau in absoluter Hingabe und Extase erleben.
Das erinnerte mich alles sehr an
Tango.“
Also,
ehrlich gesagt, mich nicht – aber vielleicht sollte ich ja mal meine Hosen
gegen wallende Gewänder tauschen…
P.S. Ich gehöre zu den wenigen DJs, welche ihre Playlists im Internet veröffentlichen. Bei Bedarf also ruhig mal nachschauen:
P.S. Ich gehöre zu den wenigen DJs, welche ihre Playlists im Internet veröffentlichen. Bei Bedarf also ruhig mal nachschauen:
Auf dem Forum www.tanzmitmir.net entwickelt sich gerade eine interessante Diskussion zu meinem Blogbeitrag: http://www.tanzmitmir.net/tanzpartner-boerse/viewtopic.php?t=17144#135355
AntwortenLöschenNachdem sich mein Blogger-Kollege Cassiel eingemischt hatte und daher die Debatte etwas heftiger wurde, hat wohl der Administrator der Seite den Kommentarstrang gelöscht. Auf welches Betreiben hin? Sehr rätselhaft!
AntwortenLöschen