Was Ihnen Ihr Tangolehrer nicht erzählt… 20
Ich
bin sicherlich kein Musik-Experte.
Dazu fehlt mir schon einmal eine entsprechende Ausbildung – und ich spiele
(außer zum Spaß ein wenig Percussion) kein
Instrument. Weiterhin verfüge ich nicht über ein feines Gehör und bemerke falsche Töne erst, wenn sie eine kleine
Terz neben den richtigen liegen. Rhythmisch
kann man mir weniger vormachen – wäre ich bei Eltern aufgewachsen, wo das Geld
hinten und vorne gereicht hätte, wäre ich mit Sicherheit Schlagzeuger geworden
und voraussichtlich beim Swing oder anderer Tanzmusik gelandet.
Weiterhin
würde ich mich nie als professionellen
DJ bezeichnen, obwohl ich schon an die 150 Mal aufgelegt habe – meist (und
inzwischen ausschließlich) auf eigenen Veranstaltungen. Und ab zirka 400 habe ich es aufgegeben, meine Tango-CDs zu zählen.
Mit
der Zeit merkt man sich Stücke, die
sehr häufig gespielt werden oder (!) einem besonders gefallen. Für mein Tangobuch habe ich schon vor Jahren
etwa 200 bekanntere Titel (die
meisten aus der EdO) kurz vorgestellt (in der neuesten Ausgabe S. 197-223). Ich
glaube, die meisten würde ich nach einigen Takten erkennen – und inzwischen
sind noch etliche mehr dazugekommen. Von vielen kenne ich die Autoren und weiß ungefähr, worum es in
den Texten geht.
Obwohl
ich mich nicht vorwiegend mit den historischen
Aufnahmen aus den 1930-er bis 50-er Jahren beschäftige, errate ich wohl in
der Mehrzahl die gespielten „großen
Orchester“ richtig: Fresedo, Di Sarli, Biagi, Tanturi, de Angelis, D’Agostino/Vargas und viele Puglieses
sind ja unverwechselbar, D’Arienzo
meist auch (obwohl es zahlreiche „zackige“ Nachahmer gibt) – und bei Troilo habe ich irgendwann gemerkt, dass
vieles von ihm nach „Percal“ klingt
(und diese Version mit Fiorentino
wird uns ja glücklicherweise fast auf jeder Milonga geboten….).
Dennoch
bin ich alles andere als ein „Jäger und Sammler“, dessen Leidenschaft in der
Anhäufung lexikalischen Fachwisssens
beruht. Nein, das alles hat sich so ergeben, da ich Tangomusik (vor allem in den neueren Versionen) liebe und mir ständig wieder neue Aufnahmen anhöre.
Lange
Zeit vermutete ich, dies müsse auch bei anderen so sein, welche ebenfalls schon
viele Jahre auf Milongas zubringen. Inzwischen weiß ich aber: Auch solche
Besucher haben von alledem meist keinerlei
Ahnung!
Ich
habe es inzwischen fast aufgegeben, eine Tanzpartnerin zwischen zwei Tangos
(oder nach der Tanda) kurz über das gerade gehörte
Stück zu informieren, ihr den
Titel, das Orchester oder gar das Thema zu nennen, über welches gesungen wurde.
Oft habe ich das Gefühl, ich könnte mit einem unsittlichen Angebot weniger Feinfrost
auslösen: Die Antwort geht meist in
die Richtung, man habe sich mit diesem Bereich bislang kaum befasst – und auf
die (sicherlich furchtbaren) Texte
sei man sowieso nicht neugierig. Ich verkneife mir dann stets die Reaktion, die
mir öfters in den Sinn kommt: „Ja, das
habe ich an deiner Tanzweise schon gemerkt…“
Und
Männern komme ich mit solchen
Neuigkeiten eh nicht, da ich bei diesen automatisch ins „Besserwisser-Schema“ geriete, was zu einem sofortigen Besteigen
des Misthaufens führte…
Daher
habe ich inzwischen die dringende Vermutung: Im Schnitt 90 Prozent aller Milonga-Besucher hören Tangomusik ausschließlich auf diesen Veranstaltungen
– kaum aber zu Hause, im Auto oder bei sonstigen privaten Gelegenheiten. Dass
ziemlich genau jener Anteil große Probleme bei der tänzerischen Interpretation dieser Klänge hat, halte ich für keinen
Zufall.
Es
ist sogar noch schlimmer: Für viele Gäste beginnt
die Musik erst, wenn sie das Parkett
betreten. Vor- und nachher wird ausdauernd gequatscht, möglichst noch mit
dem Rücken zur Tanzfläche. Erst ab der Aufforderung merkt man: Ach, da spielt
man ja Tango!
Damit
erklärt sich zwanglos auch eine andere Tatsache, die mir lange Zeit großes
Kopfzerbrechen bereitete: Die große Mehrheit hat keine Probleme damit, wenn ihr
statt einer guten Playlist irgendein
tausendmal abgenudelter Müll
serviert wird. Macht nix – der Rhythmus ist ja meist eh irgendein „Ta-tam-ta-tam“…
Da
dies meine „Freude am Entsetzlichen“
(eine Grundkompetenz des Satirikers) durchaus fördert: Eine gewisse Harmonie im Paar kann sich auch
einstellen, wenn beide die Musik nicht hören! Die Beobachtung solcher „Autisten-Duos“ hilft mir über manche
fürchterliche Milonga hinweg.
Daher
ist es meine felsenfeste Überzeugung:
Tanzen beginnt nicht
erst, wenn man gemeinsam das Parkett betritt!
Im
Gegenteil: Da ist es oft schon zu spät…
Folglich
lautet mein (heutzutage weitgehend kostenloser) Tipp:
Hören Sie, so oft es
geht, Tangomusik!
Dank
des Internets ist das ja schon
länger kein Problem mehr (im Gegensatz zu meiner Anfangszeit, als man in
irgendeinem Drogerie-Großmarkt nach längerem Suchen mal wieder eine neue CD
entdeckte): Diverse Musikportale wie
„Deezer“ erleichtern die Erkundung – und es gibt kaum einen Tangotitel oder
-Interpreten, den man nicht über die Suchfunktion von YouTube findet.
Die
erste Näherung kann sogar im Sitzen
erfolgen: Hören Sie einfach zu und versuchen Sie, die verschiedenen Stilmittel der Tangomusik zu ergründen,
die ich schon öfters beschrieben habe:
Eine Garantie
kann ich Ihnen bereits jetzt geben: Wenn das dazu führt, dass Sie in Zukunft
zumindest gelegentlich eine Schrittfolge auf der „Eins“ der Phrasierung
(von 1 bis 8) beginnen, werden Sie in der Szene als „weit fortgeschritten“
gelten!
Die
nächste Etappe müssten Sie im Stehen
bewältigen, ja sich sogar bewegen: Mit welchen tänzerischen Manövern könnte man eine Verzögerung oder eine
Beschleunigung in der Musik vertanzen?
Einen dynamischen Einwurf, eine Pause? Bewegen Sie sich gerade zum führenden
Instrument (z.B. Sänger) oder lieber zu den rhythmischen Verzierungen (etwa des
Bandoneóns)? Wie stellen Sie Zwischenschläge (also eine Aufteilung in Achtel-
oder Sechzehntel) dar, betonen Sie Synkopen? Wie ist Ihre Antwort auf Stakkato-
oder Legato-Passagen?
Bleiben
wir ehrlich: Das funktioniert nicht in ein paar Stunden – eher sind hierfür Jahre
angesagt, natürlich nicht nur im Wohnzimmer.
Aber dort liegt die entscheidende Basis,
auf der tänzerische Fähigkeiten sich entwickeln – nicht auf den Milongas oder
in Kursen. Und es sind Zeiten – sorry, Jungs und Mädels – wo ihr ohne Bekrabbeln des anderen Geschlechts
auskommen müsst! Aber ich bin sehr dafür, dass sich (nicht nur dabei) möglichst
frühzeitig die Spreu vom Weizen
trennt.
Und
– nur getrost, meine Herren: Es gilt ja dann auf der Piste auszuprobieren, wie man das allein Geübte umsetzen kann. Wie
ich aus eigener Erfahrung weiß, sind zahlreiche Tänzerinnen glücklich, endlich einmal „spielen“ zu können, durch wirkliches Einsteigen in die Musik zu
ungeahnten Improvisationen zu
kommen. Ich verspreche euch: Da wird sich zunehmend eine völlig neue Welt auftun – meilenweit entfernt
vom üblichen reduzierten Herumgetappe im Viervierteltakt!
Klar:
Je öfter man eine Aufnahme gehört hat, desto besser kann man sie interpretieren
– für mich allerdings nur bis zu einer Grenze von zirka 100 Mal. Darüber
entwickelt sich bei mir lähmender
Überdruss…
Daher
wird man durch eigenständige Suche nach
Tangomusik zur Erkenntnis gelangen: Auf vielen Milongas hört man lediglich
einen kleinen Ausschnitt aus dem
künstlerischen Schaffen in der über hundertjährigen Tangogeschichte. Mehr muss
man meist selber erkunden.
Ein
wertvoller Tipp: Die argentinische
Tangoseite „Todotango“ bietet einen
riesigen Fundus von Kompositionen aus allen Zeiten. So kann man eine täglich
andere Playlist von zirka 20
Aufnahmen hören – und ich garantiere Besuchern vorwiegend traditioneller
Milongas: Da wird euch vieles total
unbekannt sein:
Weiterhin kann ich eine Liste musikalischer „Specials“ empfehlen, die ich auf unseren Wohnzimmer-Milongas immer wieder
präsentiere. Schauen Sie doch mal nach, ob Ihnen die dortigen Künstler und
Ensembles etwas sagen – und wenn nicht: Auf meinem Blog habe ich die meisten
schon – in der Regel mit einem Video
– vorgestellt. Und das findet man über die dortige Suchfunktion!
Und glauben Sie nicht an den Mythos der „Tanzbarkeit“, welche man vielen
modernen Stücken abspricht. Wahr ist im Gegenteil: Viele konservative DJs haben keine großen tänzerischen Fähigkeiten. Sie können vielleicht beurteilen, ob ihre
Zusammenstellungen dem „traditionellen“
Kanon entsprechen, mehr aber nicht. Und auch dafür braucht man keine großen
Fachkenntnisse – schließlich kann
man in Listen nachsehen:
Die Entdeckung der musikalischen Fülle dieses Weltkulturerbes
ist allein Ihre Sache – verlassen
Sie sich da auf niemand anderen, auch nicht auf mich! Und sollten Sie dann zum
Schluss kommen, sie tanzten am liebsten zu den historischen Aufnahmen: prima!
Nur: Tanzen beginnt zu Hause an
Ihrer Abspielanlage, nicht im Kurs oder auf der Milonga.
… und auf alles kann man tanzen, wenn man’s kann und mag. Garantiert!
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