Unsere Helden von einst

 

Ein Hinweis vorab: Von diesem Artikel haben Sie nur etwas, wenn Sie sich eine halbe Stunde Zeit gönnen! Im Zentrum stehen nämlich sechs Tanzvideos.

Auf das Thema kam ich durch einen meiner letzten Artikel, in dem ich ein neues Unterrichtskonzept besprach, das mich nicht überzeugte: Entwickelt hat es die bekannte Tänzerin Giselle Anne, seit 1995 die Partnerin von Gustavo Naveira.

Natürlich war das ungehörig: Ein Pörnbacher Blogger mit rudimentären Tangotanzkenntnissen“, so ließ mich ein Tangolehrer wissen, habe eines der besten Tangotanzpaare der Welt nicht zu kritisieren. Prima, dann macht es umso mehr Spaß…

Dabei kann niemand Gustavo Naveira mehr bewundern als ich, war er doch Teil einer der besten Tanzszenen, welche die Leinwand je erlebt hat: 1997 interpretierte er zusammen mit Sally Potter, Fabián Salas und Pablo Verón atemberaubend schön Piazzollas „Libertango“. Es gibt wohl wenige, die seit 20 und mehr Jahren tanzen, für die der Film „The Tango Lesson“ (deutscher Titel: „Tango-Fieber“) nicht zu einem „Erweckungserlebnis“ geführt hat.

https://en.wikipedia.org/wiki/The_Tango_Lesson

https://de.wikipedia.org/wiki/Tango-Fieber

Für jüngere Tänzerinnen und Tänzer sei gesagt: Ihr werdet die Faszination, die uns einst zum Tango trieb, nie verstehen, wenn Ihr den Film – oder wenigstens diese zentrale Szene – nicht kennt:


 https://www.youtube.com/watch?v=7sGTPTZY5yM

Vielleicht erahnt man, wie bescheuert vielen von uns später das Mantra vorkam, zu Piazzollas Musik könne man nicht tanzen

Wikipedia weiß über Naveira, er habe wie kein anderer die Struktur des Tango erforscht und den Unterricht in diesem Tanz beeinflusst.

https://en.wikipedia.org/wiki/Gustavo_Naveira

Nur sollte man dabei, neben seiner jetzigen Partnerin, Naveiras Ex-Frau, Olga Besio, nicht vergessen. Ich habe schon einmal ausführlich über sie berichtet. Was sie zum Tango und zu seiner Entwicklung in den letzten Jahrzehnten zu sagen hat, ist ziemlich gegen den Strich gebürstet und räumt mit Legenden auf:

http://milongafuehrer.blogspot.com/2017/05/gustavo-naveira-und-olga-besio-wenn-die.html

Nun hat mich interessiert: Wie tanzt der Held meiner Tango-Anfangstage heute? Das folgende Video von 2020 zeigt: Piazzolla muss es nicht mehr sein – Donato reicht auch.


 https://www.youtube.com/watch?v=WQo64GAfoW4

Um die Schnappatmung von Tangoexperten zu verhindern: Natürlich können Naveira und Anne immer noch sehr gut tanzen – im Vergleich zur Piazzolla-Szene von 1997 ist es jedoch kein „Filet Stroganoff“, sondern ein veganes Fleischpflanzerl…

Und ja – mir ist der Unterschied zwischen Showtanz und Tango de Salón schon bekannt. Allerdings auch die stilbildenden Bezüge dazwischen!

Im Jahr 2008 ließen es die beiden noch mehr krachen. Als Musik wählten sie aber vorsichtshalber schon damals statt Tango nuevo das historische Orchester von Rodolfo Biagi:


 https://www.youtube.com/watch?v=_eq-VPlSIiY

Diese drei Videos illustrieren genau, was mich seit langer Zeit umtreibt: In den letzten 20 Jahren lief die Abkehr von einer kreativen Interpretation moderner Musik hin zu einem langweiligen, aneinander gepappten Geschleiche – statt „Corazón“ ist nun „Kreis-Lauf“ angesagt. Und das geht natürlich parallel zur ökonomischen Entwicklung dieser Branche: Das heutige Tangotanzen kann jeder Depp lernen – und tut es auch. So kriegt man genügend Schüler. 

Den Rückwärtsgang hat Gustavo Naveira 2009 auch schriftlich eingelegt: In seinem Aufsatz „New Tango“ meint er, der Begriff „Tango nuevo“ habe man fälschlich einem Tanzstil zugeordnet. „Tango Nuevo ist kein Stil mehr; es ist einfach so, dass der Tangotanz wächst, sich verbessert, entwickelt, sich bereichert, und in diesem Sinne bewegen wir uns in Richtung einer neuen Dimension des Tangotanzens.“

https://en.wikipedia.org/wiki/Gustavo_Naveira 

Tango nuevo? Piazzolla? Ach nö… Der Tango entwickelt sich halt irgendwie weiter, gell? Da ist die Nachtigall von einst ganz schön am Trapsen! Von einer „neuen Dimension“ sehe ich derzeit jedenfalls gar nichts – dafür viel von einem Rücksturz in historische Verhältnisse. 

Dabei darf man natürlich persönliche Ursachen nicht übersehen: Naveira ist inzwischen 60. Da kommt man vermutlich mit dem Hintern nicht mehr ganz so hoch wie früher. Man sollte aber den Buchstaben des eigenen Gesitzes nicht zu dem eines allgemeingültigen Gesetzes machen.

Was ist aus den anderen beiden Jungs geworden, welche dereinst Sally Potter schwindelig getanzt haben? 

Fabián Salas agiert auch 2019 noch ganz schön munter – allerdings vorsichtshalber lieber zu Pedro Laurenz:


 https://www.youtube.com/watch?v=yzmTdyUUz5A

2006 hatte er es noch gewagt, Piazzollas „Romance del Diablo“ zu interpretieren – absolut beeindruckend, wie ich finde. Was seine Partnerin Carolina del Rivero dabei abliefert, können heute nur noch die wenigsten Tänzerinnen im Tango:

https://www.youtube.com/watch?v=-lAwCX9b94M

Bleibt noch Pablo Verón – das folgende Video von  2019 beweist: Er hat sich tänzerisch am wenigsten verändert. Zu moderneren Klängen (Hugo Diaz) liefert er mit Cecilia Capello eine beeindruckende Interpretation. Na ja, er war schon bei „Tango Lesson“ mit Abstand der beste Tänzer!


 https://www.youtube.com/watch?v=jCf0H1tMvkU

Wow! Eine Tangofreundin meinte gestern beim Betrachten des Videos: „Meine Oma hätt’ g’sagt, der tanzt dem Teifl sein Schwanz ab“!

Na ja, beim heute üblichen Tanzstil muss der Teufel keine Angst mehr um seine edlen Körperteile haben.

Die oben zitierte Großmutter war übrigens eine passionierte Tänzerin und legte mit über 80 Jahren noch in einem Senioren-Tanzcafé auf. Das überzeugt mich.

P.S. Ich habe das grundsätzlich gleiche Thema schon mal beleuchtet:

http://milongafuehrer.blogspot.com/2018/02/einst-und-jetzt.html

Kommentare

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