Roller-Ronda
Den folgenden Text stellte mir kürzlich ein Tangokollege
zur Verfügung. Das Problem: Er möchte nicht als Autor in Erscheinung treten.
Damit der Beitrag nicht anonym bleibt, übernehme ich
hiermit die volle zivil- und strafrechtliche Verantwortung für den Artikel –
und auch noch mit Impressum… Das dürfte doch reichen. Ich wünsche viel
Vergnügen beim Lesen!
Gemütlich
rolle ich in einer lauen Sommernacht auf der A 80 ohne Zeitdruck vor mich hin.
Es geht erst auf 22 Uhr zu. Für 22:30 Uhr weist der Hochglanzflyer den
Veranstaltungsbeginn aus. Noch Zeit, den Sonnenuntergang zu genießen, der mir
entgegenstrahlt. Wie umsichtig waren doch einst die Erfinder der Milonga !
Als
ich aus meinem Sekundenschlaf aufschrecke, sehe ich gerade noch rechtzeitig das
Ausfahrtschild „Rollerstadt“ an mir vorbeiziehen.
Dann
gestaltet sich alles ganz einfach. Überall Hinweisschilder zur „Milonga con
andadór“: Jetzt kann nichts mehr schiefgehen, meine Taschenlampe führe ich aus
einschlägiger Erfahrung immer mit. Bald biege ich auf einen riesigen Parkplatz
ein. Im Hintergrund eine wunderschöne ehemalige Fabrikhalle aus den goldenen
30-er bis 45-er Jahren, beschienen von einem Kerzenmeer. Sie liegt da, als ob
sie die untergegangene Sonne eingefangen hätte, umgeben von herrlicher
Landschaft, die zu einem Spaziergang einlädt.
Ebenerdig
rollen sie auch schon von allen Seiten hinein. Vorbei die Romantik, es gilt,
nicht unter die Räder zu kommen.
An
der Kasse bedeutet man mir, mein Rentenausweis gereiche leider nicht zu einer
Ermäßigung, da die Preise so kalkuliert seien, dass auch Karten zu vollem Preis
verkauft werden müssten. Ein Schwerbehindertenausweis ab 80 Prozent könne
kulanterweise zu einem gewissen Nachlass gereichen.
Kaum
habe ich diese Enttäuschung weggesteckt, kommt mir zu Ohren, dass der Profi-TJ
– der berühmte „El Platte“ war angekündigt –
auszufallen droht. Seine Direktmaschine aus BA habe Verspätung wegen eines
Pilotenstreiks.
Bei
seinem umjubelten Eintreffen gegen 23 Uhr gibt er sich im Hinblick auf diese
Berufsgruppe wenig verständnisvoll. Wenn sie für einen Ruhestand ab 55 streikt,
vor wie vielen Jahren hätte er dann bereits aufhören müssen? Schnell kommt es
ihm, dass momentan für längere Rechenspiele keine Zeit ist, schließlich müsse
er noch seine Schallplatte im Gepäck finden und dann den Soundcheck vornehmen.
Bei den modernen Anlagen bedürfe es einiger Zeit, um das authentische
Quietschen einzustellen.
Gelegenheit
für mich, doch noch bei einem der hochgepriesenen parallel laufenden Workshops
vorbeizuschauen.
Große
Enttäuschung an der Information. Der Body Awareness-Qi Gong-Alexander-Zen
Workout, seit Monaten ausgebucht. Wie sollen sich nun rechtzeitig die entsprechende
Lockerheit bei gleichzeitiger Spannung meiner Körpermitte und die authentischen
Schwingungen bei mir einstellen? Im Nähkurs für Tangokleidung sehe ich keinen
adäquaten Ersatz.
Da
gäbe es noch einen Platz im Mechanikkurs: „Wie stelle ich die richtige Achse
ein?“ Doch hier bräuchte ich einen eigenen Rollator, und am einschlägigen Stand
angekommen, kann ich nur noch den Abbau begutachten – ausverkauft!
Die
Schlange am baño unisex erscheint mir noch länger als am Bio-Trockenklo. Aber
ohne Händewaschen ?
Endlich
der magische Moment. Der spannende erste Blick in den Tanzsaal. Mich umfängt
sofort das einmalige Flair der Halle. Links nehme ich in Längsrichtung drei
Stuhlreihen wahr – ähnlich mussten dort dereinst die Fließbänder ihre Anordnung
gehabt haben. Die erste Reihe ist für die argentinischen Ehrengäste reserviert.
In der dritten Reihe nehme ich eiligst einen der wenigen Restplätze ein.
Jetzt,
oh welche Entzückung, kann ich sie gegenüber bewundern, ungeduldig in freudiger
Erwartung, in entsprechender Aufmachung und herausgeputzt für das besondere
Ereignis stehen sie da, ebenso in Dreierreihe, die Rollatoren.
Und
dann geht es auch gleich los. Nach kurzer Ansprache der adretten Veranstalterin
mit namentlicher Aufzählung aller zu erwartenden geladenen Ehrengäste kann
pünktlich gegen Mitternacht Meister Platte mit fesselnder Zeremonie zum ersten
Mal authentisch die Nadel auf den sich vielversprechend drehenden Plattenteller
setzen.
Sogleich
fliegen wilde Cabeceos hin und her, und magisch angezogen bewegen sich
strahlend und ferngesteuert die Rollatoren – gibt es davon beide
Geschlechter? – auf ihre Angehimmelten
zu. Und schon stehen sie, einander engumschlungen festhaltend, trotz
geschlossener Augen bzw. Scheinwerfer strahlend und schmachtend auf der Tanzfläche
– sie treten von Zeit zu Zeit verzückt und con corazón von einem Bein auf das
andere oder heben unvermittelt ekstatisch ein Rad. Dabei bewegen sie sich exakt
im Rhythmus der Musik, die nicht besser zur Tradition des alten Hammerwerks
passen könnte. Ihre Begeisterung steigt von Mal zu Mal, wenn der verehrte
Veteran die zum Stillstand gekommene Nadel wieder auf Anfang setzt.
Entgegen
der Annahme, die Mehrheit verharre auf der Tanzfläche, sind alle Stühle
besetzt, als ich vom Getränkeholen zurückkomme. Meine Bemerkung, ich bräuchte
mal eben meinen Tanzschuhbeutel, auf dem sie säße, nimmt die Träumende, wohl
aus ihrer Ekstase gerissen, deutlich säuerlich angefressen auf. Den Rest des
Abends werde wohl auch ich stehend verbringen müssen.
Plötzlich
geschieht es. Allgemeine, fast tumultartige Aufregung greift um sich. Da bewegt
sich doch tatsächlich etwas auf der Tanzfläche. Ungestüm drängt ein Tanzpaar
mit schier unbeschreiblicher Schrittlänge vorwärts. Kühn schwingt er jetzt
eines ihrer Beine um sein Spielbein, tritt gar zwischen ihren Schritt und
schwingt schließlich noch ihr Bein senkrecht zur Tanzrichtung höchst bedrohlich
gen Hallendach. Das kann nicht angehen! Diesem animalisch-dämonischen Treiben
muss ein Ende bereitet werden: Die Tanzfläche gerät in Bewegung, und nach einem
rastlos rumpelnden Rollatorrennen
gelingt es, die Übeltäter wirksam einzukeilen. Die rigorose Ruhestörung der
ruhig rollenden Ronda kommt, oh glückliche Rettung, zum Erliegen.
Kurz
darauf, gegen 2 Uhr, wird als Höhepunkt des Abends das orquesta tipica
„Airesbueno“ angekündigt. Als sie anheben zu spielen, erheben sich auch alle
anderen – endlich habe ich freie Platzwahl, jedenfalls in Reihe zwei und drei –
rollen auf die Tanzfläche und stehen dort in Ehrfurcht erstarrt ob eines Bandoneons
und weiterer Instrumente, die Klänge verursachen, die bis dato offenbar noch
niemand vernahm, handelt es sich ja auch um gänzlich unbekannte Komponisten,
„Pizzarolla“ oder so ähnlich klingt ein Name zu mir durch. Völlig entzückt und
entrückt bringen die Aficionados den Musikern in angemessener und gewohnter Art
standing ovations dar.
Durch
das Publikum so in Fahrt gekommen, erreichen die Akteure bereits nach zwanzig
Minuten das Ende ihres ersten Sets – noch längeres Stehen wäre den
Parkettfreunden auch nicht zuzumuten gewesen.
Folglich
bleibt nach dem Abgang der Idole die Tanzfläche annähernd leer. Freilich auch
nur, bis besagtes Nuevo-Paar die Situation zu nutzen trachtet und sich nochmals
auf die Bretter wagt. Im Handumdrehen mobilisieren alle ihre letzten Kräfte,
und alsbald kommt auch das Rote Kreuz zu seinem verdienstvollen Einsatz, um die
ersten Veteranen aufgrund akuter Atemnot und ernsthafter Erstickungsanfälle
möglichst störungsfrei aus der Ronda zu schleifen.
Als
der große Zeiger der Uhr knapp zwei Runden entgegen der Tanzrichtung
zurückgelegt hat, macht sich einer der Verantwortlichen auf die Suche nach der
Kapelle, findet sie schließlich munter parlierend und von Fans umringt an der
Bar. So spielt sich kurz nach 4 Uhr die zweite Hälfte des Höhepunktes ab.
Mir
schießt es plötzlich durch den Kopf, dass ich am Morgen einen wichtigen Termin
habe, und, wenn ich zu Hause wäre, mein Wecker sich bald melden würde… Da wache
ich auf… Alles zum Glück nur ein Traum… oder doch nicht ?!?
P.S. Manchmal habe ich den Verdacht, mit meinen
Beobachtungen doch nicht ganz allein zu sein – siehe:
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