Ausgerechnet Bananen?


Vor einigen Monaten stellte der Administrator einer Facebook-Gruppe für Tango-DJs den Seinen („nachdenklich“) die Frage:

„Weil so viele Menschen von dem Orquesta Romantica Milonguera begeistert sind, versuche ich, seine schönen Seiten zu entdecken. Vielleicht auch, um mir Tandas des Orchesters zuzulegen – für den Fall, dass es die Ronda einmal danach gelüstet. Aber wenn ich mich durch die Stücke durchhöre, werde ich zutiefst ratlos. Für mich klingt das alles so falsch! Liegt es an meinen Ohren? An meiner Wiedergabekette? Oder habe ich eine Entwicklung verpasst? Zählt der Wohlklang nichts mehr? Ist das alles bewusst so schräg gestimmt?“

Ich musste schon einmal über den Zeitablauf schmunzeln: Die erste CD des Ensembles erschien im Juli 2017. Bereits einen Monat später spielte ich auf unserer Wohnzimmer-Milonga die folgende Tanda:

Adiós corazón
Esta noche de luna
Fueron tres años

Tja – dauert halt seine Zeit, bis solche Neuerscheinungen auch bei konservativen DJs ankommen… Und ja: Tango ist schräg.

Nebenbei: Den Text des letzten Stücks habe ich übersetzt – und auf meinem Blog gibt es auch die Einspielung der Gruppe dazu!

Eine DJane schrieb zur obigen Frage unter anderem:

„Ich habe mMn eine sehr nette Tanda zusammengestellt (…). Tanda bisher immer sehr gut angekommen.“

Das tröstete den Administrator natürlich kein bisschen:

„Ja, das kommt zweifellos gut an, wird auch gerne mal beklatscht. Aber warum um alles in der Welt werden auf verstimmten Instrumenten undifferenziert nachbretterte Coverversionen den um Klassen besseren (Wohlklang, Differenziertheit, Zusammenspiel, Dynamik) Originalen vorgezogen? Ich verstehe das einfach nicht.“

Ein anderer DJ zeigte homöopathisch dosiertes Verständnis:

„ORM ist keine moderne Musik, es ist Retro! Sie benutzen die kanonischen Arreglos (also die historischen Arrangements – Anm. d. Verf.). Natürlich gibt es Abweichungen, aber im Großen und Ganzen versuchen sie, den historischen Sound zu reproduzieren. Das fordert natürlich jeden eher konservativen DJ heraus:
Sind noch die historischen Produktionen mit all ihren Artefakten von vornherein den heutigen Reproduktionen in bester Aufnahmetechnik überlegen? Geht es vielleicht gar nicht so sehr um Bibeltreue, Erziehung, Historizität und reine Lehre, als vielmehr um Ohrenschmaus, Kundenorientierung und volle Tanzfläche im Stereosound? Muss Tango ächtzen und kratzen, oder darf man sich darin wälzen?“

Tja, mein Lieber, da frachste was…
Als ich damals die ersten Aufnahmen des Orquesta Romantica Milonguera (ORM) hörte – und auch die toll gemachten YouTube-Videos sah – war ich einfach nur hingerissen und wollte sofort dazu tanzen. Aber ich bin ja kein Experte…

Doch den Schreiber bedrückt noch eine weitere Frage, die ich nun wirklich nicht mehr ernst nehmen kann:

„Ich habe ein ganz anderes Problem mit ORM-Tandas. ORM spielen die Blockbuster der EDO. Diese kommen aber auch in meinen Tandas der historischen Orchester vor. Wie oft sollte man einen Hit (in welcher Version auch immer) am Abend wiederholen?“

Damit kam er nicht mal bei der Mutter des Salontango, Theresa Faus, an:
„Dein letztes Problem verstehe ich nicht. Von den großen Orchestern der EDO haben wir wahrlich genug Material, dass wir eine Wiederholung vermeiden können. (…) Kannst du mal ein Beispiel für eine Tanda nennen, bei der du in Nöte kämst??“

Konnte er natürlich nicht. Und Wiederholungen liegen ja Tradi-DJs generell fern. Aber gut, dass es mal angesprochen wurde…

Gerade der Klang der Geigen scheint bei modernen Ensembles besonders zu nerven – so schrieb der obige Administrator:

„Oder nimm die Version von ‚Esta noche di Luna‘ und hör mal auf die Intonation der Geigen. Ein bisschen schräg sind Bandoneons ja generell gestimmt, was ihren Klang so charakteristisch macht, aber wenn das mit den schräg angesetzten Geigen zusammen holpert, kommt es zu einem Klangbild, das mich zur Polemik reizt.“

Mich auch, Muchacho: Im Tango-Titel heißt es „de Luna“…

Doch da findet das Orchester sogar bei der auf schrille Geigen spezialisierten Theresa Faus Gnade – natürlich nicht ohne einen Seitenhieb auf andere Tango-Popstars von heute:

„Aber kein Vergleich mit dem Sexteto Milonguero, wo die Violinen über weite Strecken einfach nur grauenhaft sind. (…) Mein Schlussfolgerung ist, dass ich von der Intonation her das ORM inzwischen durchaus auflegen könnte. Aber sie gefallen mir auch stilistisch nicht besonders, speziell der gehauchte Gesang.“

Eine solche Äußerung hätte ich noch vor einem halben Jahr für Fake News gehalten, aber inzwischen…

Fallweise deutet sich ein Verständnis für moderne Tangomusik an:

„Aber natürlich gehen ORM auch einen Spagat zwischen Authentizität und Gefälligkeit ein: Sie wollen verdienen, nicht als Historiker arbeiten. Und genau hier gibt ihnen der Erfolg recht: Es ist so authentisch wie nötig, aber ohrenschmeichelnd wie möglich.“

Genau wie in der EdO

Überwiegend kann jedoch das Orchester bei diesem Personenkreis nicht punkten:

„Alsö verstimmt ist das nicht, aber für meine Ohren ebenfalls etwas disharmonisch. Die Violine klingt schrill und kratzig ...also nichts woraus ich eine Tanda zusammenschustern müssste.“

„Mal ganz ehrlich: hätten die ‚Original‘-Orchester (Demare, Biagi, Canaro, Fresedo, ...) diese Qualität abgeliefert, hätten wohl die meisten TJs die Stücke binnen Sekunden aussortiert.

„Die Beispiele klingen alle nicht so, daß sie mir gefallen. Ein Verzicht erscheint mir kein Verlust.“

„Also für mich ist das ein Schlagerarrangement mit Max Raabe-Vocals. Die Geigen setzen einen Tick versetzt an, um dann mit einem kleinem Schlenker an den tatsächlichen Ton zu gelangen, die rhythmischen Schwerpunkte der Originale werden ‚popverwaschen‘, wodurch Akzente und Tiefe wegfallen und alles plätschert nett und belanglos an der Oberfläche.“

Irgendwie klingt die Debatte für mich wie das etwas ratlose Gestammel der alten Herren in den Politbüros des ausgehenden Ostblock-Kommunismus angesichts des Aufbegehrens der sozialistischen Massen: Da betet man die Revolutionäre von einst an, setzt sich so für das Volk ein, die haben doch alles… bis auf Bananen. Und ausgerechnet die müssen es nun sein. Unverständlich!



Auf die Idee, es könnte vielleicht an den eigenen eingefahrenen Hörgewohnheiten liegen, kommt man in diesen Kreisen nicht. Und klar, Intonation und Interpretation der modernen Tangoensembles unterscheiden sich von ihren Vorgängern – von der Aufnahmequalität ganz zu schweigen. Erstmal nimmt man das neue Zeug gar nicht zur Kenntnis, dann lauscht man mit gekräuselten Lippen – Ergebnis vorhersehbar.

Musikwissenschaftliche Expertisen hin oder her – ich habe die Wirkung des Orquesta Romantica Milonguera auf den Milongas Dutzende Male erlebt: Man stürmt die Tanzfläche und badet in hochfeinem Kitsch. Die Kommentare hinterher: sehr angetan bis hellauf begeistert!

Ich möchte den konservativen Kollegen am Mischpult Fledermaus-Gehör und feinstes Gespür für Dissonanzen gar nicht absprechen. Eines aber fehlt ihnen fast völlig: Das Gefühl dafür, was die Gäste auf die Piste lockt – so wie ihren Pendants in den Politbüros eine Ahnung davon, was das Volk wirklich bewegte.
Kein Wunder, da viele von ihnen kaum selber tanzen.

Ausgerechnet Bananen? Ich würde dem Publikum das verkaufen, was es wünscht. Denn:

Wer zu spät auflegt, den bestraft das Leben!

Und hier zur Fortbildung noch ein Hörvergleich:


 

Kommentare

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