Meinung und Wahrheit
Der Berliner Tango-Blogger Thomas Kröter hat neulich bekannt, er stöbere gerne in den alten Artikeln des beinahe brach liegenden Blogs „Tangoplauderei“. Zwei der früheren Schöpfungen von Hausherr Cassiel hat er sogar verlinkt.
Der fand solches Tun (ganz im Wortsinne seiner Seite) überflüssig: „So alte Artikel würde ich ja selbst nicht mehr von mir lesen wollen. Damals habe ich wahrscheinlich unbekümmerter geschrieben.“ Tja, kann man so sagen…
Auch ich geriet neulich auf einen alten Artikel meines Blogs, welcher plötzlich wieder viele Leser fand (warum auch immer). „Meinung und Wahrheit“ nannte ich den Beitrag vom Dezember 2015.
Ich habe darin jene Diskussionsweise beschrieben, welche Herr Cassiel „unbekümmert“ nennt. Da ich genau diesen Punkt für topaktuell halte, habe ich heute (22.4.21) meinen Artikel überarbeitet. Die Zitate sind im Wortlaut unverändert:
Auf dem seit langer Zeit aufgelösten Forum „tanzmitmir“ fanden gerade im Tangobereich früher oft tränentreibende Debatten statt. Hier eine Diskussion aus dem Jahre 2011. Ein Teilnehmer hatte Cassiels Blog „Tangoplauderei“ entdeckt und empfahl es den Lesern. Der ergriff sofort die günstige Gelegenheit, seine Herzensthemen anzusprechen und zu verlinken. Ich zitiere mal:
tanguero H: „Enthält viele interessante Themen/Unterseiten… Besonders anregend finde ich die Hinweise auf Tangos und ihre Besprechung und die sich manchmal anschließende Diskussion -- jede Woche ein neuer Tango (so er das schafft...)“
Cassiel: „Ich bedanke mich herzlichst für die freundliche Empfehlung. Darf ich vielleicht noch auf ein paar Artikel hinweisen, die ich wichtig fände?
Da wäre zunächst der Beitrag zum Cabeceo. Es geht um ein anderes Verfahren, jemanden zum Tanz aufzufordern. Das ist im arg. Tango sehr verbreitet. Hier in Deutschland gibt es da noch Defizite. (…)
Ich möchte auch an dieser Stelle Tanguer@s im deutschsprachigen Raum Mut machen, mit dem Bloggen zu beginnen. Ich finde, das hätte der Tango verdient.“
Außer natürlich, dies fällt einem „Pörnbacher Pensionisten“ ein – dann ist es natürlich überflüssig bis verwerflich!
Interessant ist hier die versteckte Wertung. Man könnte ja einfach schreiben „Ich bin für den Cabeceo“. Aber nein, man betreibt eine scheinbare Objektivierung: Was „sehr verbreitet“ ist (und das 2011!) muss gut sein – und wo dies nicht der Fall ist, bestehen „Defizite“.
Gerhard: „Seitens des Mannes ist es natürlich unsinnig, mittels Blickkontakt aufzufordern. Er sollte schon den Mut aufbringen, sich zu der Lady bewegen und mit einem einfachen ‚Tanzen wir?‘ seine Absicht kundtun. (Vorherige freundliche Blicke Richtung Dame sind o.k., aber das ist noch keine Aufforderung) … Bei Leuten, die sich kennen, hat ein Blickkontakt mit leichter Kopfbewegung Richtung Tanzfläche natürlich einen gewissen Charme. Kommt wie wohl fast alles im Leben auf die Ausführung an.“
Ich lege Wert darauf, dass dieser „Gerhard“ wohl aus Wien, aber bestimmt nicht aus Pörnbach stammt! Aber lustig ist die Namensgleichheit schon…
Cassiel: „Das ist eine mir ganz neue Sichtweise der Situation. Woher beziehst Du denn diese Erkenntnis? Natürlich kann jeder Mann per cabeceo auffordern! Zur Dame zu gehen und verbal um einen Tanz zu bitten kann man auch als Nötigung auffassen. Wie soll denn bitte die Dame freundlich ablehnen?“
Aha: „Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt…“ (§ 240 StGB) Na gut, vielleicht hat Cassiel dies ja auf sich bezogen: Wäre es dann eher ein „empfindliches Übel“, ihm einen Korb zu geben oder mit ihm zu tanzen?
Bezeichnend wieder: Die Sichtweise des Gegners ist neu und muss hergeleitet werden, die eigene jedoch völlig normal.
Gerhard: „Ich garantiere: Bei mir hat sich noch nie eine Lady genötigt gefühlt. Meine Erkenntnis beziehe ich aus der Praxis. Eine verbale Aufforderung zum Tanzen als Nötigung aufzufassen wäre grotesk. Mit freundlicher Ablehnung haben die Damen in Wien kein Problem, und wenn dieser bei mir eher seltene Fall eintritt, fällt mir keine Perle aus der Krone. Nachdem mein Verhalten offensichtlich auch von den Ladies in Berlin, München, Köln, Frankfurt, Zürich......akzeptiert wurde, verwundert mich Dein Einwand ein wenig.“
Mei, Gerhard, du kannst ihm doch nicht mit der Realität kommen! Was sind schon die vielfältigen Erfahrungen eines Tänzers gegen die hehre Doktrin?
Cassiel: „Das ist nach meinem Kenntnisstand grober Unfug – egal, wo Du überall schon getanzt hast und unabhängig davon, ob sich Deine Tanzpartnerin nun beschwert hat oder nicht. Es mag sein, dass Du Deine Sicht der Situation des Aufforderns aus der Praxis beziehst. Das deckt sich aber nicht mit dem üblichen Verständnis des Cabeceos. Natürlich kann eine Tanguera auch aktiv in der Aufforderungssituation werden (das möchte ich gar nicht bezweifeln), aber der Tanguero sollte sich ebenfalls an dieses feine Ritual aus Buenos Aires halten. Und so passiert das überall auf der Welt. Nur in Europa wird es schwierig.“
Na eben! Die Praxis spielt keine Rolle, sondern hat sich dem „üblichen Verständnis“ eines hier propagierten Rituals anzupassen. Dass dieses umstritten und nicht einmal historisch eindeutig ableitbar ist, interessiert nicht. Und Cassiel, welcher zwar nach eigenem Bekunden noch nicht mal in Buenos Aires war, weiß natürlich, was „überall auf der Welt“ passiert – nur nicht in Europa (anfangs war es noch Deutschland, aber das sehen wir geografisch großzügig). Das grundlegende Argumentationsmuster lautet halt: „Wir sind die Mehreren, wir sind die Schwereren – also passt euch gefälligst an!“
Zudem, und das habe ich bei meinem Bloggerfreund oft genug erlebt, packt er jetzt – da genervt – allmählich die „Gutsherrenart“ aus und verwendet den patzigen Begriff „grober Unfug“ für das, was nicht mehr ist als die Meinung seines Gesprächspartners.
Gerhard: „Wir leben aber in Europa. So faszinierend der argent. Tango auch ist, ich bin ein Gegner, ALLES was in B.A. üblich ist, abzukupfern. Jede(r) soll so agieren wie es ihrer/seiner Persönlichkeit entspricht und natürlich prüfen, wie es ankommt.“
Cassiel: „Du bist aber ein besonders hartnäckiger Fall, lieber Gerhard. (…) Ich finde es schön, wenn Du so aufforderst, wie es Deiner Persönlichkeit entspricht, es wäre allerdings überaus freundlich von Dir, wenn Du hier im Forum fragenden Anfängerinnen die Dinge korrekt erklären könntest.“
Ebenfalls ein netter rhetorischer Trick, der mir sattsam bekannt ist: Nicht derjenige, welcher in unbeirrbarem Sermon seine Dogmen verkündet, ist ein „hartnäckiger Fall“, sondern einer, der sich auf seinen individuellen Geschmack beruft. Aber den hat es nicht zu geben – wie sollten sich sonst die anerkannten Tango-Exegeten über Wasser halten?
Eine heftige Zumutung ist dann noch die Forderung, eine umstrittene Tatsache den Anfängern „korrekt“ zu erklären – wiederum eine geschickte Umdeutung von „Meinung“ in „Wahrheit“!
Gerhard: „Zu Buenos Aires: andere Länder, andere Sitten. Diese Stadt hat ihre positiven, aber auch ihre skurrilen Seiten. Eine Frau, die gemeinsam mit einen Mann ein Lokal betreten hat, wird dort – auch wenn sie NICHT neben ihm sitzt – grundsätzlich nicht aufgefordert. Ich kenne Paare, die daher die Milongalokale in B.A. nie gemeinsam betreten.
Zu den Anfängern/Anfängerinnen: Ich empfehle ihnen nur jene Dinge, mit denen sie auch tatsächlich in der Praxis was anfangen können, und das kann durchaus von gewissen Ritualen abweichen. Ein nützlicher Tipp ist: Konzentriert Euch auf das „Wesentliche", macht nur das, was für Euch persönlich nützlich ist, und vergesst die Dogmen!“
Da Cassiel damals auch von dritter Seite Widerspruch erhielt, hat er die Debatte abgebrochen.
Ich habe dies an vielen Beispielen belegt: Die Schärfe und den Dogmatismus haben über Jahre hinweg fast immer die Konservativen im Tango in die Debatten gebracht. Wie man vor allem an den grün unterlegten Textstellen sieht:
Stets vertrat man selber die Wahrheit, der Kontrahent jedoch lediglich eine Meinung, welche er zu begründen, ja zu rechtfertigen hatte.
Es ist letztlich die Logik, welche wir heute bei den „Querdenkern“ finden. Auf meinem Blog dagegen findet man niemals „Wahrheiten“, sondern individuelle Standpunkte.
Cassiel hat nun im Gespräch mit Thomas Kröter offenbart, seit Wochen an einem neuen Artikel zu sitzen. Ich bin gespannt und versichere: Er darf sich meiner liebevollen Besprechung sicher sein.
Der Herr hat in vielen Jahren im Tango einen gewaltigen Flurschaden angerichtet. Eine Renaissance würde auf meinen erbitterten Widerstand stoßen. Da teile ich eine Mentalität, welche Dieter Hildebrandt einmal Herbert Wehner in den Mund gelegt hat:
„Ich bin nicht nachtragend, aber ich vergesse nichts!“
Und was Thomas Kröter betrifft: Ich hätte ihm seine Leidenschaft auch gerne verziehen…
https://www.youtube.com/watch?v=dxN8nmHcVwY
Vor ein paar Wochen hatte ich einen kleinen Gastausflug zu „tanzmitmir“. Aber ich finde den Ton dort zu giftig und aggressiv. Diskussionen, die zunächst ganz interessant und vielversprechend erscheinen, werden bald mit spitzen Seitenhieben gegen andere Forumsteilnehmer gewürzt, nach dem Motto: "Habe ich nicht schon tausendfach bewiesen, dass Du keine Ahnung hast..." Das vergiftet die Atmosphäre und schreckt alle ab, die einfach nur mal diskutieren wollen. Ich lese dort gar nicht mehr.
AntwortenLöschenDie Strategie, eine eigene Meinung als eine gebene Wahrheit zu verkaufen, findet sich leider nicht nur dort, sondern auch in der Politik und in vielen anderen Bereichen. Es ist unredlich, Meinungen nicht kenntlich zu machen. Ich wundere mich immer, dass so viele Leute das nicht durchschauen oder einfach so hinnehmen.
In meinem privaten Umfeld wurde ich darauf hingewiesen, dass es ein solches Ablaufschema natürlich nicht nur im Tango gibt. Die üblichen Stufen:
AntwortenLöschen1. Eine subjektive Vorliebe wird als objektive Tatsache hingestellt, z.B. statt „Ich mag Grün“: „Grün ist die schönste Farbe“.
2. Dem Einwand, dass dies doch dem individuellen Geschmack vorbehalten sei und man Rot lieber möge, wird wie folgt begegnet: „Es mag ja sein, dass du es so siehst, aber du solltest nicht die Tatsachen verdrehen.“
3. Bleibt der andere bei seiner Vorliebe, wird man der „Sturheit“ bezichtigt: „Typisch, dass du unbelehrbar an deinem absurden Rot festhältst.“
4. Die andere Meinung wird verbal abqualifiziert: „Deine Einstellung ist grober Unsinn.“
5. Übergang von der Sache zur Person: „Wer Rot bevorzugt, hat keinen Geschmack.“
6. Soziale Ausgrenzung: „Die meisten bevorzugen Grün, du stehst mit deiner verqueren Einstellung allein da.“
7. Übergang ins Psychopathologische: „Die Anhänger von Rot haben ein Problem mit ihrer Aggressivität. Du solltest dich in Therapie begeben.“
Mein Tipp: Perspektivenwechsel – häufig macht einem der andere Vorwürfe, die eigentlich gegen ihn selbst gerichtet sind, und die er auf den Gegner projiziert!
Sehr schöner Post...vor allem die Zwischenkommentare.
AntwortenLöschenVielen Dank - man beachte auch den Schlusskommentar...
AntwortenLöschenEin Capeceo auf einem Faschingsball in Ebensee am Traunsee im Salzkammergut oder die Evolution ähnlicher Lösungen bei ähnlichen Umweltbedingungen in der rezenten Anthropologie
AntwortenLöschenEingangs erkläre ich an Eides statt, dass sich die folgende Geschichte genau so zugetragen hat, wie ich sie beschreibe. Es folgt die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr mir Tanzen das Zweitwichtigste im Leben ist, noch vor dem Musizieren, dem Skifahren und der Teilnahme am Brauchtum in meinem Heimatort Ebensee.
Lediglich meine Familie reiht sich noch vor dem Tanzen ein und diese steht ja direkt proportional mit dem anderen, Erstwichtigsten in Verbindung. Aber auch zwischen den Erstwichtigsten samt Familie und dem Zweitwichtigsten besteht eine enge Verbindung, weil wir alle entweder beruflich und in der Freizeit oder als Hobby tänzerisch tätig und unterwegs sind.
So ist es auch kein Wunder, dass es jede und jeden in unserer Familie auch auf die Bälle zieht, gute Musik vorausgesetzt.
Einschub: ich muss gestehen, dass ich auf solche Bälle noch viel lieber gehe, seit ich ein bisschen Tango Argentino kann und dann den ganzen Abend zu Nontangos tanze. Vielleicht mit zwei Ausnahmen, wenn sich die Musik bemüht einen sogenannten Tango zu spielen, wie zum Beispiel Capri Fischer oder Tanze mit mir in den Morgen (Für die Preussen: das war ein Tango-Scherz).
Weiter in der Geschichte fortfahrend möchte ich erwähnen, dass es bei uns vor allem auf Maskenbällen auch üblich ist, dass Paare getrennt unterwegs sind. Vielleicht um sich im Trubel des Balles zufällig zu finden oder auch erst wieder zu Hause, wer weiß das schon so genau.
AntwortenLöschenVor Jahren machte sich meine Frau mit einer Gruppe von Freundinnen auf, viel Spaß auf einen Maskenball in Ebensee zu haben. Ich gab vor gemütlich Zuhause zu bleiben.
Längst plante ich unerkannt auch den Ball zu besuchen. Ich hatte die glorreiche und aufregende Idee, unerkannt mit meiner Frau zu tanzen. Unerkannt nicht von den anderen Ballgästen, denn das ist bei uns in Ebensee schon eine Übung für kleine Kinder beim Kinderfasching. Sondern unerkannt von einer Tänzerin mit der ich schon seit Jahrzehnten viele viele Tänze genießen durfte, oder wo manchmal weniger beiderseitiger Genuss entstanden ist, wie das in einer Ehe eben das eine oder andere Mal vorkommen kann.
Das Verstehen sicher die langjährigen Ehepaare, nicht so aber unser hoch geschätzter Erzengel. Er dürfte heillose Angst vor einem beziehungsmäßig nicht so gut gelungenen Tanz haben. Woraus sich auch ein Teil seiner Angst vor Körben erklärt. Überhaupt dürfte hier jener durch alle seine textlichen Ausführungen hindurch schimmernde extrem kleine Nukleus seines Selbstbewusstseins herrühren. Er ist damit sicher kein Einzelfall unter den Tangueros, aber dazu noch später.
Nach der Abfahrt der Damengruppe machte ich mich an die Verkleidung, um auf dem Ball aufzutauchen. Wie bei uns üblich fallen diese extrem wichtigen Entscheidungen erst im letzten Augenblick: nur das macht es spannend, aus der abendlichen Improvisation und dem Zeitdruck heraus ein paar Kleidungsgegenstände und Utensilien so zu positionieren und zu verwenden, dass am Schluss eine gelungene Verkleidung entsteht.
Dieser Vorgang der Suche nach Kostümteilen, Requisiten und anderen kreativen Details kann bis zu drei Stunden nach Beginn des Balles dauern. Irgendwann zwischen 10 und 11:00 Uhr abends sollte man aber dann doch im Ballsaal ankommen. Meist schließt sich noch eine Runde Kontakt und Schmäh mit den Leuten an, bevor man die Tanzfläche erreicht.
Nachdem ich mir also mit dem Ziel, meine Frau unerkannt zum Tanzen aufzufordern, gemeinsam mit einem alten Freund die Haare auf dem Handrücken rasiert hatte, den Ehering sicher verwahrte, eine alte Hose und einen Rock angezogen hatte, der auch schon bessere Zeiten gesehen hat, ging ich daran, mein Gesicht unkenntlich zu machen.
AntwortenLöschenEs war keine Maske im Haus, vor allem keine passende und meine original Ebenseer Holzmaske ist entsprechend der Tradition nicht für einen Maskenball sondern für den einzigartigen Fetzenzug am Faschingsmontag vorgesehen.
So fiel im letzten Moment die Entscheidung, mich als Bankräuber zu verkleiden und einen Nylonstrumpf über den Kopf zu ziehen. Bei einem ausreichend engen Strumpf etwa aus dem Abschnitt für das Wadl –hochdeutsch Unterschenkel– entstehen leichte Verdrückungen im Gesicht, die gerade noch auszuhalten sind, die es aber fast unmöglich machen, das Gegenüber zu erkennen. Auf dem Weg nach Ebensee kaufte ich mir Ihnen im Gasthaus noch als militanter Nichtraucher ein Packerl Tschick. Für unsere nicht bajuvarischstämmigen: eine Schachtel Zigaretten.
Natürlich hatte ich Schuhe angezogen, die nicht aus meinem Alltagsfundus stammten und um mich auch nicht durch den Gürtel zu verraten, hielt ich die Hose mit einer Schnur an den Hüften.
Im Ballsaal des Rathauses in Ebensee angekommen sah ich sofort die Frauengruppe meiner Frau im Foyer. Nun stellte sich das Problem einer geeigneten Annäherung, wie sollte ich sonst meine Frau zum Tanzen auffordern. Meine Möglichkeiten von Mirada und Cabeceo waren etwas eingeschränkt. Natürlich nicht der Cabeceo, aber die Mirada, die ja notwendigerweise dem Cabeceo vorausgehen muss.
Wie sollte ohne Mirada die auserwählte erkennen, dass der Cabeceo ihr gegolten hätte.
Ganz zu schweigen davon, dass sich diese Methode beim Eintritt in den Ballsaal und auch bis zum entscheidenden Zeitpunkt der Aufforderung zum Tanz nicht gekannt habe.
So gesellte ich mich ganz beiläufig an den Rand der Damengruppe, was ja auf einem Maskenball ganz ohne Komplikationen und Probleme möglich ist. Im geeigneten Augenblick sprach ich eine Freundin unserer Familie aus der Frauengruppe an und weihte sie ein. Ihr überraschtes und ungläubiges Lachen fiel nicht weiter auf, es ist ja der Sinn eines Maskenballs sich zu unterhalten. Ich verbuchte es als einen ersten Punkt für mich, dass der verbale Kontakt mit mir offenbar erheiternd wäre.
AntwortenLöschenNachdem ich auf diese Weise Anschluss an die Damengruppe gefunden hatte wanderten wir langsam in Richtung eines Tisches im Ballsaal. Über die Einweihungsworte an die Freundin unserer Familie hinaus, bei der ich ihr meine Identität entdeckt hatte, wollte ich aus verständlichen Gründen nicht in weitere Konversationen eintreten. Zu groß war die Gefahr, an der Stimme und an der Sprechweise von meiner Frau erkannt zu werden.
Hier gibt es zwar in unserem Faschingsbrauchtum die Möglichkeit mit stark verstellter Stimme zu sprechen, ich muss aber gestehen, dass ich diese Kunst trotz aller Liebe zum Brauchtum meines Heimatortes nicht so gut beherrsche um nicht doch erkannt zu werden. So beließ ich es beim Schweigen in der Gruppe. Deshalb musste ich es auch aushalten, dass meine Frau zu meiner Mitwisserin meinte: Barbara, was hast Du da heute für einen Deppen mitgebracht, der spricht ja kein Wort.
Den Eindruck des Unfähigen habe ich dann noch verstärkt, weil ich mit dem Plastik an der Zigarettenschachtel nicht sehr geübt umgegangen bin. Dann habe ich noch beim Versuch, ganz lässig mit dem Finger auf den Boden der Zigarettenpackung zu klopfen, in einem wunderbaren Fächer alle Zigaretten zugleich auf den Tisch heraus geschossen. Mir tatsächlich Eine anzurauchen, habe ich dann unterlassen, womöglich wäre mit einem Hustenanfall meine ganze Aktion schon vor Erreichen der Tanzfläche gemeinsam mit meiner Frau beendet gewesen.
Aber genau vor diesem Problem stand ich jetzt: damals wusste ich noch nichts von Mirada und Cabeceo. Und so hatte ich auch keine Ahnung, wie ich ohne Worte meine Frau zum Tanzen auffordern sollte, die mir am Tisch gegenüber saß. Noch dazu war ich ja von ihr offenbar als der mitgebrachte Depp eingeordnet worden.
Es stellten sich mehrere Probleme, die so ähnlich auch im Gehirn unseres Erzengels beim Auffordern auf einer Milonga ablaufen dürften: wird die Erwählte, wenn sie mich vielleicht wirklich für einen Deppen hält, überhaupt mit mir tanzen wollen. Wie kann ich meine Absicht bemerkbar machen, wenn ich nicht sprechen darf, entweder um mich nicht zu erkennen zu geben (wie in meinem Fall), oder um zu erkennen zu geben, dass ich mich den unglaublich sinnvollen und gar nicht einer Nötigung des Tänzers entsprechenden Regeln auf diesen bewussten Milongas unterwerfe, damit ich auch dazugehören darf.
AntwortenLöschenAber zurück zu meinem Problem: wollte ich wirklich herausfinden, ob meine Frau mit einem Deppen, nur durch Aufforderung mit Blickkontakt und einem Kopfnicken oder einem Fingerzeig Richtung Tanzfläche tanzen würde?
Ja, ich musste diese unerwartete Frage auf mich zukommen lassen, wenn ich einmal unerkannt mit meiner Frau tanzen wollte, wozu ich eigentlich hierher gekommen war.
So stand mir die Erfahrung einer zweifachen Bestätigung von Überlegungen aus dem Gedankengebäude der Evolutionstheorie bevor: gleiche Herausforderungen an Lebewesen aus der Umwelt führen zu ähnlichen oder gleichen Lösungen im nächsten Evolutionsschritt. Und: manche kleinen und großen Schritte in der Evolution treten an mehreren Stellen der Erde zu etwa derselben Zeit auf: der Biologe und der Geologe (und natürlich auch deren weibliche Entsprechungen) reden in diesem Fall von Fulguration, (Lat. fulgur „Blitz“) das ist die von Konrad Lorenz verwendete Bezeichnung für das plötzliche Entstehen neuer Eigenschaften in einem komplexen System.
Es sei angemerkt, dass Konrad Lorenz jüngst die Ehrendoktorwürde in Salzburg wegen seiner Nazimitgliedschaft aberkannt worden ist. Nach dieser Anmerkung, die der Vollständigkeit halber notwendig ist, wieder zurück zu meiner Fulguration auf dem Faschingsball im Rathaussaal in Ebensee.
AntwortenLöschenUnter dem Druck des Environments, dass ich ja nicht reden konnte um nicht erkannt zu werden, mit meiner Frau aber tanzen und die ganze vorangegangene Mühe nicht umsonst sein lassen wollte, blitzte die rettende Fulguration durch mein Gehirn:
Ich blickte meiner Frau so weit das von unter dem Nylonstrumpf hervor überhaupt möglich war, fest in die Augen und hatte damit ganz eigenständig in Ebensee und ganz ohne Tango Argentino noch einmal die Mirada erfunden. Nun war es zur Erfindung des Cabeceo für mich nur mehr ein kleiner Schritt. Ein Kopfnicken in Richtung der Tanzpaare und um kein Missverständnis aufkommen zu lassen richtete ich auch nach der Krümmung der vier anderen Finger den ausgestreckt verbliebenen Daumen meiner linken Hand in Richtung Tanzfläche.
An meine Gefühle in den nächsten Sekunden kann ich mich nicht mehr sehr gut erinnern: Meine Frau stand ohne Zögern auf um mit dem Deppen zu tanzen. Ich führe das auf das höfliche und zutiefst mitleidfähige Wesen meiner Frau zurück. Und auf ihren freien Willen, eine Nötigung liegt ja bei Cabeceo und Mirada nicht vor. Sie hätte ja auch beharrlich wegschauen können, auch wenn sie mir nur eineinhalb Meter am Tisch gegenüber saß.
Auch an meine Gedanken auf dem Weg zur Tanzfläche kann ich mich nicht mehr erinnern. Auf dem Weg durchs Gewühl der Paare, eine richtige Ronda mit zwei Spuren kennt hier niemand, ging mir noch die Möglichkeit der Verkleidung durch Gesten durch den Kopf.
In vielen Gesprächen auf anderen Bällen habe ich gemeinsam mit meiner Frau festgestellt, dass das ausgiebige hin- und Herwackeln mit dem Oberkörper eine der unmöglichsten Tanzgewohnheiten sei. Womit sich auch sogleich meinen Tanz begann.
Nach gemeinsamer Überzeugung seit Jahrzehnten gibt es noch ein ganz unmögliches Detail für den Abrazo, die Umarmung im Tanz: den Griff des Herren mit seiner rechten Hand auf die linke Hinterbacke der Frau.
AntwortenLöschenNachdem ich der Verkleidung durch Gesten mit dem hin und her Wackeln des Oberkörpers im Rhythmus noch einen kräftigen Griff mit meiner rechten Hand auf die linke Hinterbacke meiner Frau hinzugefügt hatte, tanzten wir los. Ich hab bis heute nicht herausgefunden, ob der Tanz aus Höflichkeit oder aus Spaß so flüssig, rhythmisch und lustig abgelaufen ist.
Er dürfte aber unsere Beziehung nur gefördert haben, die jetzt schon zweiundfünfzig Jahre (an)hält.
Im Laufe der Tanda habe ich mich dann zu erkennen gegeben.
Die Zuflucht zu Mirada und Cabeceo nehme ich nur in solchen Ausnahmesituationen und wenn das Gewühl im Saal so groß ist, dass ich mich weder durch direkte Gespräche noch durch Zuruf mit meinen Tanzwünschen verständlich machen kann.
Wir haben hier im Salzkammergut nicht nur das ausreichende Selbstbewusstsein eine Tanzpartnerin mit Worten um einen Tanz zu bitten, übrigens zu BITTEN, wodurch von Nötigung im Sinne unseres Erzengels keine Rede sein kann. Wir haben auch schon bei der ersten Tanzstunde mit fünfzehn erfahren, dass es jeder Dame freisteht, zu dieser Bitte nein zu sagen.
Nach ganz altmodischen Gepflogenheiten sollte sie dann die nächste Tanzrunde auslassen, um den abgewiesenen Tänzer nicht zu brüskieren. Diese einzige Rücksichtnahme auf das Selbstbewusstsein und die Psychologie der Männer ist aber heute auch kaum mehr üblich. Die Damen entscheiden ganz einfach mit Ja oder Nein ob sie tanzen wollen oder nicht. Uns ist es dann überlassen, ob wir uns bei derselben Tänzerin den Abend über noch zehn Körbe holen wollen, oder ob wir uns den anderen weiblichen Wesen zuwenden.
Aber jedenfalls gehen wir nach einer Absage nicht vors Haus und erhängen uns.
Um diese lange Geschichte zu einem Ende zu bringen möchte ich festhalten, dass ich bei Männern, die es in freier Rede und Gegenrede nicht schaffen, Frauen zum Tanzen zu bitten auch nicht die Eier vermute, Führende in diesem traditionellen Sinn im Tango Argentino zu sein.
Dann bleibt nur noch darauf hinzuweisen, dass für einen Tango Argentino ohne Führen und Folgen, nur im ständigen Dialog mit der Tänzerin, Männer gefordert sind, deren Selbstbewusstsein zumindest so weit reicht, dass sie eine Tanguera mit Worten um einen Tanz bitten und auch eine Absage verarbeiten können.
Lieber Peter,
AntwortenLöschenherzlichen Dank für die wunderbare Geschichte - wir haben uns köstlich amüsiert!
Ein Angebot: Schick mir doch solche Texte in Zukunft per Mail, ich veröffentliche sie dann gerne als Gastbeitrag.
Wir wünschen Dir und Deiner Familie schöne Feiertage und tolle Tänze im Neuen Jahr!
Liebe Grüße
Gerhard
Peter, herrlicher Text. Besonders gut hat mir der Satz mit den Eiern gefallen. Nach dem Intro plötzlicher Farb- und Tempowechsel die perfekte Pointe...knochentrocken, genau auf den Punkt. Chapeau.
AntwortenLöschenDer Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.
AntwortenLöschenDa der obige Kommentar anonym erfolgte, wurde er gelöscht.
LöschenAch ja..und als kleine Nachsätzin in Bezug auf gewisse Versuche, dort zu reparieren, wo nichts kaputt ist (ich meine natürlich das Begriffspaar Führen/Folgen): Ein(e) politisch korrekt Handelnde(r) des Jahrgangs 2015 ist vermutlich auch Veganer_*in und lehnt insofern Eier vermutlich sowieso ab...
AntwortenLöschenIch würde auch vorschlagen, nunmehr vom politisch unkorrekten Eier-Thema abzulassen, gell?
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