Tanzmusik im eigentlichen Sinne?
Die Fraktion der „Tango-Spielverderber“ unternimmt seit
Jahren immer wieder neue Anläufe, modernere Tangomusik als künstlerisch
mangelhaft und zum Tanzen ungeeignet hinzustellen.
Das Gemeinsame all dieser Versuche besteht vor allem
darin, dass sie ziemlich leicht zu widerlegen sind und dann durch neue, noch
fadenscheinigere Argumente ersetzt werden müssen. Die Halbwertszeiten verkürzen sich stetig...
Ich kann mich an Zeiten erinnern, wo man nicht nur neuen
Tangostücken, sondern auch den Kompositionen Piazzollas und seiner Kollegen
schlicht die Berechtigung absprach, sie überhaupt als „Tango“ zu bezeichnen. Highlight
war für mich der öfters gebrauchte Satz: „Piazzolla
hat seine Musik nicht ‚Tango‘ genannt, und er wird schon gewusst haben, warum.“
Na ja, keine Ahnung, wer dann den Begriff „Tango nuevo“ geschaffen hat…
Schön war auch die einige Zeit verbreitete Information, Piazzolla
habe nicht gewollt, dass man zu seinen Kompositionen tanze. Wahr daran ist
allerdings nur, dass er es damals ablehnte, abends für Leute auf den Milongas
zu spielen, die ihn tagsüber auf der Straße beschimpften. Da es hierzu
eindeutige Aussagen seiner Witwe gibt, hört man von diesem Gerücht auch schon
länger nichts mehr.
Ein jahrelanger Kracher freilich war das Verdikt, Tango
nuevo und gar noch Moderneres sei „untanzbar“. In jahrelanger, zäher
Aufklärungsarbeit haben Autoren wie ich immer wieder auf hunderte Tanzvideos im
Netz hingewiesen, wo Paare zu diesen Klängen – und zum Teil sogar wunderschön –
tanzen. Mein Argument, wer das alles
ignoriere, sei mit den „Flacherdlern“ vergleichbar, welche alle
wissenschaftlichen Erkenntnisse von unserem kugeligen Planeten in Abrede
stellten, hat mir zwar ein Hausverbot auf einer Neolonga eingebracht –
inzwischen jedoch ist die Killer-Vokabel von der Untanzbarkeit dorthin
verschwunden, wo sie hingehört: im Müll.
Ebenfalls sehr lange hat man zeitgenössischen
Tangoensembles unterstellt, sie reichten – gerade bei der Interpretation der
alten Arrangements – nicht an die EdO-Vorbilder heran. Nachdem inzwischen die
Tanzenden in Massen auf solche Live-Events strömen, ist man deutlich
vorsichtiger geworden – ja, legt inzwischen die eine oder andere Tanda von
ihnen auf.
Jüngst bemerkte ich in einer Facebook-Gruppe nun den
neuesten Versuch, Unhaltbares aufhalten zu wollen. Ein Kommentator schreibt
dort:
Zum
Tango-Traditionell:
Ich zitiere Michael Lavocah (Seite „viii „im Buch Tango Geschichten - Was die Musik erzählt Deutsche Ausgabe 2013):
Zitat:
Vieles von denen, was in der westlichen Welt „Tanzmusik“ genannt wird ist nicht Tanzmusik im eigentlichen Sinne. Sicherlich gibt es sehr viel Musik, zu der man tanzen kann. Aber wenn wir von Tanzmusik sprechen, meinen wir etwas anderes: Musik, die sich zusammen mit dem Tanz entwickelt hat, für den sie gedacht war; zwei miteinander verflochtene Stränge, wie die Doppelhelix der DNA......
Ich zitiere Michael Lavocah (Seite „viii „im Buch Tango Geschichten - Was die Musik erzählt Deutsche Ausgabe 2013):
Zitat:
Vieles von denen, was in der westlichen Welt „Tanzmusik“ genannt wird ist nicht Tanzmusik im eigentlichen Sinne. Sicherlich gibt es sehr viel Musik, zu der man tanzen kann. Aber wenn wir von Tanzmusik sprechen, meinen wir etwas anderes: Musik, die sich zusammen mit dem Tanz entwickelt hat, für den sie gedacht war; zwei miteinander verflochtene Stränge, wie die Doppelhelix der DNA......
Neo Tango, ich erlaube mir mal zu behaupten, in der Zeit nach 1960, kann diesen Anspruch nicht erfüllen. Weil es das Konglomerat (Tänzer/Orchester) nicht mehr gab und heute auch nur selten anzutreffen ist. Und beim Non Tango erst recht nicht.
In dieser Facebook-Gruppe sind aber einige die den Non/Neo Tango lieben und tanzen und auch mit Argumenten stark unterstützen. Das ist ok.
Doch diese Tänzer interpretieren dann eben irgendeine Musik und nicht eine Musik, die für sie geschaffen wurde.
Und auf der Tanzfläche kommt es dann zu eigenwilligen Figuren (Interpretationen).
Na sicher – und „eigenwillige
Interpretationen“ gilt es ja unbedingt zu vermeiden… Nicht, dass dabei noch
klar würde, wer besser tanzen kann…
Da ist der Essener Tangolehrer Klaus Wendel, der vor allem das bekämpft, was er nicht versteht,
natürlich begeistert:
„Endlich mal eine
bestätigende, sachlich und fachlich einwandfreie Beschreibung von Tanzmusik,
die offenbar immer wieder - entweder gar nicht oder nur unzureichend - beachtet
wird. Seit einiger Zeit versuche ich diesen Unterschied in Blogs („Lieber
lebend… „ http://kroestango.de/aktuelles/lieber-lebend/
als Antwort) zu erklären. Ein Ausschnitt: „Was soll ich anderes aus Deiner
Überschrift herauslesen, wenn Du bei den Tonbeispielen beide Varianten – Konzert-und
Tanzmusik in einen Topf schmeißt?
In Deiner Antwort nimmst Du Bezug auf das 478. Abspielen eines Tangos. Meinst Du damit hören oder tanzen? Wenn ich so bescheuert sein sollte, mir 478 mal dieses Stück nur anzuhören ohne einzuschlafen, ist das ein großer Unterschied, ob ich es auch tanze und 478 mögliche Interpretationen ausprobiere und dabei feststelle, wie genial einfach es ist, sich bei einem Stück trotzdem nicht zu langweilen; ja es sogar zu genießen. Es ist schon erstaunlich, dass ich mich tänzerisch, trotz meiner 35 Jahre in über 30.000 Stunden Unterricht und Tanzen mit der Musik der EdO, nicht langweile (und übrigens zigtausend TänzerInnen auf der ganzen Welt auch nicht!), während mich Stücke von Bajofondo, Gotan Projekt oder El Cachivache schon nach dem 3. Mal tänzerisch langweilen.
(…)
EdO-Tangos sind reine Tanzmusik, dabei aber um einiges raffinierter als Salsa. Nach 2 Stunden nur Hören langweilen sie jeden. (Viele von Frauen gesungene Stücke waren dagegen nur Vortragsmusik – nicht zum tanzen geschrieben – sondern als reine chansonette-ähnliche Musik, der man gerne nur zuhörte, allerdings zum tanzen nicht so geeignet ist, weshalb man zu dieser Musik aus Höflichkeit nicht tanzte.)
Das ist der Unterschied zwischen Tanz- und Konzertmusik (Hörmusik).“
Wenn ich mal zusammenfassen
darf:
Der Kenner tanzt also ausschließlich zu „Tanzmusik im
engeren Sinne“ – also solche, die rein dafür komponiert und vorwiegend in Tanzsälen live dargeboten wurde
– und nicht in Konzerten.
Nun gibt es beispielsweise auch eine deutsche Tango-Tradition: Vor allem in den 1920-er bis in die 40-er
Jahre gab es höchst erfolgreiche Orchester wie die von Juan Llossas, Dajos Béla, Barnabas von Géczy und Marek Weber, die sehr oft live zum Tanz
spielten, aber auch Schallplatten produzierten und in Filmen auftraten. Und bis
in die 1970-er Jahre hinein sangen Stars wie Fred Bertelmann, Vico Torriani und Peter Alexander schmelzend schöne Tangos, allerdings eher auf
Konzerten und in Filmen – und lockten damit mindestens zwei Generationen in
Massen auf die Tanzflächen. Bis auf einzelne Extremisten wie mich fassen Tango-DJs
solche Aufnahmen jedoch nicht mal mit der Ofenzange an. Ist das nun „Tanzmusik im eigentlichen Sinne“ oder
nicht?
Und wenn meine Musikerinnen vom „Duo Tango Varieté“
diesen Titel spielen, singen alle über 50 Jahren mit – mehr Popularität geht
nicht:
Anderes Beispiel: Meines Wissens spielten die legendären Beatles nur selten zum Tanz auf – aber die
Jungs aus Liverpool, deren Popularität wohl auch in Argentinien mit für den
Niedergang des Tangos verantwortlich war, sorgten dafür, dass mindestens eine
Generation in den Discos fröhlich zu ihren Hits herumhüpfte. Tanzmusik?
Sicherlich, auch wenn sie nicht primär zum Tanzen geschrieben oder
interpretiert wurde. Es gäbe noch viele andere Beispiele.
Daher rate ich den Protagonisten des aktuellen Versuchs,
nun wieder Trennwände zu errichten, diesen Unsinn zu lassen!
Primär ist es nämlich der persönliche Geschmack, das Alter
und die kulturelle Prägung, was den
einen magisch auf das Parkett zieht und den anderen von dort flüchten lässt –
ohne dass er sich vorher erkundigen müsste, ob denn die jeweilige Musik zum
Tanzen gedacht gewesen sei oder nicht.
Und klar: Wenn Musik die Massen bewegen soll, muss sie „Mainstream“ sein – also simpel genug,
dass auch diejenigen dazu tanzen können, die es nicht besonders beherrschen.
Und da unterscheidet sich ein Rudi
Schuricke kein bisschen von den Knödel-Baritonen der EdO! 478 Mal anhören
mag ich mir weder das eine noch das andere – und wer meint, darauf 478
verschiedene tänzerische Interpretationen liefern zu können, leidet eher an
altersbedingter Gedächtnisschwäche: Da kommt einem dann ganz viel neu vor, das
es nicht ist.
Die Geschmäcker
sind eben verschieden und hängen auch wesentlich von den tänzerischen
Fähigkeiten ab. Daher gibt es halt auch Menschen, die eher schwierige Klänge
bevorzugen, welche ihre Kreativität herausfordern – und die sich nicht von
Gscheidhaferln erklären lassen müssen, was denn nun „Tanzmusik im eigentlichen Sinne“ sei.
Von mir aus dürfen sie dann auch Tangoschritte zu Stücken
tanzen, die wahrlich mit dem Tango nichts zu tun haben. Mein Geschmack ist das
allerdings nicht – und ich unterstütze ausdrücklich, was der Berliner
Tangokollege Thomas Kröter in seinem
neuen, sehr bemerkenswerten Artikel schreibt:
„Bei den Titeln aus Rock, Pop, und Techno, die als ‚Neo‘
apostrophiert werden, handelt es sich nicht um Produkte einer kritischen
Auseinandersetzung mit der Tradition des Tango. Die meisten sind produziert
worden ohne jede Kenntnis dessen, was wir gelernt haben, unter jenem Tango zu
verstehen, der vor mehr als einem Jahrhundert irgendwo in der Gegen um
Buenos Aires und Montevideo entstanden ist. Das unterscheidet sie von Piazzolla
und Co., aber auch vom Electrotango im Gefolge von Gotan Project.“
Dies
ist unser persönlicher Geschmack. Aber wir versauen niemandem den Spaß, wenn
ihn andere Klänge dazu motivieren, Tango zu tanzen.
Ha, das erinnert mich an eine verregnete Outdoor-Milonga vor vielen Jahren in München (Praterinsel), auf der ich von Rudi Schuricke "Regentropfen, die an mein Fenster tropfen" auflegte. Kam damals gut an und wurde betanzt (sogar in München ;) ). Vielleicht aber auch nur wegen der Umstände und etwas Galgenhumors ...
AntwortenLöschenNicht vergessen werden sollten die ganzen östlichen Tangos (Pjotr Leschenko, Ibrahim Özgür usw.). Diese erfordern (wie die finnischen) aber noch etwas mehr Mut, um sie zu spielen.
Ich nehme an, der Kommentar stammt von Hannes Rieger?
LöschenJa, früher wurden solche Sachen auch noch in München aufgelegt. Mein Schlüsselerlebnis war die einstige Milonga in der Seidl-Villa, wo Peter Ripota stets als letzte Tanda alte deutsche Tangos spielte. Wunderbar!
Stimmt, ich bin's.
LöschenMit bestimmten Musikarten habe ich auch immer so meine Probleme. Viele osteuropäische Sachen sind mir schlicht zu fröhlich, dann gibts die Kategorie zu wenig konturierte bzw. spannungsarme Plätschersongs (Überhören erzeugt den selben Effekt, sagen wir Typ "Amelie"). Die arme kleine Mundharmonika...als tragendes Instrument schnell langweilig, will sagen, Sayonara, Hugo D.Wenn ich mich so lese...nein, ich mutiere nicht zum Tradi-Redneck. Aber guten Neo/Non zu finden ist nicht wirklich easy.
AntwortenLöschenMuss man ja auch nicht - es gibt moderne Tangogruppen wie Sand am Meer. Und wie schräg die auch immer spielen: Es ist jedenfalls Tango, in einer riesigen Bandbreite.
LöschenÜbrigens nenne ich die Gattung meiner "Lieblings-Welt-Musik": "Wir liegen am Strand und saufen billigen Rotwein"...