Spurensuche in Ruinen

Ich bitte um Nachsicht, dass ich den zweiten Teil der Moderation unseres Tangokonzerts auf morgen verschieben möchte! Heute geht es mir um ein aktuelles Thema, bei dem ich sofortigen Destrudo-Abbau betreiben muss:

Wir hatten mit Freude gelesen, dass unsere Lieblings-Veranstalter in Regensburg nach der Aufgabe ihrer Stamm-Milonga nun doch wieder Tangoabende veranstalten. Also waren wir gestern dort.

ADTV-Tanzschule im Industriegebiet, also „Arrabal“ vom Feinsten. Das hätte was werden können! Wurde es aber nicht.

Diese düstere Ahnung befiel uns bereits, als uns beim pünktlichen Erscheinen wabernde Di Sarli-Klänge begrüßten und wir des DJs ansichtig wurde. O Gott – das „hohe Niveau“!

https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/12/das-hohe-niveau.html

Nun bin ich seit vielen Jahren daran gewöhnt, auf Milongas nicht zu der Musik tanzen zu können, die mich beflügelt. Statt Adriana Varela, Lidia Borda oder Piazzolla gibt es halt Knäckebrot mit Frischkäse. Okay, da bin ich inzwischen schmerzgeprüft.

Was ich aber immer noch nicht aushalte, ist ein Auflege-Programm, welches sich selbst innerhalb der EdO nicht mehr auf Abweichungen vom „Schrumm, Schrumm, Dideldum“-Rhythmus einlässt. Plus eine Milonga-Tanda als Zeitlupen-Foxtrott. Bereits nach 15 Minuten lähmt mich dann die Erkenntnis, es werde auch in der restlichen Zeit zu keiner einzigen Überraschung mehr kommen.

Schon nach einer Dreiviertelstunde war das Lokal fest im Besitz der „Blümchenhemden- und Satinröckchen-Fraktion“. Es ist eindrucksvoll, welche Menschenmassen diese musikalische Ödnis anlockt! Das erinnert mich an staatenbildende Insekten: Wenn du die ersten Kundschafter-Ameisen nicht rausschmeißt, hast du bald den ganzen Haufen im Wohnzimmer…

Und es sind stets die gleichen, oft sogar dieselben Tanzautomaten, die zu fixer Metronom-Einstellung ihre monotone Schrittchen-Choreo abspulen. Wobei man sagen muss: Die können – innerhalb ihres Androiden-Programms – schon ganz gut tanzen. Natürlich stets mit einem Blick, der tangoreligiöses Durchdrungensein signalisiert. Schließlich zelebriert man ja Weiheriten.

Und auch über die einzelnen Musikaufnahmen mag man streiten. Was ich aber insgesamt an diesem glattgebügelten Musikantenstadel-Mainstream der 40er Jahre vermisse, ist die Seele des Tango: Leidenschaft, Schmerz, Nostalgie, unbändiges Vergnügen. Was ich den ganzen Abend vernehme, ist bloße Schlagermusik: „Ganz in Weiß“ statt „La vie en rose“. Kunstfertigkeit kontra Gänsehaut.

Mit wem (außer der besten Ehefrau von allen) soll ich da tanzen – und vor allem: warum? Ich bekäme nur Gleichgeschaltetes. Schließlich versuchte ich es im Mirada-Hagel mit einer Anfängerin. Vielleicht ist da noch was zu retten. Ich bezweifle es aber. Der Gruppendruck ist immens.

Dabei kennen wir viele der Anwesenden aus früheren Zeiten, als es bei diesen Veranstaltern noch rund ging, neben Traditionellem auch Modernes, ja Schräges erklang. Und wir mit viel Spaß dazu tanzten. Inzwischen ist man ins Lager der Erleuchteten übergelaufen.

Ich will aber niemandem bewussten Opportunismus unterstellen. Die Zeiten haben sich halt gewandelt, heute tanzt man eben so… Wenn man sich diesem Milieu anschließt, hat man Hunderte von Freunden sowie jede Menge Tanzpartner. Wenn nicht, steht man ziemlich allein da. Und Rücksicht auf Minderheiten nehmen Ideologen nicht. Da wäre schon eine einzige abweichende Tanda systemgefährdend.

Zudem: Was bringt die Spurensuche in Ruinen? Man entdeckt meist Unerfreuliches. Und der Tango hat sich längst weinend verabschiedet.

Reinhard Mey hat mal ein Lied geschrieben, an das ich gestern denken musste:

https://www.youtube.com/watch?v=icAHQf1zqOA

Worüber ich aber nicht erst seit Kurzem grüble: Was bringt Veranstalter, die noch wissen, was Tango dereinst war, dazu, sich mit einem solchen Fake abzugeben? Schwaches Erinnerungsvermögen oder doch die Einsicht, dass von der Mehrheit auch mehr Kohle kommt? Nicht erst seit gestern bin ich froh, mit dem Tango nicht mein Geld verdienen zu müssen.

Als wir den Laden nach knapp zwei Stunden verließen, lief ich einer Tänzerin in den Weg, die gerade ankam: „Was, ihr wollt doch nicht schon gehen?“ „Doch – ich hab schon alles gehört.“ „Schade, wir haben doch vor längerer Zeit bei ‚Tango im Fluß‘ so schön getanzt!“ „Ja, aber zu einer anderen Musik!“

Im letzten Moment entdeckte ich an der Tür noch ein Schild und bat Karin, es zu fotografieren:

Doch, es gibt eine solche Musik – und zu der tanzen nicht nur Beamte! Es sei denn, man versteht darunter eine mentale Einstellung.

Kommentare

  1. Gerade erreichte mich ein Kommentar der Veranstalterin des Abends, Christiane Solf. Auf ihren Wunsch stelle ich ihn gerne ein:

    „Hallo Gerhard,

    schade, dass dir die Musik auf meiner Milonga in der Tanzbar nicht gefallen hat und dass du unter den rund 40 anwesenden Damen keine gefunden hast, die deinen tänzerischen Ansprüchen entsprochen hätte.

    Ottmar war als DJ angekündigt. Warum hast du nicht vorher nachgefragt, wie er auflegt, wenn dir die Musik auf einer Milonga so wichtig ist?

    Ja, der Tango hat sich verändert.

    Er war früher frischer, leidenschaftlicher, unbeschwerter und experimentierfreudiger.

    Aber das waren wir vor 30 Jahren auch.

    Tatasache ist: Die Tangoszene altert.

    Manche Ü60 Jährige haben dem Tango ganz den Rücken gekehrt oder tanzen nur noch selten.
    Weil die Füße nicht mehr mitmachen, weil die Energie nach einem harten Tag nicht mehr reicht für die Milonga, oder weil ihnen der Tango über die vielen Jahre schlicht langweilig geworden ist.

    In seiner Anfangszeit war der Tango hierzulande ein exklusives, seltenes Vergnügen.
    Da ist man für eine vielversprechende Milonga schon mal locker 800 km gefahren.
    Die Musik war nicht so wichtig, und man hat mit allen getanzt, die da waren.

    Mittlerweile gibt es Milongas, Kurse und Workshops an jeder Ecke.
    Da sollte doch für jeden das Passende dabei sein.

    Offensichtlich nicht, denn es haben sich Grüppchen und Lager gebildet, die sich vor allem jenseits des Parketts mit gnadenloser Härte über Musikauswahl, Tanzstile und Aufforderungsrituale streiten.

    Ist diese zunehmende Regelwut und Rechthaberei vielleicht auch eine Alterserscheinung?
    Kann es sein, dass Frust, Schmerz, Enttäuschung und Trauer über die verlorene Jugend in verbalen Attacken ein Ventil finden?

    Wenn die Kluft zwischen Anspruch und tänzerischem Können mit den Jahren immer grösser wird, wenn die einstige Leidenschaft einer gepflegten Langeweile gewichen ist, dann möchte man sich wenigstens die Deutungshoheit über tanzbare oder untanzbare Musik bewahren.

    Angesichts nachlassender Spannkraft und schwindender Begeisterungsfähigkeit will man sich zumindest moralisch noch überlegen fühlen dürfen, indem man strikten Regeln folgt und alle, die einen anderen Tanz- oder Musikstil bevorzugen, nach Kräften abwertet und beleidigt.

    Bedauerlicherweise begibst du dich auf genau das gleiche Niveau wie diese von dir geschmähten „Edo-und Codigo-Ideologen“, indem du die Musik auf meiner Milonga als „Fake“ und meine Gäste als „Blümchenhemden-Fraktion“ und „Tanzautomaten“ bezeichnest.

    Ich meine, dass eine ordentliche Portion Humor, etwas mehr Toleranz und eine Prise Altersmilde sich selbst und anderen gegenüber dem Tango gerade jetzt guttäten.

    Viele Grüße,

    Christiane“

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    1. Liebe Christiane,

      zunächst herzlichen Dank, dass Du zu meinem Artikel so ausführlich und auch sachlich Stellung nimmst. Von den meisten Kritisierten werde ich lediglich angeschwiegen oder beschimpft, was ein bezeichnendes Licht auf die Szene wirft.

      Ich darf zunächst einige einzelne Punkte Deiner Darlegung kurz aufgreifen:

      Beim Auffordern lasse ich mich nicht von „Ansprüchen“ leiten. Ich tanze sehr gerne mit Anfängerinnen, was ich ja am Samstag auch (in einem Fall) tat. Die Wahl von Tanzpartnerinnen fällt mir allerdings schwer, wenn von mir das seelenlose Abspulen immer wieder gleicher Bewegungen erwartet wird. Da will ich niemanden enttäuschen.

      Weiterhin meine ich schon, dass nicht ich mich nach dem Auflegestil des DJ erkundigen muss, sondern dass der Veranstalter diesen beschreiben sollte. Und ja, die Musik ist mir auf einer Milonga sehr wichtig – seltsam, dass man dies heute betonen muss.

      Mit „Fake“ habe ich nicht die Musik, sondern den Gesamteindruck bezeichnet. Er war für mich weit von der Essenz des Tango entfernt. Näheres habe ich ja beschrieben.

      Was du allgemein zur Tangoentwicklung sagst, kann ich durchaus verstehen und in etlichen Punkten auch bestätigen.

      Was mich betrifft, kann ich nur sagen: Sicherlich habe ich alters- und krankheitsbedingt nicht mehr die Energie, eine ganze Nacht durchzutanzen. Dank der Musik, die ich auf vielen Milongas erlebe, ist dies aber auch kein Verlust.

      Dennoch begeistert mich der Tango nach wie vor, und ich schaffe es durchaus, zwei- bis dreimal in der Woche zu tanzen. Aber Du weißt genau wie ich, dass auf sehr vielen Events nur noch historische Tangoaufnahmen geboten werden. Auch da habe ich mich angepasst – ich müsste sonst einmal pro Woche solche Artikel schreiben. Nur in besonders krassen Fällen greife ich deswegen zur Feder.

      Dass ich verbal auch mal etwas heftiger austeile, hat mit Trauer ob der verlorenen Jugend nichts zu tun. Ich weiß nicht, ob Du mitverfolgt hast, welchen Angriffen ich seit der Veröffentlichung meines Tangobuchs 2010 ausgesetzt war und bin. Gemessen daran habe ich mir noch sehr viel Humor, Toleranz und Altersmilde bewahrt.

      Wenn ich es normalerweise klaglos hinnehme, die meiste Zeit zu 80 Jahre alter Musik tanzen zu sollen, wäre es ein netter Zug, mir wenigstens gelegentlich mal Moderneres anzubieten. Und es gäbe genug Tanzende, die sich mit mir darüber freuen würden. Aber da ist die Gegenseite kompromisslos.

      Daher bitte ich um Verständnis, dass ich nicht stets der sein möchte, welcher halt mal wieder nachgibt, sondern sich mit seinen satirischen Mitteln wehrt.

      Nochmal danke und herzliche Grüße
      Gerhard

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