Ein Walzer für dich und für mich
Dass freundliches und respektvolles Benehmen auf der Facebook-Seite „KoKo Tango“ kein Dauerzustand würde, habe ich vorhergesehen. Innerhalb weniger Tage war es wieder so weit:
Ein weibliches Mitglied der Gruppe teilte am 23.2. das Video einer Popmusik-Walzerballade: „Through the Mirror“, gesungen von Jennifer Haben. Wer die deutsche Interpretin, so wie ich, nicht kennt: Sie ist die Frontfrau der Symphonic-Metal-Band „Beyond the Black“.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jennifer_Haben
In dem genannten Post wollte die Fragestellerin von den KoKo-Leuten nun wissen:
„Ich habe einen Song gehört, ein Walzer, aber auch eine Metall Interpretation. Der Text, die Musik, die positive Ausstrahlung der Sängerin und ihre Energie sprechen mich total an. Zu gerne würde ich diese Musik im Tango vertanzen. Was haltet ihr davon?“
Dann hören wir mal rein:
https://www.youtube.com/watch?v=xzZXrZVGpuQ
Angesichts des nun folgenden Gedönses sage ich schon mal: Ich hätte dazu wahrscheinlich gar nichts geschrieben. Okay, falls die Dame sehr gerne dazu tanzen möchte, soll sie es halt tun! Oder braucht sie dafür die Erlaubnis der hochheiligen Gruppe?
Und wenn man mich schon dringend gefragt hätte: Na ja, ein „Tangofeeling“ erzeugt das Lied bei mir nicht gerade, aber es hat lyrische und dynamische Passagen, zu denen man es schon mal knapp vier Minuten auf dem Parkett aushält. Zudem herrscht in der modernen Tangomusik ein eklatanter Walzermangel. Da kann ein solches Stück manche Lücke füllen.
Um solche und ähnliche Punkte drehte sich die anfängliche Diskussion. Manchen war das Stück – wie vieles aus diesem Bereich – nicht abwechslungsreich genug. Andere meinten, sie könnten das schon interpretieren. Auch das Zählen der Takte pro Minute führte nicht zu völliger Klarheit. Die Debatte schien an dem Punkt zu enden, der in unserer Gegend wie folgt beschrieben wird:
„Füa den, der’s mog, is des as Höchste!“
Doch nach einem ungeschriebenen Gesetz meldet sich auf Facebook auf weibliche Fragen früher oder später ein Herr zum gepflegten Mansplaining: Er halte von dem Stück „nicht das geringste“.
„Was nicht heißt, dass ich meinte, jmd. solle nicht zu Musik tanzen können + wollen, die jener Person zusagt (wobei ‚vertanzen' ja fast selbstentlarvend klingt). In einer Veranstaltung aber, die nicht als Neo | Non | Hybridolonga firmiert - der ich möglichst fernbleibe daher - wäre sowas für mich jenseits Cortina-Verwendung (und auch da) einzig ein Affront... ich habe Bombast von dieser Sorte schon als Teenie verabscheut, mich vielmehr langjährig mit Jazz (12+) | Barock | Klassik befasst - auch aktiv + und es extrem wohltuend gefunden, dass hoch differenzierte Tango-Musik (…) jenen deutlich näher steht als Obigem.“
„Hybridolonga" – wieder was gelernt... Da kam er bei unserer Fragerin aber an die Falsche:
„Das Genre Metal ist von Soft- über Heavy- bis hin zu Death Metal hochkomplexe Musik. Man muss es nicht mögen. Man muss es auch nicht zwangsläufig mögen, um es zu verstehen. Aber auch das Genre Metal hat Respekt verdient. Und ehrlich, so geschwollen, wie du dich äußerst, den Ausdruck vertanzen nicht wirklich verstanden, ich hoffe, wir begegnen uns niemals beim Tango.“
Unser Musikexperte wurde nun zunehmend schmallippig:
„1. Ich kann mich tatsächlich daran erinnern, dass wir uns mal irgendwo peripher begegnet sind, ohne einander tangiert zu haben (…).
2. Wenn du keine Antwort erträgst, in der deine vorlaufende Meinung nicht geteilt wird, musst du halt nicht rhetorisch fragen. Im Übrigen stehen mein Geschmacksurteil sowie Meinung per se und ihre sprachlichen Form für niemand sonst zur Disposition, sonderlich, solange darin keine Grundrechte von anderen verletzt werden.“
Schön, dass wir nun bei der Einschätzung eines Musikstücks schon bei den „Grundrechten" landen – hurra!
Zudem solle halt auch Tango drin sein, wenn es drauf stehe – das wäre ja bei Salsa, Kizomba oder Techno auch so… geschenkt!
Solchen Typen schon mal begegnet? Das schließt die Fragerin aus:
„Auch ich merke mir Gesichter besser als Namen und bin mir sicher, dich niemals auf einer Tanzveranstaltung wahrgenommen zu haben. Aber egal. Ich mag Menschen, die geschwollen daherreden und bei denen in mir das Gefühl aufkommt, sie meinen, ihre Meinung sei die einzige Wahrheit und alle, die diese nicht teilen, seien minderbemittelt, einfach nicht.“
Unser Musikexperte wähnte sich im Zustand berechtigter Notwehr:
„Ich hatte nirgends zu ‚Metal' per se etwas geschrieben, sondern ‚Bombast' abgelehnt - und das meinte die pur physische ‚Gewalt' der Artefakte des Genres (via Schalldruck aus zig Verstärkern), bei dem für mich quasi keine sensorische Kapazität für ‚hoch komplex‘ Formales etc. mehr übrigbleibt. Hier geht es mir um physischen Selbstschutz.“
Die Belehrung fällt auch germanistisch aus:
Und schließlich sei „vertanzen“ für ihn analog zu „verrühren“, „verbrauchen“, „sich verfahren“ oder „ggf. sich verlieben“: „In ersteren Fällen wird im Verb dadurch etwas ‚Konsumatorisches', in letzteren ein ‚Abirren' konnotiert. Weder so noch so versteht sich für mich die Musik-Bewegung Relation (??) im Tangotanzen - da sollte kein ‚ver-' sein.“
Klar – man beachte auch den Bedeutungsunterschied zwischen „verklären“ und „herrklären“…
Ein Tangofreund aus Wien machte einen pragmatischen Vorschlag:
„Leute, was ist das für eine Diskussion hier. Spart euch doch die Energie und tanzt einfach die Nummer. Und wer es nicht mag, bleibt einfach sitzen....“
Damit ist jedoch der Theorie-Furor unseres Experten nicht zu bremsen:
„Im Übrigen geht, wie erwähnt, Tangotanzen und dazu reflektieren in ganz verschiedene Bereiche (nämlich als OPs 1. + 2. Ordnung - Systemtheorie).“
Da möchte die Dame schon mit etwas Musiktheorie kontern:
„Zamba ist im 4/4 Takt notiert, Menuett besteht aus einem Wechsel aus 3/4 Takt und 4/4 Takt, Sarabande ist im 3/2 und 2/4 Takt, Walzer im 3/4 Takt eine Note mit doppelter Länge und 2 Noten in normaler Länge.“
Die kriegt sie natürlich in mehrfacher Ausführung retour:
„Den von dir erwähnten Wechsel aus gerad- und ungerad-taktiger Notation sehe ich mit Blick auf die o.g. Tanztypen nirgends in den vielen von mir im Laufe der Jahre erarbeiteten und gespielten Barock-Suiten bestätigt - was nicht heißt, dass sich da nicht manchmal interessante rhythmische Muster (etwa: Phrasen) über Takte hinweg hören (!) lassen. Und bzgl. Zamba rede ich von der argentinischen (im 6er-Takt, aber mit 3 Schwerpunkten), nicht von der brasilianischen (Samba) - zu allen Konzepten (im von mir erwähnten Sinne) siehe auch jew. Wikis.“
Und ja: Barocktanz-Workshops kann er auch vorweisen. Dann kann doch im Tango nichts mehr schiefgehen!
Uff! Das waren einige Auszüge einer weit längeren Debatte. Wer sie in Gänze lesen möchte, muss sich halt um ein warmes Plätzchen in der obigen Facebook-Gruppe bewerben:
https://www.facebook.com/groups/tangoforum
(Nebenbei: Ich habe die vielen sprachlichen Korrekturen, mit denen ich solch ein Geschreibsel für meine Leser verständlicher machen möchte, einmal mit Rot gekennzeichnet.)
Fazit
Ich finde, solche Debatten beschreiben sehr schön einen meist männlichen Tangotypus, der musikalisch hochgebildet ist, jedoch mit der Kommunikation in schriftlicher Form und wohl auch auf dem Parkett riesige Probleme hat.
Die spätestens seit Johann Strauss so faszinierende Walzerseligkeit wird da zu Korinthen geschrotet, die sich in der Birne festsetzen und daher nicht mal auf natürlichem Weg ausgeschieden werden können. Ein holdes Weib erringen und mit ihr im Dreivierteltakt übers Parkett fliegen? Ach geh…
„Einen Walzer für dich und für mich“ werden die beiden wohl nie tanzen. Dabei erinnert der Titel an eines der schwungvollsten Stücke seiner Art. Franz Grothe hat es komponiert, und Marika Rökk sang und tanzte es in einem UFA-Film aus dem Jahr 1941. Sein Titel ist geradezu prophetisch: „Frauen sind doch die besseren Diplomaten“:
Einen Walzer für dich und für mich
singt mein Herz Tag und Nacht!
Denn es hat mit dem ersten Moment
an die Liebe gedacht.
Wenn wir beide uns im Dreivierteltakt
durch das Leben drehn,
wenn beim Geigenklang uns der Wirbel packt,
bleibt die ganze Welt für uns stehn!
https://www.youtube.com/watch?v=0F82kZj2CYE
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