Mit dem Tango aufhören?
Die
Wiener Tangofreundin Alessandra Seitz
hat ihn zuerst gefunden: Den Beitrag des US-amerikanischen Bloggers und
Tangolehrers Clay Nelson („TC Tango
Clay… the heart of tango“): „A Hundred
and One Reasons to Quit Tango“ nennt er seinen höchst interessanten Text.
Alessandra hat dazu einen
schönen Artikel verfasst:
Worum
geht es Clay Nelson hier?
„Vor ein paar Jahren
habe ich eine Umfrage mit dem Titel ‚Warum ich mit dem Tango aufhörte‘
erstellt. Seitdem haben über 500 Personen geantwortet und fast die Hälfte hat
ihre eigenen persönlichen Kommentare verfasst. (Eine unbearbeitete Liste davon
finden Sie unten.) Für alle, die Tango lieben und ihn gerne wachsen sehen
würden, ist es meiner Meinung nach wert, diese Liste zu lesen, über die Kritik
nachzudenken und vielleicht einige Verhaltensweisen zu ändern.“
Wohl
wahr! Inzwischen hat der Autor 233
Originalzitate von Lesern aufgelistet. Ich habe die ersten 100
durchgesehen:
Natürlich
gibt es dabei persönliche Gründe,
die nicht tangospezifisch sind, beispielsweise Wohnortwechsel, finanzielle
Engpässe, zu wenig Freizeit oder Erkrankungen.
Nach
meinem Eindruck an erster Stelle steht jedoch die bekannte Klage von Tänzerinnen, nicht oder zu wenig aufgefordert
zu werden – häufig verknüpft mit der Ansicht, auch ältere Männer würden junge
und hübsche Tänzerinnen bevorzugen:
„Zu wenige gute
Führende, um mit ihnen zu tanzen oder zu üben. Männer bevorzugen junge Mädchen,
die kaum tanzen können, und es spielt keine Rolle, dass einige von uns hart
gearbeitet haben, um gute Folgende zu werden.“
„Ich erwog, mit zehn
Privatstunden zurückzukommen. Gestern Abend ging ich zu einer Milonga, wo ich
sah, wie Männer sich dünne und/oder jüngere und/oder asiatische und/oder nuttig
gekleidete Frauen schnappten, während ich von zwei schlechten Tänzern
aufgefordert wurde.“
„Ich denke darüber
nach, aufzuhören, weil ich eine erfahrene Tänzerin mit einer starken Verbindung
zur Musik bin und das Gleiche suche. Aber diese Männer halten an ihren
etablierten Favoritinnen fest oder sind auf der Jagd nach hübschen, dummen
Dingern.“
Zudem
wird das grenzwertige Benehmen
mancher Damen und Herren kritisiert:
„Ich beendete eine
Beziehung mit einem beliebten Tanguero und fühlte mich von der Gemeinschaft
meiner ‚Freundinnen‘ nicht unterstützt. Eine Frau sagte mir sofort, dass sie
nicht neben mir in einer Milonga sitzen wollte, weil ER sie dann möglicherweise
nicht zum Tanzen aufforderte. Damals erfuhr ich, wie oberflächlich einige der
‚Verbindungen‘ im Tango tatsächlich sind.“
„Einige der
‚angesehenen‘ erfahrenen älteren Tänzer sind unhöflich und überkritisch
gegenüber weniger geübten und jüngeren Tänzern. Diese Menschen scheinen sich
mehr für Tango zu interessieren, um Symbole ihres Status als Oberschicht zu
bewahren (…), als für den Tango als Selbstzweck.“
Viel
Fett weg bekommt auch die lokale Szene,
die meist als wenig aufgeschlossen für Neulinge und cliquenartig strukturiert bewertet wird:
„Die Leute sind
generell nicht freundlich.“
„Ich habe in so
kurzer Zeit noch nie so viele narzisstische, gefährliche Männer getroffen.“
„Tyrannen und schlechtes Benehmen“
„Zu
spaltend in der Community, verschiedene Kreise sprechen oder tanzen nicht
miteinander und zwingen Sie zur Auswahl“
„Ich
tanze immer noch ab und zu, aber im Grunde bin ich so gelangweilt von der
örtlichen Szene. Sie ist cliquenartig strukturiert, arrogant und im Allgemeinen
unreif.“
„Schließlich
kam es zu einem Punkt, an dem der Ärger über das Kastenwesen und das ständige
Potenzial zur Ablehnung das Vergnügen überwogen. Es gab nicht genug Führende,
mit denen ich gerne getanzt habe.“
„Oft
tanzen die fortgeschritteneren Paare nur mit einem bedeutenden Anderen oder
einem Cliquenmitglied.“
„Hier
herrscht ein enormer Druck, genauso zu tanzen, wie es die Hauptfraktion der
Puristen bestimmt, die Leute machen böse Kommentare auf der Tanzfläche über
andere.“
Humor scheint ebenfalls keine tangospezifische Eigenschaft zu sein:
„Ich
stellte fest, dass die Leute es sehr ernst meinten, und manchmal hatte ich das
Gefühl, dass mein Sinn für Humor nicht willkommen war. Es schien auch, dass man
auf eine bestimmte Art und Weise aussehen oder handeln oder tanzen musste, um
ein akzeptabler Partner in einer bestimmten Szene zu sein, was mich wirklich
ärgerte und es mir schwer machte, eine andere Community zu besuchen.“
Auch der Tangounterricht wird öfters als wenig nützlich angesehen – vor
allem auch die Rivalitäten zwischen den Lehrenden:
„Workshops
sind immer auf Mittelstufe bis Fortgeschrittene ausgerichtet, und es ist
schwierig, sie zu beginnen, wenn jeder Ihnen verschiedene Dinge über Haltung
und Schritte erzählt. Ich beobachte Leute, die Spaß an Milongas haben, während
ich gerade korrigiert werde und nichts davon wirklich genieße.“
„Der
Streit und die Politik zwischen den Instruktoren“
Und natürlich ist da der eifersüchtige Partner, der einem das
Tanzen verleidet:
„Verliebte
mich in einen Mann, der unglaublich eifersüchtig war und stellte den Tango vier
bis fünf Jahre lang ins Regal.“
„Mein
Mann glaubte nicht, dass wir Zeit dafür hatten.“ (Achtung: Realsatire!)
Jüngere Menschen finden beim Tango nicht genug Tanzpartner ihrer
Generation:
„War
sehr jung und hatte Schwierigkeiten, Freunde zu finden. Die meisten Tänzer
waren über 50. Ich wollte meine Wochenenden auch mit Freunden meines Alters
verbringen, die nicht tanzten.“
Musik und Tanz selbst spielen bei
den Gründen eine erstaunlich geringe
Rolle und werden ambivalent
gesehen. Manche sind von den historischen Klängen gelangweilt, andere hätten
gerne mehr davon. Tänzerisch konnten sich einige nicht zu größeren
Anstrengungen durchringen, anderen war Tango zu simpel:
„Langweilig
... fand es nicht schwierig, nur langweilig. Eine Stufe über dem Line Dance.“
Hier der Originaltext: https://tangoclay.us/a-hundred-and-one-reasons/
Fazit
Ich glaube nicht, dass es zu
diesem wichtigen Thema eine ähnlich breite
Umfrage gibt. Und nach meinen Erkenntnissen sind die Tango-Verhältnisse in
den USA und hierzulande durchaus vergleichbar.
Was mich inzwischen nicht mehr
wundert: Eine nicht genehme Musik hält die wenigsten vom Tango ab –
eine Bestätigung mehr für meine These, dass sich durchschnittliche Tanzende
wenig um dieses Thema scheren. Vielleicht ist diese seltsam lose Beziehung zu
den Klängen, auf welche man sich immerhin bewegen sollte, ein Hauptgrund, wieso
nie eine tiefere Beziehung zu diesem
Tanz entstand.
Das übliche Lamento von (vermutlich eher älteren, unspektakulären) Tänzerinnen, zu wenig respektive nicht
von guten Tänzern aufgefordert zu
werden, war zu erwarten. Meine Einstellung dazu ist ambivalent: Klar gibt es das, und manche Tangueros sollten sich für
ein solches Verhalten schämen. Andererseits gibt es genug Männer, die anders
gestrickt sind. Aber auch die gehen oft danach, wie „leicht erreichbar“ eine Tanguera ist. Dafür könnten die Damen, wie
ich oft genug beschrieben habe, eine Menge tun. Nur regungslos herumzusitzen
und keinen Kontakt zu suchen ist jedenfalls zu wenig.
Und ja: Gut tanzen zu können ist stets von Vorteil. Wie sollte es auch
anders sein? Aber bis zum Jüngsten Tag wird es im Tango auch grottenschlechte
Tänzer/innen geben – und die brauchen ebenfalls Partner.
Viel weniger tun kann man
dagegen, nur aufgefordert zu werden, wenn man einer bestimmten Clique angehört, die sich – meist
völlig grundlos – für die „crème de la crème“ hält. Diese elitären Strukturen auf vielen Milongas (und noch viel mehr auf
Veranstaltungen mit Zulassungsbeschränkung) sind tatsächlich ein riesiges
Problem. Der dadurch erzeugte Anpassungsdruck
ist gewaltig – Anfänger haben oft den Eindruck, sich auf allen Vieren um
Akzeptanz bemühen zu müssen. Diese mangelnde
„Willkommens-Kultur“ ist wohl ein Hauptgrund, wieso sich viele wieder vom
Tango zurückziehen.
Mein Rat ist stets der gleiche: Da solche Klüngel von Zulauf leben, hilft nur deren Meidung. Es gibt viele kleine,
unspektakuläre Veranstaltungen, wo man auch Tango tanzen kann. Wem das zu
popelig ist, der verantwortet es selber.
Amüsiert habe ich mich darüber,
dass der übliche Tangounterricht
ziemlich kritisch gesehen wird. Oft genug habe ich Alternativen vorgestellt und
musste mich belehren lassen, nichts davon zu verstehen. Tja…
http://milongafuehrer.blogspot.com/2019/03/hier-irrt-luders-nicht.html
http://www.jochenlueders.de/?p=14165
http://www.jochenlueders.de/?p=14165
Und dann der Dauerbrenner vom „eifersüchtigen Partner“… da kann ich
nur sagen: Wer sich immer noch seine Hobbys vom Ehemann diktieren lässt, lebt
halt gerne in der Zeit vor 1965. Viel Spaß!
Wenn ich auf meine Anfangszeit im
Tango vor 20 Jahren zurückblicke, ist das Ergebnis eindeutig: Die meisten von
damals sind heute nicht mehr dabei. Die Rückzugsquote
ist enorm. Und klar führte die langjährige Reglementiererei
dazu, dass man vor allem die Individualisten, die Fantasievollen und Kreativen
vergraulte und den Zustrom der Anpassungswilligen vergrößerte.
Was ich jedoch sehr
aufschlussreich finde: Die meisten der 233 Kommentatoren suchen die Schuld dort, wo sie nicht immer liegt –
bei den anderen. Selten bekennt man,
sich selber nicht genug bemüht, nicht mehr Kontakte gesucht zu haben. Und vor
allem: den Tango von Anfang an realistischer
betrachtet zu haben. Daher: Wer zu dieser Musik keine innere Beziehung aufbauen kann, sollte es lassen. Es wäre für alle
Seiten eine Erlösung.
Die Verbliebenen dürfen nicht
auf das Marketing hereinfallen: Viele schlucken den Honigseim der ach so „achtsamen,
liebevollen“ Szene nur zu gerne. Doch warum sollte es bei unserem Tanz –
neben tollen, sympathischen
Persönlichkeiten – nicht ebenso den gesellschaftsüblichen Anteil von Angebern, Spinnern und Trotteln geben?
Mir war das ziemlich schnell
klar, nicht erst, als ich mein Tangobuch
herausbrachte. Dann aber besonders.
"Die meisten der 233 Kommentatoren suchen die Schuld dort, wo sie nicht immer liegt – bei den anderen"
AntwortenLöschenmehr gibts dazu eigentlich nicht zu sagen. Wenn man die "Schuld" beim anderen sieht, hat man ja selber "alles richtig gemacht" und kann deshalb leider natürlich nichts mehr verbessern.
(tja, nur ist man selbst halt der einzige Punkt, an dem man ansetzen kann, um eine Veränderung anzustossen ...)
Ciao, Robert Wachinger
Ob es der einzige Punkt ist, bezweifle ich. Aber es wäre der nächstliegende.
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