Die verbogenen Regeln einer Milonga



Derzeit vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo im Netz ein Beitrag zu den Códigos der Milonga veröffentlicht oder verlinkt wird. Gerade wieder hat dies ein bekannter Tango-DJ, der es früher mit ziemlich unbraver Musik so richtig krachen ließ, auf Facebook unternommen, da er inzwischen ins Lager der „Law and Order-Fraktion“ gewechselt ist. Der Jubel aus dem Netz war vorprogrammiert nach dem Motto:
„Wir brauchen eine Anarchie – aber mit einem starken Anarchen!“
 
Es handelt sich um einen Text von Jean-Michel Ledeur, den der Schweizer Tangoblogger Patrick Rudin (nach wilder Salsa-Vergangenheit nun wohl ebenfalls ins Encuentro-Lager gewechselt) übersetzt und auf sein Blog gestellt hat:
http://tangoblog.ch/texte/regeln.html

Unter dem Titel „Die offensichtlichen sowie die verborgenen Regeln einer Milonga“ wird hier ein Konglomerat aus Selbstverständlichkeiten, ziemlich angreifbaren Einschränkungen und besserwissender Geheimnistümelei angeboten. Zum anfänglichen Statement, das sich durch den gesamten Artikel zieht, hat man nach bewährter Masche mal wieder einen „alten Milonguero“ aus dem Pflegebett gehoben und zum Sprechen gebracht: „Bailar bien no es igual que saber milonguear"  soll heißen, gut zu tanzen ist nicht dasselbe wie zu wissen, wie man, na ja, „milongiert“. Dieser (kaum übersetzbare) Begriff umschreibt ein Verhalten, welches sich im Grunde erst den erleuchteten Mitgliedern derjenigen Loge von Tänzern erschließt, welche nach Verinnerlichung aller verborgenen Regeln eine höhere Bewusstseinsebene erlangt haben.

Leider muss ich schon an dieser Stelle die kalte Dusche aufdrehen: Fast jede Sekte arbeitet genau mit dem Trick – erst ab Erlangen einer „höheren Erleuchtung“ (selbstredend nach den Regeln der Gemeinschaft) wird einem die Weisheit von Floskeln klar, welche man vorher wahlweise für Banalitäten oder schlichten Mumpitz gehalten hätte.

Eine kleine Auswahl der „offensichtlichen und verborgenen Regeln“:

„Laufe nicht gegen die Tanzrichtung“:
Äh, und wenn ich mich umgesehen habe (z.B. via Drehung) und da – im Gegensatz zu vorne – noch viel Platz ist?

„Bleibe in Deiner Spur: Vergleiche den Tanzfluss mit dem Autoverkehr: Stell Dir eine Autobahn vor, auf der ein Auto vor Dir dauernd die Spur wechselt…“
Na, das sagt mir was: Da gibt es ja diese gestrichelten Linien, welche man zum Überholen passieren darf – und das tun oft welche, sogar LKWs (den vergleichenden Kalauer überspringe ich jetzt)!

„Lasse die Füße immer am Boden“:
 Was, immer beide? Ach, deshalb kommen manche so gar nicht vorwärts!

„Tanze nicht, wenn auf der Tanzfläche das Chaos herrscht.
Hier wie an einigen anderen Stellen erkennt man, dass der Text bereits 2008 geschrieben wurde und daher noch Liberalitäts-Reste enthält. Die heutige Formulierung wäre: „Schmeißt alle raus, die Chaos verursachen!“

„Kleinräumige Platzwechsel: Führe die Tanzpartnerin an Deinen Platz, und tanze selbst an ihren Platz.“  
Na prima, und wie wir dann trotzdem vorwärts kommen, lernen wir in der nächsten Lektion…

„Drehe punktgenau (…) und setze Deinen Schritt außerhalb des Fußes der Partnerin.“ Ja doch, das habe ich im Schul-Tanzkurs schon gehört – der Dame auf den Fuß treten kommt nicht gut an!

„Beobachte die Umgebung beim Drehen (…) ich sehe so viele Führende, die nicht darauf achten, was um sie herum vor sich geht. Japaner scheinen für dieses Verhalten besonders anfällig zu sein.“
Na ja, aber dafür sind sie doch so klein und zierlich, was ihren Platzbedarf mindert! (Übrigens wird in dem Text auch eine Asiatin erwähnt, die viel zu hohe Boleos tanzt… Gut, dass der Artikel nicht von mir stammt – da wäre sowas purer Rassismus!)

"Nutze die Ecken der Tanzfläche oder Löcher in der Menge für großräumige Bewegungen. Das bringt Dir und Deiner Partnerin Entspannung und gibt Euch die Gelegenheit, die Figur zu tanzen, die ihr so sehr liebt."
Auch hier sieht man, dass der Text längst überholt ist: In eine sich bietende Lücke zu navigieren, heißt inzwischen „Haifischaktion“ und ist selbstredend genauso generell verboten wie großräumige Bewegungen!

"Sei geduldig und warte auf den Tanzfluss: Außer natürlich, das Paar vor Dir hält sich nicht an die Regeln :-) ...in diesem Fall musst Du einen Weg finden, ihm verständlich zu machen, dass es weitergehen kann."
Au ja, darf ich dann rempeln? Die gelbe Karte zeigen? Das Verhalten dem Veranstalter melden? Oder einfach sagen: „Wenn dich das Stück überfordert, dann hör doch auf!“ Habe ich bisher alles nicht gemacht, sondern vorsichtig überholt – da muss ich wohl noch viel lernen…

Satirisch hochinteressant ist auch die den Regeln vorangestellte Beschreibung der Lieblingsmilonga des Autors, welche das beste Tanzniveau aufweise, im Gegensatz zu Veranstaltungen wie Nino Bien, Salon Canning und sogar Club Sunderland“, welche „im Verlaufe der letzten paar Jahre zu einem ‚Zirkus‘ geworden“ seien, „das Tanzen macht dort keinen Spaß mehr“ (na, das wird die Betreiber dieser Traditionsmilongas bestimmt freuen…). In der Milonga „Cachirulo“ fänden 160 Gäste Platz, und dies bei einer Tanzfläche von 72 Quadratmetern – was bei vorsichtig geschätzten 60 Tanzpaaren einen Bewegungsraum von 1,2 qm pro Paar ergibt und so wohl automatisch die Bewegung von den Füßen zur Brust lenkt, was in dem Artikel ebenfalls als Vorzug des „Milonguero-Stils“ gepriesen wird.

Das Schönste aber kommt noch! Die Rolle der Gastgeber wird wie folgt beschrieben: „Norma begrüßt Dich, Hector weist Dir Deinen Platz zu, dieser ist abhängig von Deinen Tanzkenntnissen und Deiner Beliebtheit.“
Na, da kommt auf uns europäische Exiltänzer wohl noch einiges zu – ich würde als „Hardcore-Cabeceo-Verweigerer“ wahrscheinlich auf den Platz vor der Klotür verbannt oder gar nicht erst reingelassen…

„Cachirulo“ bedeutet im Spanischen übrigens „Kopftuch“, „Schnapsflasche“ oder langweiliger Typ" – auch hierzu verbeiße ich mir tapfer jeden Kalauer…

Hochinteressant ist auch der Aufhänger fürs Ganze:
Dramatisch wird beschrieben, dass dieser Hort der gepflegten Lebensart eines Abends von einem wilden Haufen furchtbarer Tänzer ‚überfallen‘“ wurde – „besser gesagt von Leuten, die nicht wissen und auch nicht wissen wollen, wie man sich auf einer Tanzfläche benimmt.“ „Böse Buben“ (weitgehend natürlich Ausländer) hätten das Parkett in ein „Schlachtfeld“ verwandelt. Dies ist wiederum eine ganz sektentypische Masche: Der Verfall der Sitten (oder die um sich greifende Gottlosigkeit, der Untergang des Abendlandes etc.) erzwinge geradezu eherne Regeln.

Altmeister Kurt Tucholsky schrieb einmal, wenn Hunde keinen Anlass zum Bellen hätten, würden sie sich einen erbellen. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass es vor zehn Jahren auf Milongas häufiger zu Notarzteinsätzen oder zumindest zum Herbeirufen von Kriseninterventionsteams gekommen wäre. Allerdings verfestigt sich bei mir der Eindruck, dass es heute mehr Menschen zum Tango zieht, welche sich gemeint fühlen, wenn in zehn Metern Umkreis einer lacht. Bei solchen Persönlichkeitsstrukturen freilich wird das Husten eines Flohs problemlos zum Donnergrollen…

Na, tanzt du noch oder milongierst du schon?

Ich meine, wir brauchen keine neue Definition, was „gutes Tanzen“ bedeutet. Rücksichtnahme und soziale Intelligenz waren hierin schon immer enthalten. Selbst in der Endrunde eines Tanzturniers kommt es bei den Wertungsrichtern schlecht an, wenn ein Paar in das andere rauscht. Und bei einer Ballettaufführung würde es der Primaballerina nicht gefallen, wenn ein Tänzer sie per Rückwärtsschwung in den Schwanensee befördert. Und schon gar nicht benötigen wir Regelaufsteller, die gegenüber Menschen mit einem individuellen Tanzstil eine bemerkenswerte Intoleranz beweisen. Auch hier würden die Zehn Gebote (und vielleicht no a bissel was von der Bergpredigt) reichen!

P.S. Mich gemahnen diese frommen Gesetzlein an die meist in der ersten Person Plural gehaltenen Wandtafelaufschriften in Grundschulen: „Wir schwätzen nicht.“ „Wir rufen nicht dazwischen.“ Mir fehlt dabei stets noch der Satz: „Wir stechen unseren Nachbarn nicht mit dem Zirkel in den Hintern.“  

Muss doch alles mal gesagt werden…

Grafik: www.tangofish.de

Kommentare

  1. Ein interessantes Fundstück aus der FAZ vom 13.10.14: Ein Artikel mit dem Titel „Adiós, Tango“ Darin heißt es:

    „Die Tango-Adepten, die es nach Buenos Aires verschlagen hat, müssten eigentlich an Ort und Stelle erfahren haben, dass es ‚den‘ argentinischen Tango gar nicht gibt, meint das Tangopaar Nau-Pereyra. Und mit noch einem Klischee versuchen sie aufzuräumen: dass der Tango in Argentinien inzwischen wieder von den Einheimischen für sich entdeckt worden sei. Dass Gegenteil sei der Fall. ‚Die Salons werden zu 80 Prozent von Ausländern und nur zu 20 Prozent von Argentiniern besucht‘, schätzt Nicole Nau, und unter den Einheimischen seien viele, die gar nicht wegen des Tanzvergnügens kommen, sondern um Schüler oder Arbeitsmöglichkeiten zu finden, wie etwa eine Kostümdesignerin ihr anvertraut hat.“

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  2. Wenn die Neuargentinierin und Blaue Mauritius Frau Nau das sagt, wird es wohl stimmen.So lange sie selbst nur zum Tanzen hingeht und nicht um eine Bühnenshow oder selbstgeschneiderte Fummel zu promoten ist ja alles im Mate Tee :-)
    MM

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    1. Immerhin interessant, dass sie nicht auf der Welle von "In Argentinien ist alles besser" mitschwimmt, obwohl das vom Marketing her für sie nicht schlecht wäre!

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  3. Meine junge argentinische Tanzlehrerin schwärmte vor ein paar Tagen von ihrem Berlinbesuch und den sehr guten und technischen Tänzern dort. "In Argentina it´s more natural." Was auch immer das heißen mag...
    MM

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