Jetzt mal alle?

Auf dem Forum www.tanzmitmir.net hat kürzlich ein Teilnehmer unter Hinweis auf meinen Blogbeitrag „Von einem, der es wissen müsste“ (6.1.16) eine Diskussion gestartet – unter dem ziemlich dämlichen, da nur dem eigenen Hierarchiedenken geschuldeten Titel „Die Abschaffung der Codigos in Buenos Aires“. In Wahrheit habe ich dort lediglich aus dem „Tangodanza“-Artikel eines Schweizer Tangolehrers und DJ zitiert, der von seinem jüngsten Besuch berichtet, man nehme dort die ganzen Códigos nicht halb so ernst wie in Europa.

Umgehend hat sich Bloggerkollege Cassiel auf dem Forum gemeldet und missioniert in mehreren langen Abhandlungen für das von ihm vertretene Regelwerk. Ich mag dort in diesem Zusammenhang nicht mehr posten: Erst vor einiger Zeit habe ich an dieser Stelle eine Diskussion mit dem Hinweis auf einen meiner Blogbeiträge begonnen und hatte sofort den pseudonymen „Erzengel“ am Wadl. Also ich mich gegen seine rüde Diskussionsweise wehrte, wurde binnen Kurzem der ganze Diskussionsverlauf vom Administrator gelöscht (was dieser erklärtermaßen nur tut, wenn sich jemand beschwert). Ich bitte daher um Nachsicht, wenn ich mich mit den jetzigen Äußerungen dort per „Fernduell“ auseinandersetze. Auf meinem Blog habe ich wenigstens die Gewissheit, dass mich gewisse Existenzen, welche nur anonym mutig sind, nicht behelligen!

Wieder einmal kann sich Cassiel nicht zwischen Scheinliberalität und anscheinend totalitärem Denken entscheiden. Einerseits stellt er fest: „Selbstverständlich werde ich im Regelfall nicht dadurch beeinträchtigt, wenn andere Herren in der Milonga verbal auffordern; insofern konnte es mir eigentlich egal sein.“ Hierzu darf ich den Konjunktiv in einen klaren Indikativ verwandeln: Es geht ihn schlichtweg nichts an!

Ich kenne auch Beispiele, in denen sehr energetisch tanzende Menschen quasi 'eingekreist' wurden. Ich sehe so etwas eher kritisch. Das geht in Richtung Tango-Polizei und solche Auswüchse finde ich eher bedenklich.“ Ah so? Wer hat denn schon vor längerer Zeit Hausverbote für Código-Widersetzlinge gefordert?

Ein bisschen übergriffiger liest sich dann schon das folgende eigene Erlebnis: „Dann gibt es weniger erfahrene Tangueras (ich versuche den Begriff 'Anfängerin' zu vermeiden): Die fordern dann auch schon mal verbal auf und das finde ich überhaupt nicht schlimm. Falls sich die Gelegenheit ergibt, erläutere ich beim Smalltalk zwischen den Stücken, dass ich üblicherweise auf die Mirada einer Dame reagiere und das ich zukünftig auf sie achten werde.“ So, so: Bei aller Liberalität darf es dann schon etwas Belehrung sein! Wenn ich eine Frau wäre, würde ein solcher Tänzer von mir in die „Klugscheißer-Kartei“ aufgenommen und dürfte hinfort gucken, wohin er will...

Wie die Debatte im Einzelnen auch verlaufen mag – letztlich ist es stets die unselige Melange von „eigentlich darf jeder machen, was er will, wenn er unsere Vorgaben beachtet“.

Für meinen Teil stelle ich fest: Ich habe überhaupt kein Problem damit, beim Tango schwarze Socken zu tragen – wenn es zu meinem Outfit bzw. Geschmack passt. Sollte allerdings jemand diesen Dresscode verordnen, sehe ich glühende Brezeln!

Soll heißen: Klar vermeide ich Rückwärtsschritte oder Boleos auf vollem Parkett, tanze möglichst im Gegenuhrzeigersinn und freue mich, wenn meine Spur frei ist und ich auf ihr bleiben kann. Wenn es passt, fordere ich durchaus mal per Cabeceo auf oder beende meinen Tanz bei der Cortina. Nur: Das ist meine höchstpersönliche Entscheidung, für die ich, da volljährig, auch die Verantwortung trage und daher Verordnungen oder gar Zwänge ablehne. Ich renne auch nicht aus einer Milonga, weil man traditionell auflegt – sehr wohl aber, sollte man dort offiziell auf Spurtreue und Überholverboten bestehen (kommt aber sehr selten vor – und ich bin ja nicht so oft im "Hep Cat Club"...).

Daher billige ich Herrn Cassiel auch gerne persönliche Vorlieben zu: „So wie ich z.B. ungerne mit Frauen tanze, die ein Oberteil aus kratzendem Synthetik-Stoff tragen, so tanze ich auch lieber mit Damen, die freundlich lächelnd offen in den Raum schauen und nicht griesgrämig Löcher in den Boden starren.“ Na prima, aber soll es wegen ihm einen neuen Código geben: „Frauen dürfen keine kratzenden Oberteile tragen“?

Die Vorteile des Mirada-Cabeceo-Systems sehe ich durchaus: Sicherlich wird ein direkt ausgesprochener Korb vermieden – den Cassielschen Umkehrschluss allerdings vermag ich nicht nachzuvollziehen: Auch die Annahme einer Tanzeinladung in dieser Form muss nicht heißen, dass man mit dieser Person unbedingt gerne tanzen will oder sie es besonders gut kann. Die Skala reicht auch dabei von „ok, lieber ein schlechter Tango als gar keiner“ über „lieber wärs mir, er käme rüber zu mir und würde fragen“ bis zu „jetzt glotzt der arme Kerl schon eine ganze Stunde, der tut mir echt leid“. Zudem ist das Risiko von Missverständnissen größer – selbst wenn Beleuchtung und Sitzordnung die grundsätzliche Möglichkeit ergäben. Und bei mir etabliert sich zunehmend die Schere im Kopf, ob eine unbekannte Tanguera eventuell auf den Cabeceo besteht und eine persönliche Annäherung als sexuelle Nötigung empfindet, weil sie Stammleserin der „Tangoplauderei“ ist... Zu einer Verbesserung der tänzerischen Fähigkeiten müssen solche Rituale nicht führen: Man muss nur gucken und nicken können – tanzen nicht!

Und was „verbal erzwungene Tänze“ betrifft: Man kann jemanden auch mit Blicken erdolchen. Vor allem aber sehe ich den Tango als Gesellschaftstanz. Wenn man sich im sozialen Umfeld bewegt, sei es auf Vernissagen, Parteitagen oder Milongas, wird man nie ausschließlich auf Menschen treffen, die einem sympathisch oder kompetent erscheinen. Geschmacklose Bilder, langweilige Reden oder unzulängliche Tangos hat man zu ertragen, wenn die Gesamtbilanz positiv ist: Zu meiner Zeit sagte man dazu „Höflichkeit“.

Netterweise lässt Cassiel (wohl unabsichtlich) in dieser Diskussion schon einmal etwas tiefer in seine Seele blicken: „Aber um es auch in einem Beispiel einmal positiv zu formulieren, es gibt diese Traum-Tandas (mir passiert das nur ganz selten – vielleicht 2 oder 3 Tandas im letzten Jahr). (…) Und auch mein Tango ist nicht gut genug, dass ich vollkommen souverän, beispielsweise einen Spur-1,5-Tänzer großzügig 'übersehen' könnte. Da muss ich einfach noch mehr üben.“

Ui ja, Cassiel, mach das – dann wirst auch souveräner und sparst dir Äußerungen wie: „Es gibt nämlich nach meinen Beobachtungen viel Verwirrung, wenn man Mischformen beim Auffordern betreibt (also manchmal verbal, manchmal per Blickkontakt).“ Nein, Irrtum, so spannend und interessant kann es bei unserem Tanz zugehen – und das Motto würde lauten:

Jetzt mal jeder, wie er will!“

Hier der gesamte Diskussionsverlauf:
http://www.tanzmitmir.net/tanzpartner-boerse/viewtopic.php?t=17382

P.S. Um mir nicht wieder die Beschimpfung als "Zitatfälscher" von Cassiel einzufangen, habe ich seine Fehler hinsichtlich Orthografie und Interpunktion stehen lassen.

Nachtrag:
Cassiels vorläufig (wohl nicht endgültig) letzter Diskussionsbeitrag auf diesem Thread, bei dem er wortreich eine Auffordersituation mit Tanguera A bis F durchbetet, zeigt das Elend überdeutlich: Der Mann ist völlig kopfgesteuert – für eine solche Informationsmenge wäre ein Laptop zu empfehlen – und wenn‘s nicht genau nach besagtem Kopf geht, wird er noch komplizierter…


Den schwarzen Peter haben natürlich die „Verbalaufforderer“:
„Genauso ärgerlich ist es übrigens auch, wenn Paare während der Cortina auf der Tanzfläche stehen bleiben. Menschen sind nun einmal nicht durchsichtig. (…) Wenn Menschen in der Milonga verbal auffordern wollen, dann sollen sie das gerne tun. Ich kann das mittlerweile gut ausgleichen. Sie sollten sich aber bewusst sein, dass sie andere Mitmenschen behindern.“

Da könnte ich mich genauso beschweren, wenn ich per Pedes zu einer Tanguera unterwegs bin, mich jedoch auf halbem Weg ein Blinzel-Depp mit Lichtgeschwindigkeit überholt und die Dame auffordert. Tue ich aber nicht: Das ist halt das Abenteuer Tango – ungeeignet für Buchhalter mit einer Exel-Liste im Hirn…

Kommentare

  1. Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

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    1. Den obigen Kommentar habe ich gelöscht, da die Identität des Verfassers nicht ersichtlich war.

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  2. Haha, ich habe den letzten Beitrag von Cassiel in dem Forum auch gelesen. Der Typ ist ein Kontrollfreak, das gibt es. Das ist so ähnlich, wie wenn exakt am Samstag mittag, 12:00 Uhr, die Treppe geputzt sein muss, wehe, man findet noch irgendein Stäubchen. Dafür hängt die Hausordnung im Treppenhaus. Der Hausmeister wird trotzdem nie zufrieden sein, denn er kann es nicht ertragen, wenn nicht alles ganz exakt so läuft, wie er es sich vorstellt. Dann wird die Hausordnung immer länger und die Beschwerden immer bitterer und selbstgerechter.

    Mir blieb die Spucke weg, als ich das mit dem ins Blickfeld laufen gelesen habe. Dann dürfte es doch gar nicht erlaubt sein, überhaupt einem anderen Mann die Dame wegzuschnappen. In dem Fall wäre es wirklich besser, man würde ein Tanzbuch führen, in dem sich alle eintragen, mit Uhrzeit und Tanda. Die Playlisten müssten natürlich auch vorher veröffentlicht werden, dass es nur keine unvorhergesehenen Ereignisse gibt.

    Bei uns ist es schon vorgekommen, dass eine Dame der anderen sagte: Ne ne ne, jetzt bin ich aber mit dem Soundso dran, ich wollte unbedingt mal mit dem Vals tanzen... Die andere Dame findet das völlig in Ordnung, denn sie weiß, dass sie auch noch drankommt. Der Herr fühlt sich geschmeichelt...

    Nie im Leben glaube ich, dass die Codigos in BA damals so waren, wie sich das einige (wenige) Traditionalisten in Deutschland wünschen. Dagegen war es wahrscheinlich in BA ziemlich unmöglich, als Dame die Führungsrolle zu übernehmen, oder als gleichgeschlechtliches Paar zu tanzen, usw.

    Viele Regeln sind einfach nur ein Spiel, und andere sind gute Kinderstube (man rempelt möglichst nicht). Manche machen es so, und andere anders.

    Ich habe gar nichts gegen Regeln: Demnächst gehen wir auf einen Tango-Maskenball, dort gibt es die Regel, dass sich alle einen vornehmen Phantasienamen zulegen und mit einer Maske erscheinen. Finde ich sehr witzig (man kann allerdings schwarz sehen für Cabeceo, denn nicht nur verdecken die Masken viel vom Blick, ohne Brille bin ich auch recht blind und erkenne nicht, wer wo wie guckt.)

    (Ich schreibe nicht mehr in dem Tanzforum, denn dort ist es zu unfreundlich und humorlos.)

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  3. Liebe Annette,

    den Vorschlag mit Tanzkarten und Vorab-Playlist habe ich auf meinem Bog schon gemacht: „Tanzen à la carte“ (7.7.15)

    Zum Thema „Kontrollfreak“ noch ein besonders schönes Cassiel-Zitat aus der laufenden Diskussion auf „tanzmitmir“:

    „Nehmen wir als an, wir befinden uns in der dritten Stunde einer fünfstündigen Milonga. Es läuft gerade die Cortina vor der zweiten Tango-Tanda nach einer Vals-Tanda. Ich habe bereits gut getanzt und schaue im Raum herum, mit wem ich die nächste Tanda tanzen möchte. Es wird eine Tango-Tanda sein (unmittelbar vor der nächsten Milonga-Tanda). Wenn es ein DJ ist, der nach meinen Vorstellungen auflegt, dann kann ich bereits vor Beginn der Tanda abschätzen, es wird eine Tango-Tanda mit mittlerer Energie werden. Ein guter DJ wird rund um eine Milonga-Tanda weder extrem lyrische Stücke spielen (also etwa, Fresedo/Ray, Canaro/Maida, OTV/Carol oder …) noch wird er sehr energetisch werden (damit scheiden die wirklich energetischen Stücke aus – wie z.B. Laurenz/Casas, d'Arienzo/Echagüe oder …). Schon während der Cortina schaue ich umher und registriere, welche Tanguera wo sitzt. Abhängig davon, mit welcher Tanguera ich bereits schon in dieser Milonga getanzt habe, werde ich mir eine Reihenfolge in meinem Kopf zurecht legen. Ich suche einen ersten Blickkontakt mit den Damen (der sog. Prä-Cabeceo).“

    Abenteuer, Reiz des Unbekannten, neue Ideen? Fehlanzeige! Wären solche Menschen vor hundert Jahren ans andere Ende der Welt ausgewandert und hätten den Tango geschaffen? Nein, die wären schön zu Hause geblieben und hätten sich in irgendeinen „Schuhplattler-Vereinsvorstand“ wählen lassen!

    Schöne Grüße
    Gerhard

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