Mein asozialer Tango


„Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Griesbrei-Fresser-?
Ja, dann...
Ja, dann verdienst dus nicht besser!“

(Kurt Tucholsky: „An das Publikum“)

Den Begriff „sozialer Tango“ hoben wir schon aus der Taufe, als er noch nicht von Zeitgenossen besetzt war, die darunter etwas ganz anderes, nämlich ihren „Law and Order-Tango“ nach dem Regelwerk der sogenannten „Códigos“ verstehen: Er bildete die Grundidee unserer monatlichen Tanzabende ab 2007. Wenige Jahre später beschrieb ich in der ursprünglichen Fassung meines Tangobuches, was uns unter dem Thema „soziale Milonga“ vorschwebte:
 
„Wir sahen unsere Rolle weniger in der des ‚Veranstalters‘, sondern des Gastgebers, der Kontakte mit allen versucht, natürlich insbesondere auf dem Parkett: Niemand sollte sitzen bleiben, wenn er/sie es nicht unbedingt beabsichtigte.“ Im Klartext: Wir wollten mit möglichst allen Gästen tanzen – insbesondere denen, welche mangels eines festen Partners eher selten zum Zuge kamen – also vorwiegend den weiblichen Singles.

Ich muss gestehen, dass mir dieses Bedürfnis auf den heute üblichen Milongas eher abhanden kommt. Außer meiner Begleitung fordere ich dort nicht allzu viele andere Tänzerinnen auf. Geradezu tragikomisch finde ich daher die Einschätzung meiner werten Gegner, die Damenwelt im Tango solle mich – schon wegen meiner Ablehnung des „spanischen Hofzeremoniells“ – gefälligst mit einer Tanzverweigerung abstrafen, am besten lebenslänglich (wegen besonderer Schwere der Schuld): In Wahrheit wäre ich manchmal froh, wenn dem so wäre!

Im Unterschied zu 99,9 Prozent aller Tangueros gebe ich Motive männlicher Tanzunlust zu, welche wohl dennoch 99,8 von Hundert meiner Geschlechtsgenossen steuern: Aussehen, Alter, Kleidung und Tanzkünste (und zwar in exakt dieser Reihenfolge) – da ist die Evolution der Primaten in den letzten paar hunderttausend Jahren nur millimeterweise vorangekommen. Alles andere würde an ein biologisches Wunder grenzen! Die gegenteiligen Beteuerungen in der maskulinen Tangoszene sind zwar fromm, aber, wie so vieles aus der Abteilung „demonstrativer Pietismus“, deshalb noch lange nicht wahr.

Wenn man mich ehrlich nach meiner persönlichen Beeinflussbarkeit durch solche Reize fragen würde, müsste ich lügen. Weit schlimmer trifft mich allerdings ein anderes Faktum: Auf den derzeit vorherrschenden, sich traditionell verstehenden Milongas mag ich auf viele Stücke eh kaum tanzen – und zwar nicht deshalb, weil ich dem Schaffen der großen Musiker aus der „Goldenen Tangozeit“ nichts abgewinnen könnte! Bei den einschlägigen DJs habe ich allerdings den Eindruck, sie hätten zuletzt vor einigen Jahren ein Festivalito auf Feuerland besucht und könnten daher nicht wissen, dass ihre Musikauswahl auf jedem zweiten Tangoabend eins zu eins heruntergenudelt wird: Mit stoischem Gleichmut werden da Milongas von „Silueta portena“ über „Milonguita“ bis zur unvermeidlichen „Milonga sentimental“ zu Tode gespielt – und Valses gibt es ja außer „Sonar y nada mas“ und „Lágrimas y sonrisas“ kaum einen…
 
Es ist unglaublich: Essen die auch seit Jahren die gleiche Marmelade zum Frühstück (oder gar dieselbe)?

Um solchen Aufnahmen noch einen Rest an Leben einzuhauchen, muss ich sie schon mit einer der besten Tänzerinnen des Abends interpretieren – und danke fürs Angebot: Die habe ich meist selber dabei. Eine weitere Schwierigkeit bildet für mich die vorherrschende Realität einer sich formationstanzartig zäh linksrum bewegenden „Ronda“, welche dem „Wandertags-Prinzip“ gehorcht: Der Langsamste bestimmt das Tempo (und der Lehrer geht stets voraus…).
 
Der unter Verzicht auf „Spurtreue“ nötige Slalom durch einen Wald von „Untoten“, welche wie in Horror-Movies mit leerem Blick durch die Szene tappen, fordert auch von meiner Tanzpartnerin schnellste Reflexe und abrupte Richtungswechsel, falls sich der Zombie vor mir nach längerer Meditation beispielsweise zu einem großen Rückwärtsschritt aufschwingen sollte… Und das soll mit einer Tänzerin gelingen, die schon bei Basis-Bewegungen im Grenzbereich zur Krise agiert?

Und wenn spätabends eventuell die „Alibi-Neotango-Tanda“ erklingt (wahrscheinlich mit „Sin Rumbo“, „Los Vino‘“ oder „Allerdinos Otros Aires“ – wir wollen ja nicht origineller werden als im Klassik-Segment): Zumindest bedeutet sie eine Abwechslung, die ich dann schon meiner weiblichen Begleitung anbieten möchte (falls die Damen es nicht vorziehen, miteinander zu tanzen und ich mir dann überlege, ob ich Lust auf zehn Minuten Marschfoxtrott habe oder lieber dem einzigen tollen Tanzpaar des Abends zuschaue).

Bin ich älter und müder geworden? Ganz bestimmt – und besonders spüre ich das, wenn man mir das branchenübliche musikalische Förderschulprogramm aufstreicht. Aber wäre es meinem Alter nicht sowieso gemäßer, am Rand der Tanzfläche zu sitzen und mit meinem Spazierstock begeistert auf die vielen jungen Menschen zu zeigen, welche es auf dem Parkett voller Energie und Lebenslust so richtig krachen lassen – und vielleicht mit meiner Ballonhupe am Rollator den Rhythmus zu unterstützen? Stattdessen fühle ich mich auf dem Parkett zu jung, um mich mit den räumlichen und musikalischen Begrenzungen abzufinden – so alt wie diese Form des Tango möchte ich jedenfalls nicht werden.

Daher bitte ich die Damenwelt um Nachsicht, wenn ich als „Cabeceo-Verweigerer“ manchmal fragende Blicke ignoriere. Notfalls kann man mich ja verbal auffordern – und im Gegensatz zu manchem weiblichen Outfit werde ich dies sicher nicht als „sexuelle Nötigung“ (in welcher Hinsicht auch immer) betrachten. Ich gebe keine Körbe und werde im Fall des Falles meine Depressionen auch zehn Minuten lang tapfer unterdrücken versprochen!

Da jedoch die Hoffnung zuletzt stirbt, vielleicht abschließend noch einige konstruktive Ratschläge für die weibliche Fraktion – auf die Gefahr hin, dass die Erwartung von Eigenaktivität inzwischen auf dem Gebiet schon nicht mehr zur „artgerechten Haltung“ zählt:

·         Wie wäre es, sich einmal selber mit unterschiedlicher Tangomusik zu beschäftigen und sodann zu überlegen, ob einem das Segment „die hundert Lieblingsmelodien des DJ“ wirklich jahrelang reicht?
·         Widrigenfalls könnte man dann Veranstalter, Aufleger oder gar den örtlichen Tangovereinsvorstand mit Anfragen nach musikalischer Vielfalt (oder auch größeren Tanzflächen) nerven.
·         Würden vielleicht etliche Privatstunden bei einem wirklich guten Tänzer (notfalls sogar Tangolehrer) dazu führen, sich technisch sicher und stilistisch variabel zu bewegen?
·         Sollte man jedoch die derzeit vorherrschende Musikrichtung bevorzugen oder gar meinen, auf die Beschallung käme es eh nicht an, Hauptsache überhaupt tanzen: Dann wäre es halt gut, zu akzeptieren, dass die erdrückende Mehrzahl der Tangueros dies aufregender findet als ich.

Mir bliebe dann lediglich die Einsicht, die ich in Abwandlung neulich einmal irgendwo gelesen habe:

Aus Sex, Drugs and Rock’n Roll wurden Workshops, Lactose-Intoleranz und Langweiler-Tango.
 

P.S. Dieser Beitrag gilt natürlich nicht für Milongas, bei denen ich auf Grund der grandiosen Musik eigentlich jedes Stück vertanzen möchte. Sollte ich da einmal einen interessierten Blick ignorieren, so einzig und allein aus altersgerechter Erschöpfung!

Kommentare

  1. Lieber Gerhard

    Dem kann ich nichts hinzufügen.

    Es beschäftigt mich die Frage, wann wo wer warum und mit welchem Krafthebel diese traurige Entwicklung so beeinflussen konnte. Wahrscheinlich ist eine Systementwicklung, bei der die rhythmisch einfach Gestrickten und die musikalisch sektoral Oorientierten (mit einem sehr kleinen Sektor der Musikgeschichte des Tango argentino) wegen ihrer Beständigkeit und zahlenmäßigen Überlegenheit und wegen des starken und mit Kraft verfolgten Hangs zur Vereinsorganisation die Evolution dahin gefördert haben.

    Mir bleibt auch nur die Wohnzimmer-Milonga mit dem glücklichen Umstand, daß wir für meine zwei Frauen (Frau und Tochter) zum professionellen Tanzen (Modern und Orientalisch) ein Studio (größeres Wohnzimmer) gebaut haben.

    Grüße vom Traunsee
    Peter

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    1. Ja, der organisierte Vormarsch der Ideenlosigkeit ist schon bedrückend. Es ist aber schön, dass uns noch Reservate bleiben - zumindest bei uns gelegentlich auch außerhalb des eigenen Wohnzimmers!
      Herzliche Grüße
      Gerhard

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  2. "männlicher Tanzunlust ... Aussehen, Alter, Kleidung und Tanzkünste"

    Hallo Gerhart,
    und ich gestehe gerne ein ,dass ich zu den 99,9 % der Leute gehöre bei denen "Schönsaufen" wunderbar funktioniert :-)
    Prost MM

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    1. Das erinnnert mich an ein Bekenntnis, das wir vor vielen Jahren einmal bei einem Tangourlaub in der Pfalz hörten. Einem sehr guten Tänzer gegenüber lobten wir den hervorragenden Wein seines Heimatlandes - er mahnte allerdings zur Vorsicht: "Das zwoite Vierddel schlächt mir immer gewaldig auf die Achse."

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  3. Wenn ich mit einem Mann Tango tanzen möchte, will ich mit einem MANN tanzen! Nicht mit einer genderkonformen Milchsemmel!

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    1. Das geht mir umgekehrt auch so: Wenn ich mit einer Frau tanze, dann will ich Blut, Schweiß und Tränen riechen und nicht ein süßelndes Rossmann-Parfum!

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