Die Argentinophilie ist geheilt!
Dass ich sowas noch erleben kann! In einer Tango-Facebook-Gruppe, aus der man nicht zitieren darf, stellte eine Leserin kürzlich diese Frage:
„Jetzt kommen sie wieder, die externen Gastdozenten. Gute, meist junge Paare mit exotischen Namen. Sie bieten Shows und Workshops zu Preisen im oberen Bereich und lieben volle Gruppen mit 10 und mehr Paaren. Nur, was ist dran an solchen Angeboten? Zu den Workshops: Wenn ich frage, wie es war, heißt es: Die tanzen gut und sind so nett. Wenn ich dann einige Workshops beurteile, frage ich mich oft: Warum so schlechte Methodik, welche Didaktik? Warum trällert die Musik nur so daher und wird nicht extra ausgesucht? Warum keine Einzelbetreuung?
Wie seht Ihr Gastdozenten, und welche Reisende sind zu empfehlen? Und wenn Ihr Euch traut - welche nicht?“
Als altgedienter, kritischer Tangoblogger reibt man sich erstaunt die verweinten Augen: Während man vor Jahren mit seiner Verheißung: „Argentinophilie ist heilbar“ noch ziemlich allein und angefeindet dastand, liest man nun durchgehend eher zurückhaltende bis kritische Kommentare zum Thema „Latino-Workshops“. Beispiele:
„Ich denke: oftmals eine gewisse ‚Sammelleidenschaft‘ fürs Ego und als Gesprächsstoff ‚nächste Woche‘; selten wird tatsächlich geprüft, welche Qualität für das Unterrichten mitgebracht wird.“
„Ich wage die steile These, dass nur ein Bruchteil an Tangotänzern unterwegs wäre, dürften sie nicht gelegentlich zu Workshops mit ‚begehrten‘ Tänzerinnen. Kann man überlegen, was man davon hält und wie man es findet, wenn erst der narzisstische Anteil gefüttert werden muss, bevor getanzt werden kann. Andererseits ist's vergleichsweise unschädlich und sichert jungen Tanzlehrerpaaren ein Einkommen.“
„Und (ich) halte den Kult, den ‚manche‘ um die Dozent:innen betreiben, für mächtig übertrieben. Ich habe (unabhängig von der Qualität) für mich aber auch festgestellt, dass Workshops für mich (in meiner Situation) praktisch keine Auswirkungen auf meine Tanzqualität und mein Können haben, weil diese kurzen Interventionen nicht nachhaltig bei mir wirken. Daher mache ich auf absehbare Zeit keine Workshops mehr.“
„Nach meiner Erfahrung schneiden die argentinischen Lehrer schlechter ab als die europäischen. Da mangelt es leider oft heftig an Methodik/Didaktik. Ausnahmen (…) bestätigen die Regel.“
Ein besonders niederschmetterndes Erlebnis schilderte eine Leserin, die ich persönlich kenne und bei der ich daher keinen Grund habe, eine Übertreibung zu vermuten:
„Wir hatten ein Schlüssel-Erlebnis vor circa 5 Jahren. Ein weltbekanntes Paar war in unserer Stadt. Wir haben die beiden sehr gerne tanzen gesehen, tolles Paar. Die wollten wir mal im Unterricht erleben! Sie kamen 5 Minuten nach offiziellem Workshop Beginn in den Raum. Es war später Morgen. Natürlich braucht man dann erst mal einen Kaffee. Beim Kaffee gab‘s dann eine Diskussion, die von weitem so aussah: ‚Was machen wir denn mit den Leuten?‘ Tanzschuhe anzuziehen war wohl nicht nötig, sie trug Zehentrenner-Sandalen.
Ich muss ehrlich zugeben, dass ich das Thema des Workshops nicht mehr weiß. Ich weiß nur noch, dass die angebliche Vorübung für mich nicht ansatzweise dazu gepasst hat, was das Thema war. Nach kurzem Vortanzen lief Musik, und das Trainerpaar beschäftigte sich ausführlich mit dem lokalen Veranstalter-Paar. Die Krönung war, dass während der Stunde ein aufgeklebter Nagel abging. Sie beschäftigte dann lautstark für einige Zeit das Veranstalter-Paar Klebstoff zu besorgen. Der Nagel musste dann während des Unterrichts angeklebt werden! Der Raum war vollgepackt mit sehr vielen Paaren, so um die 15 Paare.
Aus diesen Gründen besuchen wir keine Workshops von Gastpaaren.“
Quelle: https://www.facebook.com/groups/tangoforum (Post vom 12.3.22)
Tja, da hat der Unterricht die Nagelprobe wohl nicht bestanden... Zumindest in diesem Fall wurde also ein Fall von Argentinophilie nachweislich geheilt.
Rückblickend erinnere ich daran: Bereits 2015 legte ich klar, dass schon der Begriff „Workshop“ eine Rosstäuscherei darstellt. Zitat:
„Mein persönlicher Favorit ist der ‚Workshop‘, welcher fast immer lediglich eine simple Unterrichtseinheit beschreibt – und nicht das, was man zu diesem Terminus bei ‚Wikipedia‘ nachlesen kann: ‚Der Schwerpunkt‘ liege dabei ‚auf der gemeinsamen Arbeit an einem gemeinsamen Ziel‘. KEIN Workshop sei es jedenfalls, wenn ‚primär Wissen vermittelt werden will oder vermittelte Inhalte in der Veranstaltung geübt werden.‘“
https://de.wikipedia.org/wiki/Workshop
http://milongafuehrer.blogspot.com/2015/06/tango-von-der-subkultur-zur-branche.html
Noch verheerender wirkte sich der Glaube aus, man könne oder müsse gar ein fremdes Kulturgut eins zu eins auf die heimischen Verhältnisse übertragen. Zu dem Zweck reichte es, wenn ein Latino mit Pferdeschwanz und spanischem Akzent erklärte, was denn der „authentische Tango“ sei und was dazugehöre. Wer da noch widersprach, galt als Häretiker, wenn nicht gar als Rassist. So konnten sich hierzulande haufenweise Lehrerpaare etablieren, die von effektivem Unterricht weiter entfernt waren als von ihrem Geburtsort und den staunenden Gringos beibiegen konnten, was der „richtige" Tango sei. Ihre Rückversicherung bestand im vermuteten Tangogehalt des Blutes.
So gesehen war mein Spruch von der „heilbaren Argentinophilie“ (so ein Kapitel meines Tangobuches) natürlich eine herbe Provokation. Dabei hätte man längst davor das Werk von Raimund Allebrand aus dem Jahr 2003 zur Kenntnis nehmen können: „Tango – das kurze Lied zum langen Abschied“. Im Kapitel „Von Erotik zu Aerobic – zur Psychopathologie des Tangolebens“ beschreibt der Autor detailliert den verheerenden Mechanismus:
„Im Zeitalter der Latzhosen ist von erotischer Weiblichkeit und passionierter Maskulinität wenig zu spüren, und die nachfolgenden Generationen haben bis heute ihre liebe Not, das Geschlechterverhältnis neu zu definieren. Das plakative Image des Tango als Latin Lover bietet sich hier als Kontrastfolie an, das in Deutschland seine Wirkung nicht verfehlte.“
„Einzelne argentinische Startänzer, einmal über die Massenmedien bekannt geworden und zum Aushängeschild des authentischen Tango avanciert, werden in Deutschland wie Ikonen verehrt und können für Privatstunden jede Summe verlangen – der symbolische Zugewinn, im Arm eines Maestro zu liegen, ist diese Investition scheinbar wert.“
„Weil man im Tango nach wie vor nicht das Eigene, sondern das Fremde und Exotische sieht, verkörpert ein Lateinamerikaner, der im Zweifelsfall hervorragend tanzt, aber nichts vermitteln kann, immer noch die höheren Weihen der Authentizität (…) – vermutet man doch in ihm, was man selber nicht zu haben glaubt: Leidenschaft.“
Um es nochmal klar zu sagen: Ich bezweifle nicht, dass es auch hervorragende Tangolehrerinnen und Lehrer
gibt – aber ganz unabhängig von ihrer Herkunft! Was die tänzerische Entwicklung
auf den Milongas seit vielen Jahren behinderte, war die schlichte Tatsache,
dass die Kundschaft nicht ehrlich und konsequent Qualitätsansprüche durchgesetzt hat. Vor allem wurde jeder Mist bejubelt, wenn er nur aus Argentinien
(oder wenigstens aus Lateinamerika) kam. Klar, dass sich dies dann ausbreitete nach dem Motto: Warum schwieriger, wenn's auch primitiv geht?
Und zweitens: Wer gerne reist, andere Tangoleute trifft und Promitänzer erleben möchte, darf gerne weiterhin Workshops buchen. Es ist schon fast egal, bei wem, denn ich bezweifle nachdrücklich, dass solche Unterrichts-Eintagsfliegen das eigene Tanzen auch nur um Bruchteile verbessern. Bestenfalls können sich mal kleine Anregungen ergeben. Den Rest regelt nur die langjährige eigene Tanzpraxis.
Vor allem aber: Jedes Land, jede Zeit und jede Tangoszene hat das selbstverständliche Recht, sich vom großen Weltkulturerbe das auszuwählen, was in der konkreten Situation passend und hilfreich erscheint. So geht Weiterentwicklung. Der internationale Tangostar Luis Pereyra (Partner von Nicole Nau) hat mehrfach geäußert, er lasse sich nicht gern von den Ausländern seine Kultur erklären.
Das muss er auch nicht. Wir haben ihn aber ebenso wenig als Gutachter darüber bestellt, ob das, was wir mit dem Tango treiben, noch genehm oder gar erlaubt ist. Da lassen wir uns von ihm auch nicht gern unsere Kultur erklären. Und wenn dann das Argument kommt, das sei kein „argentinischer“ Tango mehr, dann könnten wir mal über die Uruguayer reden, deren Einfluss man seit über hundert Jahren ignoriert.
Oder das Ganze am besten einfach „Tango“ nennen. Reicht doch, oder?
Dann halt ohne „argentino", auf jeden Fall aber ohne Argentinophilie.
Illustration: www.tangofish.de |
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