Neue Wörter braucht der Tango!
„Schon gut! Nur muss man sich nicht allzu ängstlich quälen;
Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur
rechten Zeit sich ein.
Mit Worten lässt sich trefflich streiten,
Mit Worten ein System bereiten,
An Worte lässt sich trefflich glauben,
Von einem Wort lässt sich kein Jota rauben.“
(Goethe: „Faust – Der Tragödie erster Teil“)Vor anderthalb Monaten äußerte der Blogger-Kollege Jochen Lüders geradezu hellsichtige Vorstellungen zur „stärkeren Differenzierung von Milongas“:
„Liebhaber der historischen Musik tanzen auf ‚Edolongas‘, während man auf ‚Milongas‘ zu ‚modernen Arrangements‘ tanzt, also was heute noch oft abschätzig als ‚Cover‘ bezeichnet wird. Wer nicht nur zu Tango Sound tanzen möchte, geht wie bisher auf eine ‚Neolonga‘. Und dann gibt es ja vielleicht irgendwann mal wieder – die Hoffnung stirbt zuletzt – ‚Mixlongas‘ mit einer Mischung aus ‚normalem‘ Tango und anderen Musikstilen. Es hat sich bewährt, die verschiedenen Stile mit (ungefähren) Prozentzahlen anzugeben, bei mir wäre das dann z.B. 25% Moderner Tango / 75% Non/Neo.“
https://jochenlueders.de/?p=17196
Gesagt, getan: Neulich las ich die Einladung zu einer „Mixlonga“, was mich irgendwie an colahaltige Mixgetränke der Kategorie „Spezi“ erinnerte. Vielleicht deshalb sprach man schließlich von „Milonga mixta“.
Nur sollte man das dann nicht als „Premiere“ ankündigen: Vor 20 und mehr Jahren hieß sowas einfach „Tangoabend“ – eine ziemlich bunte Musikmischung war da völlig normal. Später klauten uns die Konservativen den Begriff „Milonga“, gerne auch mit dem Zusatz „traditionell“. Dass die Argentinier sintemalen auf ihren Tanzevents ganz selbstverständlich auch andere Rhythmen („otros ritmos“) spielten, wird schamhaft verschwiegen.
Übrigens stammt die Lunfardo-Vokabel „Milonga“ wohl aus der afrikanischen Bantu-Sprache und bedeutet „Gerede“ – im heutigen Spanisch (in der Mehrzahl: „milongas“) auch „Lug und Trug“. Da ist eine Satire überflüssig…
https://de.wikipedia.org/wiki/Milonga
Persönlich bin allerdings strikt dagegen, das Angebot der Tangoveranstaltungen noch weiter zu zersplittern. Das mag ja in Großstädten funktionieren, nicht aber auf dem flachen Land, wo man dann viele Kilometer bis zur nächsten „Spartenmilonga“ zurücklegen muss. Das geht ins Geld und produziert eine Menge Kohlendioxid.
Im Lauf der Jahre wurde ich im Tango immer wieder mit Wort-Neuschöpfungen bedient – verbessert hat sich dadurch genau nichts.
So war mir das Wort „Cabeceo“ in der ersten Version meines Tangobuches gerade mal einen halben Satz wert (S. 335). Welches Getöse sich später um die Blinzel-Aufforderung entspann, ahnte ich damals noch nicht. Geholfen hat es wenig. Gerade ältere und wenig bekannte Frauen sitzen nach wie vor oft lange Zeit ohne Tanzpartner herum.
Die Ankündigung einer Veranstaltung in unserer Frühzeit wird mir unvergesslich bleiben: Die Rede war von „Milonga con Cortina“. Ich vermutete zu der Zeit, eine mir bislang unbekannte DJane würde auflegen. Am Mischpult saß aber die mir vertraute Veranstalterin. Auf Nachfrage erklärte man mir dann die Begriffe „Cortina“ und „Tanda“. Dass die musikalischen „Vorhänge“ mich oft mehr zum Tanzen reizen, hat sich nicht geändert. Ebenso wenig, dass ich seither nur jede Viertelstunde auffordern darf statt, wie früher, alle dreieinhalb Minuten.
Auch eine „Ronda“ kannten wir seinerzeit noch nicht. Klar, wir tanzten halt, wie wir es in der Tanzschule gelernt hatten, im Gegenuhrzeigersinn – und versuchten, möglichst niemanden zu behindern oder gar zu rempeln. Das Gedöns, welches dazu später veranstaltet wurde, wäre uns ziemlich lächerlich vorgekommen:
„Ich bin sicher, dass jeder von euch diese Situation kennt. Auf der Tanzfläche herrscht das Chaos. Die Tänzer rennen wild durcheinander (als Tanzen kann man das nämlich nicht mehr bezeichnen), durch die Mitte, meilenweit entgegen die Tanzrichtung, wild links und rechts überholend.“
Ich frage mich schon, auf welchen Veranstaltungen sich Kollegen rumtreiben!
Als Ziel gibt man heute „achtsames Tanzen in der gepflegten Ronda“ aus. Okay, auf dem Parkett tummelt sich ja heute eine zunehmende Zahl künftiger Pflegefälle!
Mir würde es reichen, wenn man den Begriff auf die Stadt Ronda in der andalusischen Provinz Malaga beschränken würde, deren Einwohner sich übrigens „Rondeños“ nennen – o Gott, nicht dass man diesen Begriff nun auch für den Tango kapert…
https://de.wikipedia.org/wiki/Ronda
Wichtig ist weiterhin, dass man auf dem „Definitions-Misthaufen“ aufbaumt und erklärt, was denn „kein Tanzen“, „kein Tango“ etc. sei. Oder „untanzbare Musik“.
In einem Artikel habe ich eine Studie zu diesem Thema behandelt, in der die Autorin von „Tango-Tanzbarkeit“ spricht.
https://milongafuehrer.blogspot.com/2024/05/kendra-stepputat-und-die-tanzbarkeit.html
O je, was soll das nun wieder sein? Musik, die man mit Tangoschritten interpretieren kann? Wie man auf den Neolongas sieht, klappt das aber so gut wie immer! Oder sind das Stücke, die bereits mit der durchschnittlichen Begabung Tangotanzender umsetzbar sind? Das würde die Auswahl drastisch einschränken! Fragen über Fragen…
Derzeit bastelt man heftig daran, die Tangowelt in „Führende“ und „Folgende“ einzuteilen – angeblich zwei grundverschiedene Baustellen. Wohl schon deshalb, um bei der Anmeldung Quotierungen zu ermöglichen. Was aber, wenn einer wie ich öfters das mittanzt, was die Partnerin als geführt vermutet? Oder wie Jochen Lüders es formuliert, die „Tunix-Fraktion“, deren bekanntester Vertreter ich sei.
https://jochenlueders.de/?p=15907
Ich fordere daher eine dritte Schublade, die man „divers tanzend“ nennen könnte.
Was wir einst als „Tanzhaltung“ bezeichneten und darin ein technisches Hilfsmittel sahen, wird heute als „Umarmung“ (sorry: „Abrazo“) zur Glücksgarantie aufgeblasen.
https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/12/der-abrazo-und-die-kuschel-lyrik.html
Und im Gegensatz zum Islam, welcher die 72 Jungfrauen erst dem dahingeschiedenen Märtyrer verheißt, warten sie in der Tango-Religion bereits auf dem diesseitigen Parkett. Na gut, „Jungfrauen“ ist etwas untertrieben – eher sind es geschiedene Mütter mit Erfahrungen im Sorgerechtsstreit…
Merke: Die Füße still und die Griffel sensitiv!
Wie geht es mit dem Tango weiter? Immerhin erhielt die DJane auf der oben genannten Veranstaltung jubelnden Beifall. Das lässt hoffen. Daher fürchte ich im Tango derzeit weniger die Musik als neue Wort-Monstren. Oder, wie es in einem alten Programm der Münchner Lach- und Schießgesellschaft hieß:
„Ihr lebt mit völlig neuen Verben – und Schiller musste sterben.“
P.S.
Und wer noch nicht wissen sollte, wie man eine Frau umarmt, kann es hier
lernen. Aber erst ab der Mittelstufe:
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