Von einem, der es wissen müsste
Gerade
stieß ich auf einen hochinteressanten Artikel des Basler Musikers, DJ und
Tangolehrers Mathis Reichel.
Auf
seiner Website findet sich die Selbstbeschreibung:
„Ich kenne den Tango
seit 20 Jahren, ich tanze, unterrichte, lege auf, höre dabei oft dieselben
Titel und entdecke sie immer wieder neu. Manchmal bringen sie mich um. Ich
liebe den alten ‚Hafentango‘ eines frühen Canaro, die Eleganz eines Di Sarli,
den Rhythmus von D´Arienzo, die Phrasierungen und Klangfarben eines Pugliese.
Dann gibt es die aktiven Orchester, die neue Farben einbringen, Ranas, Silencio
Tango, La Strapata, Quinteto Angel und wie sie alle heissen. (…) Ich bin
tendenziell Traditionalist. Ich suche nicht die Originalität der Randgebiete
des Tangos. Der reine Tango bietet genügend Facetten, um einen farbenfrohen Ton
einzuschlagen. Die Extreme innerhalb des Genres klaffen weit genug auseinander,
um immer wieder zu überraschen und festzustellen: das alles ist Tango!“
Bereits
vor 15 Jahren äußerte er in einem Interview:
"Bei den Mythen
fällt mir noch ein: man hört, dass in der alten Generation durchweg die guten
Milongueros seien. Das ist ein Mythos, der nicht existiert! Die jungen Leute
tanzen generell besser. (…) Für die jungen Leute in Buenos Aires ist es schon
eine Selbstverständlichkeit, dass sie neben dem Tango auch Salsa, Rock´n Roll,
Swing tanzen. In die europäischen Milongas sollten auch latinische Rhythmen
einfliessen. Der Tango ist dann nicht isoliert, sondern wird in die normale
Tanzszene integriert sein."
(Quelle: http://www.tangoinfo.ch/interview/mreichel_102000.shtml)
(Quelle: http://www.tangoinfo.ch/interview/mreichel_102000.shtml)
Nach
meinen Recherchen ist Mathis Reichel also durchaus ein Anhänger des
traditionellen Tango, schätzt Gepflogenheiten wie den Cabeceo, hat sich aber die
Aufgeschlossenheit für Neues bewahrt. (Übrigens fand er über die Musik
Piazzollas zum Tango!)
Umso
verlässlicher wirkt es, wenn er in der neuen Ausgabe der „Tangodanza“ (1/2016, S. 81) von seinem letzten (und insgesamt
elften!) Besuch in Buenos Aires berichtet:
„Wo sind die Codes,
die Anstandsregeln geblieben? (…) In vielen Milongas, die ich besucht habe,
gelten fast keine Regeln mehr. Es wird zwar noch entgegen dem Uhrzeigersinn
getanzt. Doch nirgends finde ich etwas wie einen zweiten, inneren Kreis, wie er
in Europa propagiert wird. Überholverbot? Spurwechselverbot? Das sind
europäische Erfindungen. Die Mitte der Tanzfläche wird hemmungslos für alle
möglichen Kapriolen gebraucht. Der Cabeceo? Meine Generation (64) kennt das
noch. Je nach Örtlichkeit kannst du hier mit dieser Technik an deinem Tisch alt
werden. Also, all diese Märchen, die ich in meinen Kursen erzähle, werde ich
relativieren und entmystifizieren müssen. Die Zeiten ändern sich eben auch im
Tango. Die Porteños kochen auch nur mit Wasser.“
Fazit: Also, liebe
deutschsprachige Tangoveranstalter und Tanzlehrer, vielleicht wäre das ein
guter Moment, Sprüche wie „Wir tanzen und
unterrichten den ‚Tango de Salón‘ so, wie er auch in den traditionellen
Tanzsälen von Buenos Aires getanzt wird“ einzumotten. Anscheinend ist die
Welt dort ähnlich bunt wie anderswo. Wie wäre es stattdessen mit diesem Slogan?
„Wir
tanzen und unterrichten den Tango so, wie er der Legende nach einst war und wir
ihn uns in Zukunft wünschen.“
P.P.S. Und hier noch ein Kommentar von Leuten, die es auch wissen müssten:
.. Europa propagiert wird ... ? Das wurde schon einmal gemacht, das Ergebnis gibt's heute in den Tanzschulen und Vereinen. Ob die Argentinier schlechter tanzen? Halt ich für ein Gerücht, eher gelassener nicht so hektisch, ist eben auch argentinischer Tango und kein Eurotango wo auf Schlag getanzt wird.
AntwortenLöschenGruesse
Bernd Corvers
Also, falls Sie den Standardtango meinen - davon war hier nicht die Rede.
AntwortenLöschenAnsonsten - Spekulationen gibt es genug. Ich wollte hier jemand zitieren, der offenbar die Verhältnisse in Buenos Aires ziemlich gut kennt.
Aber klar, die Stadt ist groß (und Argentinien erst recht) - da wird jeder andere Eindrücke schildern. Ich stoße allerdings immer wieder auf Berichte, die nicht das Bild von "rein traditionellen Milongas" zeichnen, welches man hierzulande gerne ausmalt!
Beste Grüße
Gerhard Riedl
Warum muss man als Tangotänzer unbedingt mal in Buenos Aires gewesen sein? Vielleicht sogar mehrfach? Auf diese Frage habe ich noch keine schlüssige Antwort gefunden. Der gläubige Moslem pilgert nach Mekka, der gläubige Tanguero nach BA? Die Anreise ist weit und teuer. Die Stadt bietet wenig Sehenswertes. Wenn ich mir auf YouTube die einschlägigen Tangoclubs anschaue, oh oh: Das Ambiente wirkt oft heruntergekommen. Der berühmte (?) Sunderland Club z.B. ist eine ungemütliche Turnhalle, die mit keinem Dorfgemeinschaftshaus in meiner Region konkurrieren könnte. Das Publikum: Überwiegend im Rentenalter, schlecht gekleidet, tanzt eher mäßig. Die reinrassige Schrammelmilonga kann ich hier auch finden, wenn ich sie suche.
AntwortenLöschenAber gut, ich war noch nicht in BA. Kann also wohl nicht mitreden...
In meinem Buch habe ich für BA Zahlen von 2009 zitiert: wöchentlich zirka 300 Milongas an 120 verschiedenen Orten. Inzwischen dürften es wohl deutlich mehr sein. Ich meine, viele werden dort das finden, was sie suchen, und sich dann bestätigt sehen.
AntwortenLöschenWie jeder Wallfahrtsort lebt auch diese Stadt vorwiegend vom Mythos, welcher sicherlich durch die Fremdenverkehrsbranche noch befördert wird. Und eventuelle Wunder-Erfahrungen in Sachen Tango dort sind eben des Glaubens liebstes Kind…
Das Marketing funktioniert halt auch bei uns perfekt, indem man den Besuchern „traditioneller Milongas“ das Gefühl vermittelt, sich auf dem Boden einer „authentischen, unverfälschten“ Geschichte zu bewegen. Und dass Musik und Tanzstil der Altvorderen auch bei mäßigem Talent keine Überforderung darstellen, dürfte diesem Konzept nicht gerade schaden!
Auf dem Forum www.tanzmitmir.net hat ein Kommentator, der sich „G.R.Ewing“ nennt, meinen Beitrag u.a. mit folgender Feststellung verlinkt:
AntwortenLöschen„Da sich in Gerhards Blog seit Jahren praktisch keine lebendige Diskussions-Kultur etabliert hat,
hoffe ich nun auf dieses schöne tmm-Forum hier und auf Eure Meinungen zu der Thematik ...“
Na prima, wieder einmal beklagt ein Anonymer, der keinen Arsch in der Hose hat, sich zu identifizieren, dass andere unter genau diesem Defizit leiden!
Auch der liebe Cassiel hat den Anlass dazu verwendet, um auf sein seit längerer Zeit dahinsiechendes Blog zu verweisen.
Na prima, ich bedanke mich jedenfalls für die Aufmerksamkeit, die meinem Entdecken von Themen gezollt wird!
Immerhin erreichen meine Beiträge wie der vom 29.11.15 schon mal 24 Kommentare. Ich bin da also recht optimistisch…
Es hat schon in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts lebhafte Tangoszenen in Europa und darüber hinaus gegeben, z.B. Berlin, Paris, Warschau, Odessa, Istanbul und anderswo. Die haben sich damals überhaupt nicht darum geschert, was in Buenos Aires üblich war, sondern die Musik und den Tanz aufgegriffen und auf ihre Art und mit ihren Sitten weiter entwickelt. Damals hatte man auch überhaupt keine Hemmungen, Tangos in der eigenen Sprache zu komponieren. Und erst durch diese internationale Wertschätzung lernten die Argentinier, ihren eigenen Tango wertzuschätzen.
AntwortenLöschenSo ist es zwar einerseits interessant, was wann wo wie üblich war, aber andererseits verpflichtet das zu gar nichts. Jeder kann es machen und halten, wie er will. Auch in Buenos Aires ist der Tango offenbar nicht statisch, sondern auch dort ist die Szene differenziert.
Nicht zuletzt trägt das Tango-Tourismus-Geschäft dazu bei, was gut ist, weil es die Touristen erfreut und den Argentiniern angenehme Einnahmequellen beschert.
Wenn Leute Spaß mit Cabeceo haben, ist das fein, aber es gibt auch viele, die wollen einfach tanzen und sind von solchen Spielen genervt. Die sprechen sich direkt an, so wie man sich auch sonst oft einfach direkt anspricht, zumindest in unserem Kulturkreis.
Liebe Annette,
Löscheninteressanterweise rudert nun sogar Cassiel in einem Kommentar auf www.tanzmitmir.net zurück, wo man über die "Abschaffung der Códigos in Buenos Aires" diskutiert:
„Nun wird (wie im Eröffnungsbeitrag dieses Stranges ebenfalls beschrieben) erwähnt, dass angeblich die códigos in Buenos Aires auch nicht mehr eingehalten werden. Das mag für einzelne Milongas bestimmt richtig sein (vielleicht sind es ja gerade die Touri-Milongas) – für andere Milongas gilt – so jedenfalls meine Informationen – wer die dos and don'ts nicht kennt, wird nur schwer zum Tanzen kommen. (…) Es ist klar, dass die códigos selbstverständlich von den Gegebenheiten im damaligen Buenos Aires maßgeblich geformt wurden. So ist beispielsweise der Cabeceo in letzter Konsequenz natürlich auch ein Mechanismus, der einen abgelehnten Tanguero das Gesicht wahren lässt (die argentinischen Männer gelten als sehr stolz). Auch die Tangueras profitieren von diesen Mechanismen, sie haben ein effektives Werkzeug, sich einer Tanda mit einem unpassenden Tanguero elegant zu entziehen. In Europa haben sich diese subtilen Methoden nur langsam etabliert, sie sind aber m.E. nicht weniger notwendig. (…) Dann ist die Frage, ob in Buenos Aires die códigos gelebt werden, plötzlich sekundär.“
Ich freue mich jedenfalls, ein wenig zur Entmystifizierung des ganzen Código-Gesummels beigetragen zu haben!
Folgendes hörte ich gerade von einer Bekannten (keine Tangotänzerin), die in Buenos Aires war und dort auch eine Milonga besuchte: Es sei schon sehr geheimnisvoll gewesen, die Männer und Frauen gegenüber sitzend, die Blickkontakte...
AntwortenLöschenAls der DJ aber erfuhr, dass die Besucherin und ihre Begleiterinnen keinen Tango konnten, habe er kurzerhand eine Runde Discofox aufgelegt und mit den Damen aus Deutschland getanzt!