Bin ich zu laut?

Auf einer Facebook-Seite für Tango-DJs habe ich einen interessanten Text gefunden. Ich fasse mal zusammen:

Beim Auflegen sei man stets bemüht, die beste technische Bearbeitung der alten Aufnahmen zu verwenden, oft mit viel Aufwand. Milongas seine aber laute Orte: Der Hintergrund-Geräuschpegel betrage oft 65 bis 70 dB.  

Zum Vergleich: Straßenverkehrs-Lärm rangiert in der Größenordnung von 70 Dezibel!

https://www.akustikform.ch/raumakustik/dezibel-skala

Vom Verfasser kurz gefragt: Was soll also das Ringen um beste Wiedergabe-Qualität, wenn sie eh keiner mitkriegt?

Meine Antwort: Viele Gäste begreifen den Sinn einer Milonga darin, das Maul aufzureißen statt die Ohren aufzusperren. Ich kenne selbst DJs, die mit ihrem Gequatsche die eigene Musik übertönen. Und sogar beim Tanzen haben manche Männer das Bedürfnis, die Musik mit klugen Reden zu begleiten.

Der Kollege und DJ Jochen Lüders hat dazu eine hinreißende Philippika verfasst, die ich dringend zur Lektüre empfehle:

https://jochenlueders.de/?p=13650

Kostprobe:

„Erstaunlich ist, dass gerade glühende EdOisten offenbar kein Problem damit haben, dass man ihre wunderbare Musik vor lauter Lärm oft kaum mehr hört. Herrje, was werden da ständig die feinen Phrasierungen' und die unnachahmliche Intonation' der alten Original-Aufnahmen gerühmt (‚Moderne Orchester können diese Feinheiten ja gar nicht mehr spielen‘). Oft wird dann auch noch ein erheblicher technischer Aufwand betrieben, damit alles nur ja optimal klingt. Man möchte meinen, die TänzerInnen und alle anderen Anwesenden würden der Musik andächtig lauschen – stattdessen hört man oft kaum etwas, weil die Leute so laut reden (der DJ quasselt oft noch lauter als die Tänzer). Vielleicht imitieren sie aber auch nur die Sitten in Buenos Aires, wo es ja offenbar üblich ist, am Anfang eines neuen Stückes erstmal eine gehörige Zahl von Takten zu verquasseln.“

Wenn der anfangs erwähnte Autor auf FB schreibt, es sei leicht anzunehmen, dass höhere Audioqualität ein besseres Tanzerlebnis bedeute, kommen nicht nur ihm Zweifel:

Die meisten Milonga-Besucher hören die Musik höchstens dann bewusst, wenn sie dazu tanzen sollen (wenn überhaupt). Und dann ist es vor allem wichtig, dass die Beschallung vertraut klingt – und das ist, je nach Präferenz, ein alter EdO-Hit oder eine simple Pop-Ballade: Rhythmus und Aufbau jedenfalls müssen tänzerischen Förderschul-Ansprüchen genügen.

Aufgeklärte Konservative verzichten ja längst – nach vielen Widerlegungen – auf den Begriff „Tanzbarkeit“: Stattdessen wird nun tapfer verkündet, die Musik müsse „zum Tanzen einladen“. Ich ahne mit Schrecken, was damit gemeint ist!

Vorbei sind die Zeiten, in denen Tanzende die Musik als Herausforderung begriffen. Heute ist es eher wichtig, dass sie nicht stört. Weder beim Gequatsche noch gar beim Tanzen!

Quelle: https://www.facebook.com/groups/TangoDJForum/permalink/3046264435540737

Als ich noch selber auflegte, bekam ich einmal von einer älteren Dame die Bitte, die Musik leiser zu drehen. Begründung: „Man kann sich ja gar nicht unterhalten“. Leider habe ich mir damals die Antwort verkniffen, meines Wissens veranstalte die Caritas Senioren-Gesprächskreise

Wahrlich: Nie war die Musik weniger wichtig als im heutigen Tango!

Auch in der klassischen Musik war es lange Zeit die Hauptaufgabe des „Begleiters“, dem Solisten nicht künstlerisch im Weg zu stehen.

Den heutigen Titel habe ich daher einem hinreißenden Buch von Gerald Moore (1899-1987) entnommen – eines Pianisten, dessen Ruhm sich vor allem auf die Begleitung von Sängerinnen und Sängern gründete. Legendär ist seine Einspielung aller Schubert-Lieder mit dem Bariton Dietrich Fischer-Dieskau.

Lange Zeit, so Moore, wurden die Begleiter der singenden oder geigenden Stars als „Klavierdackel“ nicht für voll genommen:

„Es schien mir Zeitverschwendung, einen Frack angezogen zu haben, denn der Künstler stand vor meiner Klaviatur, zwischen mir und den Zuschauern, und machte mich dadurch unsichtbar“, erinnert sich Moore an ein Konzert mit dem Geiger Josef Szigeti. „Und nachdem wir unsere Sonate gespielt hatten, nickte Szigeti, ohne zu lächeln, gnädig in meine Richtung – als ob er einen Kellner herbeirief – womit er mir die Erlaubnis erteilte, aufzustehen und für den Applaus zu danken.“

Moore hat viel dazu beigetragen, dass es heute etwas anders ist!

https://www.concerti.de/portraets/vom-begleiter-zum-partner/

https://www.amazon.de/Bin-ich-laut-Erinnerungen-Begleiters/dp/3761812124/ref=sr_1_1?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=1TGLM1N8Z1998&dib=eyJ2IjoiMSJ9.cDO8_TFSefZroafuGEQdwrGNI1Bhp3A3WTwEG5Ze1SsNUpZFuAeUEn0ZikaK1tyt2Tcuk6q1WaUjOxg20FRw63nE245PGxeN4dklqvnuy2U-2K73JTbsivQG52CcZkZKGOpqb350XUp20RCWKA3ibQ.2eO29ixdN91W56EcjhVNp0HupKZ9EqITSdDdrBInq1U&dib_tag=se&keywords=moore+bin+ich+zu+laut&qid=1751275944&s=books&sprefix=moore+bin+ich+zu+laut%2Cstripbooks%2C88&sr=1-1

Daher zum Genießen (hoffentlich quatscht keiner dazwischen):


https://www.youtube.com/watch?v=UrxAGwzMp_Q

Kommentare

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