Post Neujahr
„Früher
war die Zukunft auch besser.“
(Karl
Valentin)
Zum
Neuen Jahr darf man sich bekanntlich was wünschen. Privates gebe ich hier nicht
preis – außer, dass der von meiner Generation zu Tode plagiierte Satz „Hauptsache gesund“ nicht dabei ist. Was soll man darunter
verstehen? Wie beim TÜV „ohne erkennbare
Mängel“, da vielleicht doch nicht genügend untersucht? Und dann in dieser
Angst leben? Zudem durfte ich gerade in den letzten Jahren viele glückliche
Kranke und unzufriedene Gesunde erleben – nichts für mich also!
Aber
beim Tango habe ich zwei Wünsche, die ich für veröffentlichenswert halte:
Die „schweigende
Mehrheit“ der Milongabesucher möge sich mehr äußern – und das Lehr- und
Veranstaltungspersonal ihr zuhören!
Dieser
Dialog ist nach meinem Eindruck fast völlig zum Erliegen gekommen: Aus der
Subkultur („wir organisieren eine
Milonga“) wurden die Veranstaltungskalender einer Branche. Auf der einen Seite wird der ausufernde Markt
mit allem vollgepumpt, was auch nur andeutungsweise mit Tango zu tun hat – andererseits
lässt man den Konsumenten genau die eine Freiheit, die „Produkte“ zu kaufen
oder es zu lassen.
Dies
wirkt erstaunlich unzeitgemäß: Bietet man über „Amazon“ einen
Patentschraubendreher an, darf man sich auf „Kundenrezensionen“ gefasst machen
– nicht nur zur Qualität des Gerätes, sondern selbst zu Verpackung, Lieferzeit
etc. Wo gibt es zu unserem Tanz eine Verbraucherseite, wo wir anmerken können,
wie uns die letzte Milonga respektive der absolvierte Tangokurs gefallen haben?
Im
Gegenteil: Als ich es letztes Jahr wagte, eine mir unsinnig erscheinende
Veranstaltung zu karikieren, prasselte eine Flut von Verwünschungen über mich
herein, als hätte ich Mohammed persönlich beleidigt. In welchen Zeiten (und Kulturkreisen)
lebt diese Tangoszene eigentlich mental?
Wenn
man schon mal was sagt, dann selbstredend, ohne seine Person preiszugeben –
gerade erreichte mich auf meinem Blog wieder eine entsprechende Anfrage eines
offenbar Leseunkundigen. Beim Angegriffenen dagegen hat man kaum Skrupel: Warum
sachlich, wenn es auch persönlich geht? Bekanntlich habe ich ein böses Buch
geschrieben, übe auch sonst öfters Kritik und bin ein schlechter Tänzer. Das
muss doch reichen…
Ich
werde dennoch bei meiner Linie bleiben: Je kritischer ein Beitrag, desto mehr
versuche ich, den Adressaten zu verschleiern – Ausnahmen gestehe ich mir
gelegentlich zu, falls es gar zu arg ist und die andere Seite mit dem
Publizieren begonnen hat. Widerspruch per unanonymem Kommentar ist natürlich
stets möglich und sogar erwünscht! (Obwohl – reizen würde sie mich schon, die
digitale Bewertungsliste süddeutscher Tangoaktivitäten – man soll bekanntlich
nie nie sagen…)
Man
könnte ja auch analog miteinander verkehren: Aber offenbar ist der
Gesprächsfaden zwischen „Tango-VIPs“ und „Fußvolk“ längst gerissen. Letzteres
marschiert brav zu den Tangoabenden und lässt sich von vollgestopften
Garderoben über wackelnde Plastikstühlchen (meist noch in Unterzahl) bis zu
(auch tontechnisch) unsäglichen Musikprogrammen brav und stumm wirklich alles
bieten – und kein Veranstalter kommt auf die Idee, einmal ein Feedback zu
organisieren (und wenn es nur Wunschzettelchen oder ein Fragebogen plus
Briefkasten wären). Nein, gegessen wird, was auf den Tisch kommt!
„Jeder Veranstalter
hat das Recht, Musikrichtung und Spielregeln zu bestimmen.“ Dieser Standpunkt ist
sicherlich legal, allerdings ebenso kaltherzig, ausgrenzend und spalterisch. „Geht doch rüber, wenn es euch hier nicht
passt!“ Diesen Slogan eines aufgebrachten, reaktionären Kleinbürgertums
habe ich als „Alt-Achtundsechziger“ noch gut im Ohr – und es schüttelt mich
heute genauso wie damals. Konservative, so meine durchgehende Erfahrung,
diskutieren nicht gern. Mal kurz Dampf ablassen reicht. Gerade erst bat mich
ein Blogger-Kollege um einen Gefallen (den ich ihm selbstredend tat), um
anschließend meinen Argumenten mit der Begründung auszuweichen, sie seien ihm
zu doof und unter Niveau.
Natürlich
vergrößert es das Elend, wenn gefühlte neunzig Prozent aller Tangobesucher D‘
Arienzo nicht von Di Sarli unterscheiden können und Namen wie Lidia Borda,
Susana Rinaldi oder Anja Stöhr noch nie gehört haben. Dem steht eine kleine,
aber in Sachen traditioneller Tango bestens informierte Minderheit gegenüber,
welche per Expertenstatus längst die Lufthoheit über deutschen Milongas erobert
hat. Wissen ist halt Macht – und keine Ahnung haben macht schon etwas. Was man
nicht kennt, kann man sich auch nicht wünschen!
Der Unterschied zwischen beiden Fraktionen besteht ja darin, dass moderne Tangotänzer eine Milonga auch besuchen, wenn dort Traditionelles gespielt wird, während die Gegenseite eine Veranstaltung schon meidet, wenn da auch nur eine zeitgenössische Tanda erklingt.
Der Unterschied zwischen beiden Fraktionen besteht ja darin, dass moderne Tangotänzer eine Milonga auch besuchen, wenn dort Traditionelles gespielt wird, während die Gegenseite eine Veranstaltung schon meidet, wenn da auch nur eine zeitgenössische Tanda erklingt.
Schon
lange hat die altbackene Spezies ihre Lexikonkenntnisse vom historischen Tango
zum Kult erhoben und die Tangoschulen, DJ-Stellen und Vorstandsposten in
Tangovereinen erobert. Die Vertreter einer größeren musikalischen Vielfalt
lässt man dann elegant und möglichst geräuschlos hinter den Kulissen
abschmieren. Warum? Weil die blöd genug sind, nicht ebenso bestimmend und
dogmatisch aufzutreten! Freilich, es kann ja jeder seine eigene Milonga
aufmachen… Diese Einstellung pflegten wir zu APO-Zeiten als „scheißliberal“ zu
bezeichnen.
Nun
möchte ich fürs neue Jahr keineswegs zu einem „Kulturkampf“ aufrufen. Mehr
Dialog aber halte ich für dringend nötig. Es bieten sich dafür viele
Möglichkeiten – man muss dem DJ ja nicht die Kopfhörer von den Ohren reißen und
Otros Aires-Titel hineinbrüllen. Und mir ist ebenso klar, dass der
Einstellungswechsel in den oberen Etagen sich inzwischen auch in der breiten
Mehrheit der Tangotänzer spiegelt. Viele, die eine buntere Musik und
spannendere Tänze wollten, sind längst abgewandert. Aber auch eine
Minderheit kann, ja muss sich artikulieren – und eine Abstimmung zu verlieren
ist weniger schlimm als gar keine zu bekommen.
Können
wir den Tango noch aus der „Law and Order-Sicherungsverwahrung“ befreien? Den
Rentnertanz wieder in das verwandeln, was uns einst begeisterte: die
Faszination einer freien, fantasievollen Gestaltung? Den „Muff von tausend
Jahren“ aus gestreiften Anzügen, überkommenen Rollenbildern und öden Playlists
verjagen?
Ich
werde das jedenfalls auch 2016 weiter versuchen – und ich habe einen echten
Namen und ein Gesicht. Vielleicht finden sich ja doch noch einige, die sich
nicht mit fadenscheinigen Ausreden, welche ausbuchstabiert stets das Wort
„Feigheit“ ergeben, hinter Pseudonymen verstecken. Wir leben in einer Zeit und
in einem Land, wo – selten genug – freie Meinungsäußerung nicht automatisch mit
der Todesstrafe geahndet wird! Die Vergangenheit war schon mal schlechter…
Und
wenn sich kaum einer trauen sollte – na gut – habe ich halt ein
Alleinstellungsmerkmal mehr. Anstoßen kann man ja nicht nur mit Sekt!
AntwortenLöschenLieber Gerhard Riedl, in Ihrem Blog vom 1. Januar wünschen Sie sich, dass sich die schweigende Mehrheit der Milongabesucher mehr äußern möge. Weiterhin schreiben Sie, dass der Dialog völlig zum Erliegen gekommen sei. Sie wundern sich darüber und geben als Gegenbeispiel die Kundenrezensionen von Amazon an, wo munter sogar über die Verpackung diskutiert wird.
Das braucht nicht zu wundern - diese Schreiber müssen in der Regel nicht befürchten, sprachlich zerlegt zu werden.
Wenn Argumente inhaltlich keinen Wert haben, sondern grammatikalisch zerpflückt werden, vergeht einem oftmals die Lust am Schreiben. So geschehen zum Beispiel bei einem meiner Beiträge, wo es dann nicht mehr um das Lehren der großen Base ging, sondern um ein Akkusativproblem.
Liebe Grüße
Michael
(tango-X.com)
https://www.facebook.com/groups/220377800308/permalink/10153615538775309/?comment_id=10153617745865309&reply_comment_id=10153617748995309&offset=0&total_comments=16¬if_t=group_comment_mention
Lieber Michael,
AntwortenLöschenalso, in den Kommentaren zu Amazon-Rezensionen geht es teilweise so robust zur Sache bzw. zur Person wie im schönsten Tangoforum! (Nicht in meinem, da achte ich bekanntlich auf ein Mindestmaß an Respekt.) Schlimmstenfalls wird man dann bei falschen Angaben sogar zu Schadenersatz verurteilt.
Beim damaligen Facebook-Diskurs ist mir der Bezug zu meinem Neujahrsartikel allerdings nicht klar. Was Sie gepostet haben, war doch kein Diskussionsangebot an Ihre Schüler (oder andere) zum Sinn der Base, sondern eine Veranstaltungswerbung.
Mich hätte jedenfalls die grammatikalische Ironie eines Thomas Kröter (grade von dem) nicht gestört – ich bin da im Netz viel Schlimmeres als Replik auf meine Texte gewohnt. Und wenn es Ihnen um inhaltliche Auseinandersetzungen geht: In meinem Beitrag „Das Kreuz mit der Basse“ (25.4.15) habe ich zu dem Thema Stellung bezogen. Sie hätten gerne einen Kommentar posten können.
Zudem hat man doch wohl als Tangolehrer und –veranstalter auch analoge Möglichkeiten, mit Schülern bzw. Gästen ins Gespräch zu kommen. Die sollte man nutzen.
Vielen Dank und beste Grüße
Gerhard