Potemkinsche Kurse



Als Potemkinsches Dorf (…) wird etwas bezeichnet, das fein herausgeputzt wird, um den tatsächlichen, verheerenden Zustand zu verbergen. Oberflächlich wirkt es ausgearbeitet und beeindruckend, es fehlt ihm aber an Substanz. (…) Die Redewendung geht zurück auf eine Erzählung über den russischen Feldmarschall Reichsfürst Grigori Alexandrowitsch Potjomkin, deren Wahrheitsgehalt allerdings strittig ist. Potjomkin, Gouverneur und Militärreformer, der sich unter Zarin Katharina II. um die Entwicklung Neurusslands bemühte, habe vor dem Besuch seiner Herrscherin im neu eroberten Neurussland im Jahr 1787 entlang der Wegstrecke Dörfer aus bemalten Kulissen zum Schein errichten lassen, um das wahre Gesicht der Gegend zu verbergen.
(Quelle: Wikipedia)

Neulich stieß ich auf das nachfolgende Video, das die Dinge, welche ich am gegenwärtigen Tangounterricht vermisse, eindrucksvoll nicht zeigt: In den ersten zehn Sekunden sieht man einige Anfängerpaare zu schrammeliger Beschallung üben – danach tanzt das Lehrerpaar eine einfache Schrittfolge über fünf Minuten lang vor, und beide erklären immer wieder detailliert einzelne Bewegungsphasen. Musik, selbst langweilige, fehlt – außer den gelegentlichen Worten: „Eins, zwei drei“. Die Schüler verfolgen sitzend und wohl einigermaßen gespannt das Geschehen, zum Schluss applaudieren sie. Ende des Kurses? Aha.
  

Nun ist mir auch klar, dass die gesamte Unterrichtseinheit mindestens eine Stunde gedauert haben dürfte – nur muss ich schon davon ausgehen, dass man per Ausschnitt ins Internet stellt, was als zentrale Methode der Lehreinheit erachtet wird. Hier offenbar: Schaut her, wir machen’s vor, weil wir’s ja können, erklären’s euch und ihr macht es dann nach. Die meisten Tango-Lehrvideos, z.B. auf YouTube, sind dergestalt gestrickt. Bezeichnenderweise sieht man auf ihnen fast nie, was die Lernenden (falls sie überhaupt anwesend sind) nachher davon umsetzen können – also den Erfolg des Gebotenen. Dabei ist doch, wie es ein berühmter Bundeskanzler einmal formuliert hat "entscheidend, was hinten rauskommt."

Es geht mir nicht um eine spezielle Kritik an den hier agierenden Tangolehrern: Beide sind hervorragende Tänzer, und nach meiner Beobachtung bewegen sich ihre Schüler vergleichsweise nicht schlechter auf dem Parkett als der Durchschnitt der woanders Ausgebildeten. Aber genau darin besteht ja das Dilemma: Die essentiellen Komponenten des Tango fehlen mir in vielen Fällen – sowohl in der digitalen Fassung als auf dem Parkett.

Kommt man pünktlich zum Beginn einer Milonga oder Practica, erlebt man oft noch den Schluss des vorhergehenden Unterrichts; auf jeden Fall aber tanzen in der ersten Stunde viele Teilnehmer des gerade gehabten Kurses. Im Normalfall versuchen sie krampfhaft und mit Blick zum Boden, sich durch den Wirrwarr der gelernten „Figur“ zu kämpfen. An dieser erkennt man meist, dass es sich um etwas Tangoartiges handeln könnte; weitere Indizien hierfür finden sich eher nicht. Das Ganze wirkt auf mich wie ein potemkinscher Tango: mit dem vordergründigen Anstrich halbwegs passender Schritte zu einer ja größtenteils simplen Musik. Tritt man jedoch näher, entdeckt man die getünchte Fassade, hinter welcher nicht mehr viel kommt.

Bei einem solchen Anblick frage ich mich immer wieder, ob den Lernenden jemals die Qualität einer sensiblen Umarmung vermittelt wurde, mit dem Ziel, die Bewegungen des Partners zu spüren und sich darauf einzulassen – oder man ihnen von vornherein die Zwangsvorstellung des „Führens und Folgens“ eingetrichtert hat mit dem Resultat, dass die Männer stets „alles im Griff haben“ sowie die Frauen „fehlerfrei funktionieren“ müssen. Wenn man allein auf diesen Schwachsinn einmal verzichtete, würden die Verkrampfungen auf dem Parkett deutlich abnehmen!

Weiterhin ist es mir ein Rätsel, warum Unterrichtende sich nicht mehr um die Belastung nach vorne als entscheidendes Kommunikationsprinzip kümmern. Auf dem Parkett sehe ich fast ausschließlich senkrechte (wenn nicht gar nach hinten hängende) Körperpositionen. Ersatzweise wird dann gezerrt und geklammert, was natürlich eine weiche, fließende Bewegungsweise verhindert. Folglich kann man ein schönes Gehen (wirklich einspurig mit weit nach hinten angesetzten, verzögerten Schritten der Tänzerinnen) kaum beobachten. Ersatzweise wird viel zu viel in die Breite und „voreinander her“ getanzt. Abrazo und Caminar als Basis des Tango: Da haben die Argentinier ausnahmsweise mal recht – die Frage bleibt allerdings, wieso sie es hierzulande nicht unterrichten…

Ersatzweise wird das Hirn der Schüler mit ellenlangen Reden und dem Vorführen von Schrittfolgen zugedeckelt. Dies hat verheerende Auswirkungen: Erstens verhindert es das situationsbezogene Erfühlen der Bewegungen des Partners zugunsten eines „Sender-Empfänger-Prinzips“. Zweitens etabliert es zwei weitere Unworte im Tango: „richtig“ (also die gezeigte Choreografie) oder „falsch“ (mithin alles andere). Wieso vermittelt man nicht Grundelemente wie Cunitas und Ochos mit dem Ziel, diese möglichst bald – je nach Musik, Platzangebot und Reaktion des Partners – zu variieren?

Neben den Monologen des Lehrpersonals bleibt das akustische Angebot auf langsam dudelnde Tangos à la Di Sarli beschränkt oder wird durch Zählen (hoffentlich wenigstens bis acht) ersetzt. Damit etabliert man die Vorstellung, beim Tango habe auf jeden Taktschlag ein Schritt zu erfolgen. Verzögerungen, Pausen, die längere Belastung auf einem Bein etc. sind somit ausgeschlossen. In einer solchen „beschützenden Tanzwerkstatt“ wird den Schülern die Interpretation verschiedener Musikstile vorenthalten (das sei ja „zu schwierig“ – falls die Ideologie nicht sowieso den „Einheitstango“ fordert). Also lieber an die Schrittfolgen denken – die Musik ist ja eh stets die gleiche! Dass Tango zwingend die kreative Umsetzung der gebotenen Musik bedeutet, es daher bei deren Vielfalt erst so richtig spannend wird, ist offenbar kein Thema.

Ich habe es inzwischen weitgehend aufgegeben, Anfänger vom Slalom zwischen Kurs und Workshop abzubringen. Das Marketing – zumal, wenn es noch durch argentinische Namen verstärkt wird – funktioniert perfekt. Es nützt nichts, ihnen zu erklären, dass man Tango nicht durch Reden, sondern ausschließlich durch Tanzen erlernt, dass ein Üben ohne Musik für die Katz ist, die vielen Schritte und Figuren eine Verkaufs- und nicht eine geeignete Lernstrategie darstellen, es wenig Erfolg verspricht, wenn Anfänger lediglich versuchen, die Bewegungen des Meisterpaars zu imitieren. Und nach dem Kurs gehen dann viele nach Hause, anstatt auf der anschließenden Milonga erst richtig mit dem Lernen zu beginnen. Es ist grotesk!

Aus vielen Jahren Tango kenne ich hervorragende Tänzer/innen, die nie einen Kurs besucht haben und diesen Tanz lediglich durch das Üben mit erfahrenen Partnern gelernt haben. Öfters war ich daran beteiligt, und wenn das schon jemand wie mir gelingt, der keinerlei „Tangolehrerausbildung“ aufzuweisen hat – wie toll könnte dies bei „anerkanntem Lehrpersonal“ wirken! Daher plädiere ich – wenn überhaupt – für die Buchung von Einzelstunden: Die kosten vielleicht fünfmal so viel, man macht allerdings die zehnfachen Fortschritte. Lässt man dagegen stets nur Anfänger miteinander üben, hat man die Garantie, diese noch sehr lange unterrichten zu dürfen… (Oder sitzt in einem Fahrschulauto auf dem rechten Vordersitz ebenfalls ein Führerscheinbewerber?)

Aber vielleicht können ja die auswärtigen Instruktoren gar nichts für die treudeutsche Sichtweise, man erlerne eine Tätigkeit am besten durch kopfgesteuerte Theorie-Instruktionen von „Experten“ ihres Faches. Eine glänzende Satire hierzu hat uns der unsterbliche Loriot mit seiner „Jodelschule“ hinterlassen:

„Das Jodeln, also das Diplomjodeln, das Jodeln mit Jodeldiplom, also mit Jodelabschluss, mit Jodeldiplomabschluss, unterscheidet sich vom Jodeln ohne Jodeldiplom. Das Diplomjodeln ist also nicht zu vergleichen mit dem Normaljodeln ohne Diplom, also ohne Jodelabschluss, ohne Jodeldiplomabschluss!“

(Loriot: Die vollständige Fernseh-Edition, Warner Home Video 2007)

P.S. Liebe Anfängerin, lieber Anfänger, nein, ich weiß, eure Tangolehrer sind da ganz anders, bei denen lernt man wirklich was, sie gehen auch ganz toll auf ihre Schüler ein und helfen, wo sie können. Is ja gut...
 

Kommentare

  1. Die im Internet angebotenen Kursthemen sind teilweise reines Kabarett – ganz aktuell drei Beispiele (Unterrichtszeit jeweils drei Stunden!):

    "Volcadas ohne Angst: Entspannte Volcadas für beide
    Colgadas ohne Fallsucht!
    Jetzt macht die Frau das Sandwich: Sandwiche mal anders!"

    Ach geh, die Frau macht doch immer die belegten Brote (= Sandwiches)…

    Näheres hier:
    http://www.einfachtango.de/

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  2. Edwin Klösel:
    (ich habe bei keinem der angebotenen Dienste ein Konto, der angegebene Name ist aber dennoch mein eigener. Dies könnte sicherlich ein uns beiden bekannter Tangotänzer bestätigen, mit dem ich gestern zusammen in dem Cafe auf der kleinen Milonga war, auf der der Autor des Blogs auch tanzte. Das gehört natürlich nicht zu dem Komentar und kann gerne weggelassen werden)

    Da ich letztes Jahr bei einem kurzfristigen Aufenthalt in München an einer Stunde der offenen Anfängerkurse der oben zitierten Anbieter teilgenommen habe, möchte ich doch etwas ergänzen bzw. richtigstellen: Der Unterricht findet dort natürlich mit Musik statt, das Lehrerpaar geht bei den Übungssequenzen auch auf die Schüler ein und gibt auch individuelle Hilfestellungen, wobei die Lehrer durchaus auch mit Schülern tanzen. Die Zusammenfasssung am Schluß sehe ich als zusätzliches didaktisches Element, die durch die Aufnahme und Präsentation auf der Webseite den Schülern den dargebotenen Inhalt zum "Nachlesen" zur Verfügung stellt. Zur besseren akustischen Wahrnehmung der Inhalte halte ich das Weglassen von Musik bei diesem Teil für sehr sinnvoll. Das Ganze soll sicherlich kein Lehr-Video darstellen und ich fand es schon hilfreich und sehe es als Service für die Schüler. Klar dient es auch der Werbung, aber das macht es nicht per se schlecht. Es kann natürlich sein, daß ich die Satire in diesem Beitrag nicht verstanden habe und daß dieser Komentar demnach völlig überflüssig ist. Aber damit werde ich leben können. Dem Rest der Ausführungen kann ich nur zustimmen.

    Grüße aus der schwäbischen Provinz

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  3. Lieber Edwin Klösel,

    zur den einleitenden Bemerkungen: Ich kann Kommentare nur insgesamt hochladen oder löschen. Insofern steht hier immer der gesamte, unveränderte Text, den ich von einem Leser bekomme. Und ich vertraue stets darauf, dass der mir angegebene Name der richtige ist.

    Zum Inhalt: Ich habe noch nie eine Unterrichtsstunde dieses Paars erlebt; dennoch ist mir schon klar, dass nicht die gesamte Lehreinheit so verläuft. Allerdings konnte ich auf den betreffenden Milongas oft dessen Schüler beobachten, und da vermisste ich schon die technischen Punkte, die ich in meinem Artikel beschrieben habe. Und zu welcher Musik wird in den Kursen geübt? Auch mal zu modernen Stücken?

    Mag sein, dass so ein Video als „Gedächtnisstütze“ dienen soll – nur sind wir da am entscheidenden Punkt: Sollte das zentrale Ziel einer solchen Stunde wirklich sein, dass die Schüler dann auswendig eine solche Schrittfolge heruntermarschieren? Und noch dazu ohne beispielhafte Anleitung zur musikalischen Umsetzung? Wenn „Schritteverkauf“ das Ziel ist, erfüllt so eine Aufnahme sicherlich ihre Werbewirkung.

    Es freut mich, dass die Lehrer auf die einzelnen Schüler eingehen und auch einmal mit ihnen tanzen. Das zu sehen wäre für mich eine größere Werbung gewesen und würde mir viel zu der Sichtweise der Unterrichtenden auf den Tango verraten – zusätzlich auch den Erfolg, der damit erreicht wurde.

    Jedenfalls bedanke ich mich sehr für den konstruktiven Beitrag, den ich gerne veröffentlicht habe.

    Beste Grüße aus Pörnbach
    Gerhard Riedl

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