Kendra Stepputat und die „Tanzbarkeit“

Über Heinz Duschaneks Podcast „Cabeceo“ habe ich schon zwei Artikel geschrieben:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/08/verschwurbeltes-aus-der-altherren-liga.html

https://milongafuehrer.blogspot.com/2024/03/cambalache-trodelladen.html

Seine neueste Ausgabe preist er auf Facebook nun unter anderem mit der Frage an: Wie ist die Musik beschaffen, um als nahezu untanzbar zu gelten?“

Nachdem erst neulich ein Kollege von „absolut untanzbar“ schrieb, war ich nun neugierig, was denn „nahezu untanzbar“ bedeuten könnte. Und freute mich auf satirisch Verwertbares.

Als Gesprächspartnerin hat der Podcaster diesmal Kendra Stepputat ausgewählt, ihres Zeichens Assoziierte Professorin am Institut für Ethnomusikologie der Kunstuniversität Graz (KUG). Ihre Forschungsschwerpunkte sind balinesische Musik und Tanz sowie Tango argentino – zwei nahe verwandte Tanzformen also.

Ich habe die Autorin bereits vor sieben Jahren entdeckt und einen Text von ihr besprochen, in dem sie zu den „Pilgerreisen nach Buenos Aires“ eine Menge Unkonventionelles zu sagen hat. https://milongafuehrer.blogspot.com/2017/07/business-aires.html

Nun hat sie ein neues Buch veröffentlicht: „Dance Tango Music – A Choreomusical Exploration of Tango Argentino“. Selber tanzt sie seit 21 Jahren.

Zweifellos ein ziemlich unabhängiger Geist – daher habe ich mir die gut 80 Minuten des Gesprächs gerne, wenn auch nicht ohne Mühen, angetan.

Leider verplempern die ersten Minuten mit spannenden Definitionsfragen zu „Musikethnologie“ und „Ethnomusikologie“, Anthropologie, Psychologie und Musiksoziologie. Heinz Duschanek ist wirklich ein Meister in der Kunst, Intros zu versemmeln! Immerhin erspart er uns aber diesmal die Frage, wie seine Gastgeberin zum Tango gekommen sei,,,

Frau Stepputat ist durchaus feministisch drauf, was man bei der anschließenden Debatte zu den „Führungsfragen“ merkt – während der Interviewer sich hörbar schwertut, sich mit einem „Übermaß an Freiheit“ im Tango zu befreunden. Es erstaunt ihn auch, dass Queer Tango in Buenos Aires weit verbreitet ist.

Auch zum Cabeceo hat die Autorin durchaus eigenständige Ansichten. Wegen ihrer Schüchternheit findet sie diese Aufforderungsweise „fürchterlich“ – allerdings ist sie ebenso wenig begeistert, wenn sich ein Herr vor ihr aufbaue und seine Hand ausstrecke. Leider konzentriert sich das Gespräch dann auf das Problem, mit wem man nicht tanzen wolle – im Tango ja ein Hauptthema. Selber führt die Wissenschaftlerin inzwischen lieber und tanzt mit Frauen.

Auch ihre Aussage, Tango sei nicht erotischer als andere Tänze, irritiert Duschanek hörbar. Dafür muss er sich einen Vortrag über Pheromone anhören – und zur „Deerotisierung“ des Tango durch Lehrkräfte, um ihn massenkompatibler zu machen.

Längere Zeit dreht sich das Gespräch um die unterschiedlichen musikalischen Moden des Tango, die es in den letzten Jahrzehnten gab. Auch diese Einordnungen finde ich durchaus interessant.

Ausführlich berichtet Stepputat über ihr Forschungsprojekt zur „Tango-Tanzbarkeit von Musik“. Sie sieht hier zwei Grenzen: Wenn die Musik derart viel „Gehirnschmalz“ besetze, dass man nicht mehr frei improvisieren könne, mache es keinen Spaß. Andererseits: Wenn die Musik so langweilig sei, dass sie nicht zur Improvisation anrege, sei das ebenso mühsam. Ich finde schon diesen Ausgangspunkt fraglich: Je stärker mich die Musik fordert, desto mehr Vergnügen habe ich an einem Tanz – selbst wenn dann nicht alles gelingt.

Auch bei einem anderen wichtigen Ansatz der Autorin komme ich ins Grübeln: „Je mehr man Musik gut kennt, desto wahrscheinlicher findet man sie gut tanzbar.“ Nö, also wirklich nicht! Ich kenne viele hundertmal gespielte Aufnahmen, die sich wie Bleigewichte an meine Beine hängen – und habe öfters zu völlig unbekannten Stücken getanzt, von denen ich hin und weg war. Leider beschreibt Kendra Stepputat hier aber tatsächlich die Einstellung weiter Tangokreise.

Um den Effekt der Wiedererkennung auszuschließen, hat sie von einem Komponisten vier neue Tangos schreiben lassen: einen „idealen Tango“ mit allen üblichen Versatzstücken („stinklangweilig“), einen „falschen“ mit „wilden Harmonien“, einen Tango mit „melodischem Wirrwarr“, das ständig ineinander übergeht, und schließlich einen mit ungeraden, ständig wechselnden Phrasen.

Ich finde die Hörbeispiele (ab 39:40) sehr interessant!

Mit diesen vier Teststücken zog die Autorin nun durch diverse Tangoszenen und fragte nach der Tanzbarkeit, der jeweiligen Lust zu tanzen. Und siehe da: Das erste Beispiel ging als Sieger hervor! Ach, echt? Also, darauf hätte ich ohne Reihenuntersuchungen auch gewettet…

Am wenigsten überzeugte Nummer zwei, also das Stück mit den „wilden Harmonien“. Das ist tatsächlich bemerkenswert, da es bei den „Tanzbarkeits-Debatten“ meist um den Rhythmus geht. Doch die Tanzenden schätzen den „Wohlfühl-Charakter“ und orientieren sich an den Harmonien. Ich habe beim Auflegen immer wieder festgestellt, dass zuckersüße Schnulzen stets das Parkett füllen. Vielleicht besteht da ein Zusammenhang. Dennoch hätte ich selber die Nummer vier gewählt.

„Musiker, die für Tänzer spielen wollen, können nur dann richtig Tanzmusik spielen, wenn sie selber tanzen.“ Diese Aussage der Autorin kann ich grundsätzlich bestätigen, da ich es immer wieder bei unserer „Dorfkapelle“ erlebe. Ich bezweifle aber, dass viele Tangomusiker selber tanzen, auch wenn Frau Stepputat das behauptet. Waren Leute wie D‘Arienzo, Troilo oder Di Sarli begeisterte Tänzer? Davon habe ich noch nie gehört!

Die Wege zum musikalischen Tanzen seien vielfältig, man müsse sich jedoch intensiv mit den Stücken auseinandersetzen, sich vieles immer wieder anhören, Orchester kennenlernen. Und die Bewegungsqualität der Schritte variieren. Es gibt ein Repertoire von typischen Aktionen zu bestimmten Akzenten der Musik. Und man braucht genug Platz, um die Musik zu interpretieren. Auch damit stimme ich völlig überein.

Den Knaller hat sich die Autorin für den Schluss aufgehoben: „Je länger jemand in einer Community drin ist, desto wahrscheinlicher, dass er oder sie dieselben Dinge schön findet, die die anderen auch schön finden.“ „Welche DJs werden wohin eingeladen, und wie stark homogenisiert das die Szene?“ Nach ihren Untersuchungen legten relativ wenige DJs auf vielen europäischen Events auf, und das etabliere eine Norm, was als tanzbar empfunden werde. Genau gegen diese Inzucht schreibe ich seit vielen Jahren an!

Sie habe in einer früheren Studie den Tanzenden kurze Tango-Tracks vorgespielt mit der Frage: Tanzbar oder nicht? Weiterhin habe man die Tangoerfahrung und Vernetzung der Probanden eingeschätzt. Ergebnis: „Je mehr jemand integriert ist in diese internationale Szene, desto kleiner ist die Auswahl dessen, was diese Person als tanzbar empfindet.“ Nötiger noch als die Umarmung scheint in der Szene das Schmoren im eigenen Saft zu sein!

Eine Ausnahme scheinen Menschen mit einer musikalischen Ausbildung zu sein: Dann tanzen sie auch nach Jahren noch gerne zu vielfältiger Musik. Auch das bestätigt meine These: Für den Großteil der heutigen Aktiven ist Musik eher Nebensache! Sie muss nur vertraut" klingen.

Am Ende kommt noch die beliebte Gretchenfrage: Wie hältst du es mit Piazzolla? Da windet sich die Autorin ziemlich: Na ja, wenn man genug Platz und Erfahrung hat, und nach Mitternacht… So richtig „milongatauglich“ sei diese Musik aber nicht. Den Grund finde ich zumindest originell: Schließlich habe der Meister beim Komponieren kein tanzendes Publikum im Kopf gehabt. Und, wie wir ja wissen: Gute Komponisten, Arrangeure und Musiker haben das tanzende Publikum vor sich, wenn sie Tangos schaffen.

Na gut, das sollten wir dann mal Leute wie Gershwin, Bernstein oder McCartney fragen…

Hier der Podcast zum Anhören:   

https://www.podcast.de/episode/630249311/kendra-stepputat-was-erforscht-du-am-tango-argentino

Ich finde das Gespräch sehr interessant – weil man es mal gewagt hat, mit jemandem zu reden, der nicht den üblichen Mainstream-Käse nachbetet. So nach dem Motto: Das ist so, weil es die anderen auch so sehen…

Und wenn Heinz Duschanek an seiner Fragetechnik arbeitet und Gäste einlädt, die sich auch noch flüssig und wenig redundant äußern, kann das richtig spannend werden!  

P.S. Und hier noch eine kurze Vorstellung der Autorin:

https://www.youtube.com/watch?v=Lqsq-4TGIQ0

Zur Homepage des Forschungsprojekts: https://www.dancetangomusic.com/

Kommentare

  1. Und hier die offizielle Homepage des Forschungsprojekts: https://www.dancetangomusic.com/

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    1. Vielen Dank! Ich habe den Link in den Artikel übernommen.

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