Des Kaisers neue Tandas


Per Zufall stolperte ich neulich über einen Artikel in der Zeitschrift „Tangodanza“ mit dem verwegenen Titel „TJ-Seminar total“ (Nr. 1-2019, S. 82-84).

Darin erfuhr ich schon einmal von einem mir unbekannten Verein in einer Stadt, deren Tangoevents ich bislang zu überblicken glaubte: den Augsburger „Tango en la estrella e.V.“. Offenbar veranstaltet man dort noch konservativere Milongas, als ich sie in der Lech-Metropole eh seit vielen Jahren gewohnt bin:

„Milongas in der WERKSTATT - Ein raumfüllendes Klangerlebnis für tänzerische Umarmungen auf schwingendem Parkett in gepflegter Ronda - traditionelle Musik in Tandas und Cortinas - gender balance - wechselnde TJ's/TJane's - vorwiegend samstags - Wir laden zu unseren Milongas persönlich ein und führen eine Gästeliste.
Tanzen, weil Musik erklingt - Seid unsere Gäste - Wir freuen uns auf EUCH!“

Das leuchtet natürlich ein – niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen, zu tanzen, weil keine Musik erklingt. Dies könnte ja fallweise zu Contact Improvisation oder neurologischen Überprüfungen führen. Und „gepflegte Ronda“ erinnert mich an einen Begriff, mit dem in meiner Kindheit Gasthäuser warben: „Gepflegte Biere“ – auch den habe ich nie verstanden…

Dennoch dürfte sich die Verheißung auf der Vereins-Website nur bedingt erfüllen: „Ein Ort für Tänzerinnen und Tänzer aus Augsburg und Umgebung und für Gäste aus aller Welt, die den Tango und die Musik lieben.“
„Urbi et orbi“ gibt es offenbar nur für ideologisch zuverlässige Liebhaber: Man muss sich per Mail um eine Einladung bemühen. Nicht mal der Ort, an dem sich das Ganze in den abgebildeten, edlen Räumlichkeiten abspielt, wird genannt. Mich erinnert das an einen meiner Lieblings-Psychiater-Witze:
„Die Selbsthilfegruppe für Schizoide trifft sich jeden Montag um 20 Uhr. Wir sagen Ihnen aber nicht, wo!“

Jedenfalls entstand wohl im Verein die Idee, einmal bei Europas Ronda-Pfleger Nummer eins in die Lehre zu gehen: Christian Tobler, von dessen legendären Bußpredigten wider den modernen Tango ich schon öfters berichtet habe:


Seine eigene Milonga (bei der ich übrigens Hausverbot habe) hat er zwar inzwischen aufgegeben, er bietet jedoch mit seiner Partnerin Monika Diaz diverse Musik-, Auflege- und Technikseminare sowie Highheel-Beratung an – europaweite eigene Dienste als „TJ“ eingeschlossen.

So fanden sich in den geheimen Räumlichkeiten des Vereins 5 Teilnehmer zu einem 6-tägigen „TJ-Workshop“ (3 Wochenenden) zusammen, der laut Angebot „36 Themen, zwei Übungen und sieben Diskussionen in 54 Stunden“ umfasst. Motto: Vorwärts in die Vergangenheit!"

Resultat: „Mindestens zwei von ihnen sind sich darüber einig, eine wunderbare Erfahrung gemacht zu haben, auch wenn der Hauptreferent nicht gerade ecken- und kantenlos ist.“

Die beiden Vertreter dieser Minderheit, die Ulmer DJane Friederike Collin und ihr Augsburger Kollege Peter Bußjäger, verfassten besagten Tangodanza-Artikel, in dem sie sich gegenseitig interviewen.

Nun kann man in einem solchen Text natürlich viele Aspekte streifen: Wie hat man von diesem Seminar oder dem Referenten erfahren, wieso gerade ihn ausgewählt, welche Probleme drückten einen, warum weckte gerade dieses Thema Interesse und vieles mehr. Dies tun die beiden Autoren sicherlich dar:

Beiden war Christian Tobler von früheren Veranstaltungen bekannt – und klar ging es ihnen darum, Tipps zur Audiotechnik, zur besseren digitalen Verwaltung und schöneren Gestaltung ihrer Musikprogramme zu erhalten.

Im Hauptteil eines solchen Artikels, so meine altmodische Erwartung, sollte es dann aber um den Inhalt des Seminars gehen. Dazu finde ich jedoch – bis auf wenige Details und viele wolkige Formulierungen, so gut wie nichts! Eventuell mussten die Teilnehmer ja ein Schweigegelübde ablegen für einen Artikel über's Seminar allerdings eine schlechte Voraussetzung...

In dieser Hinsicht führte vor allem eine Passage bei mir zu Schnappatmung: Peter Bußjäger beschreibt darin ein Problem, welches mich beim Augsburger Tango auch schon oft quälte:

„Warum passiert es mir ab und zu, dass ich mit bester Laune auf Milongas hingehe, aber mit schlechter Laune wieder weg? Kann das am Musicalizador liegen? Im Lauf von sechs Tagen müsste man der Sache doch auf die Spur kommen können, dachte ich. Und ich möchte ja nicht, dass mir als TJ so was auch passiert, da ich ebenfalls sporadisch auflege.“

Darauf die Frage seiner Kollegin:

„Und, weißt du es jetzt?“

Die alles umfassende Antwort:

„Ja!“

Okay, und nun? Butter bei die Fische? Nö. Themenwechsel…

So geht es fröhlich weiter: Auch von des Referenten toller Musikanlage wird zwar höchlich geschwärmt: „Ich hatte den Eindruck, der Sänger steht gerade mal drei Meter entfernt von mir auf der Tanzfläche und singt live, nur für mich“ (müsste ich bei diversen EdO-Aufnahmen nicht unbedingt haben). Aber eine zumindest ungefähre Beschreibung der verwendeten Tontechnik? Oder der eingesetzten Programme zur Musik-Verwaltung? Über des Kaisers neue Kleider erfahren wir kaum etwas.

Ach, doch: Instrumentale Tandas sollten aus nur drei Titeln bestehen. Wow!    

Auf die Frage nach einer Quintessenz schreibt Friederike Collin:

„Für mich heißt es konkret, meine Musik erneut intensiv zu hören, neu zu bewerten was sich gut, was sich sehr gut und was sich hervorragend zum Tanzen eignet. (…) Und dann werde ich beobachten, wie es bei den Tänzern und Tänzerinnen ankommt und gegebenenfalls weitere Änderungen vornehmen.“

So konkret wollten wir es wahrlich nicht wissen…

Zudem hört halt jeder, was er hören will: Während seine Kollegin von den Anregungen zum „Drive“ und „Spannungsbogen“ angetan war, gefällt Peter Bußjäger eher das Bild, eine Milonga solle plätschernd dahinfließen wie ein Bächlein. So ist doch für jeden was dabei!

Mehr erfahren wir vom Blickwinkel der Autoren – insbesondere der Augsburger DJ findet zeitgenössische Live-Musik auf CDs eher enttäuschend, und er bleibe immer wieder „bei der EdO hängen: die 16 Grande Orquestas und dazu De Caro und ein wenig ‚Orquesta Típica Victor‘ und solche Sachen“.

Andere Sachen gefallen ihm erwartungsgemäß weniger – insbesondere, „exotische und wenig inspirierende Tangos zu entdecken. Es kann auch nicht unser Job sein, konzertante Musik, die man vielleicht auch irgendwie vertanzen kann, zu präsentieren.“

Das führe dann halt zu neurologischen Problemen: „Wenn mir das Stück nicht in die Beine geht, sondern in die Birne, also im präfrontalen Cortex oder im limbischen System steckenbleibt, dann kriege ich es nicht hin, dann blockiere ich mich sozusagen in mich selbst hinein.“

Wenn der Schreiber durchs plätschernde Bächlein watet, „ist das überhaupt meine Idee vom Tango: Gehen zur Musik in einer Umarmung. Den ganzen Flitter wie Ganchos, Volcadas, Colgadas und solche Dinge, brauche ich kaum noch.“

Daher habe er auch schon Tandas mitten im Stück abgebrochen – nicht wegen der Partnerin, sondern aufgrund der eigenen Blockade. Es könne ja sein, dass er auch „einfach älter“ werde oder nach Ansicht einiger Leute eben „keine Ahnung“ habe…

Aber nicht doch, wer wird denn gleich an das Schlimmste denken!

So sehen wir wieder einmal – wie so oft bei den Geheimnissen traditionellen Auflegens – die Cortina zu und alle Fragen offen. Wie auch bei Andersens Märchen können eben nur Kluge die Pracht der restaurierten Knister-Hits wahrnehmen – und die Erkenntnis, dass der Kaiser in Wahrheit nackt daherkommt, bleibt wenigen und daher ignorierenswerten Renitenzlingen vorbehalten.

Wahrhaft Tröstliches erfahre ich immerhin am Schluss des Tangodanza-Artikels: Das Beste an einem Referenten ist seine Frau. Aber auch das weiß ich selber schon lange…

Hier der Original-Text:   

Und hier noch die Interpretation eines anderen Querdenkers:

Kommentare

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