Der Abrazo und die Kuschel-Lyrik

 

Über den Autor Dimitris Bronowski („Tangofulness“) habe ich schon berichtet:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/01/hach-prosa-vom-ceo.html

Er bringt sich auf Tangoforen immer wieder ins Gespräch, indem er die Leser mit Fragen beschäftigt. Aktuell will er auf Facebook wissen:

„Stell dir vor, ein alter Tänzer in einer Milonga sagt zu dir:

‚Tango wird nicht in Jahren gemessen. Man misst ihn in...'

Was wäre das Ende dieses Satzes?

Ich schreibe einen Tango-Roman und verspreche, Deinen Namen in die Danksagung am Anfang des Buches aufzunehmen, auch wenn ich Deine Antwort nicht verwende“

Häufig genannt wurden „Umarmungen“, „Glücksmomente“ und sonstiges Gefühltes.

Quelle:

https://www.facebook.com/groups/TangoBayern/permalink/6998274990266577

Das fällt mir im derzeitigen Tango zunehmend auf. Gerade die „Umarmung“ (besser noch: „Abrazo“) wird geradezu als Heilsversprechen beworben.

Ich habe einige Beispiele aus der Kuschel-Lyrik zusammengesucht:

„Der argentinische Tango ist faszinierend! Ein Tango Paar zu sehen, dass mit seinem Tanz die Seele berührt, öffnet das Herz und man weiß intuitiv, so kann Beziehung zwischen Mann und Frau im besten Sinne sein: intim, lustvoll, dem Moment und der Musik hingegeben, spannend, ein fließendes aufeinander achten und beantworten der Körperimpulse, was das Schönste in der Frau und Edelste im Mann hervorbringt. Es ist spürbar ein Genuss für den Betrachter und eine wunderschöne Erfahrung, miteinander zu tanzen. (…)

Der Argentinische Tango hat keine Tanzhaltung, sondern die Umarmung.“

Verübt hat diesen Text eine Diplompsychologin, die auch Seminare wie dieses anbietet:

„In der Liebe auf die Seele schauen Tango und Beziehung: Einander umarmen“

https://www.newslichter.de/2021/11/tango-argentino-eine-umarmung/

Schön sind ebenfalls die Anmerkungen zu einem Video:

„Die kulturellen Wurzeln des Tango und seine formale Struktur lassen diesen Tanz zu einer komplexen Erfahrung nicht nur auf physischer, sondern auch auf psychischer und emotionaler Ebene werden. Diese formale Struktur basiert auf der Verbindung, el Vínculo. Genau diese Suche nach Verbindung zu den eigenen Emotionen, mit dem eigenen Körper und mit der Physis des Anderen wird zum wertvollen Instrument für alle, die sich mit Aktivitäten aus dem Bereich der kreativen sowie therapeutischen Bewegung befassen". Aus „Im Kontakt mit der Realität“, Logos Verlag, 2015.

https://www.youtube.com/watch?v=oEgqOJuijHc

Zu dem Thema lassen sich auch romantische Bilder verkaufen:

Tango Argentino ist ... getanzte Leidenschaft, ein nonverbaler Dialog, Hingabe, und noch vieles mehr. Was diesem außergewöhnlichen Tanz einen ganz besonderen Zauber verleiht ist die innige Umarmung. Diese magische Verbindung ausdrucksstark darzustellen, war für mich das Ziel bei der Erschaffung der Zeichnungen und Gemälde in diesem Kalender.

https://www.calvendo.com//index.cfm?rw=true&detail=tango-argentino-zauber-der-umarmung&rw=true&id=galerie&s=tag:tango%20argentino

Und wir wären nicht in Deutschland, wenn Tangolehrern nichts zur „richtigen Umarmung“ einfiele:

http://tango-kurs.com/mein-kleiner-tangokurs-die-richtige-umarmung/

Die passende satirische Fallhöhe weist auch ein Video auf, in dem uns ein Lehrerpaar – unablässig redend und selbstverständlich ohne Musik – über zehn Minuten lang in die Technik des Umarmens einweist:

https://www.youtube.com/watch?v=p7OO6ZGiwME

Da warte ich nur noch auf Lehrgänge mit dem Titel „Der korrekt ausgeführte Geschlechtsverkehr“ (oder gibt’s die schon?).

Echt, Leute: Muss man das alles wirklich erklären? Wir sind doch beim Tango mehr als volljährig und haben schon die eine oder andere Person des gegenteiligen Geschlechts in die Arme geschlossen (von Schlimmerem gar nicht zu reden)! Da sollte man doch ein Gefühl dafür entwickelt haben, was dem anderen angenehm, lästig oder gar bedrohlich vorkommt – oder, schrecklicher Verdacht: Sammeln sich beim Tango all diejenigen, welche das bis heute nicht gerafft haben?  

Beim Blick aufs Milonga-Parkett könnte man es manchmal glauben…

Ist die „richtige Umarmung“ wirklich für alle gleich – unabhängig von Köpergröße, Statur, Bewegungsgewohnheiten, mentaler Einstellung und gar Musik? Und muss sie stets eng sein? Oder doch lieber flexibel?

Ich muss bei dem Thema der Autorin Lea Martin durchaus recht geben (was sie sehr verwundern dürfte), wenn sie sich „wie ein störrischer Esel“ gegen die Aneinanderpapp-Pflicht sträubt:

Bin ich verklemmt...? Zu verkrampft für Tango...? (…)

Plötzlich erinnere ich mich, im Unterricht gehört zu haben, dass der Mann (…) zur engen Umarmung einladen darf, aber akzeptieren muss, wenn die Folgende nicht folgt. Mir fällt ein, dass es also die Frau ist (in der Theorie jedenfalls), die den Abstand bestimmt, und ich ahne die Lösung meiner Bredouille.“

https://www.tangosociety.de/tango-eng-oder-offen-tanzen

 „Eng oder offen?“, so der Titel ihres Textes, kann halt fallweise so oder anders passen. Und es ist sogar erlaubt, mal den Körperkontakt ganz oder teilweise aufzugeben. Natürlich nur, wenn beide auch selbstständig tanzen können.

Natürlich ist die „Umarmung“ im Tango nichts anderes als eine Tanzhaltung, die eine Kommunikation per Bewegung ermöglicht. Aber heute wird die Bedeutung des „Abrazo“ in der Szene geradezu mystisch überhöht, als neue Lebensqualität gepriesen. Das erinnert mich an Sekten, die ja auch von bestimmten Mantras oder anderen kultischen Handlungen leben.

Immer wieder lese ich, die Qualität eines Tanzes bestimme sich durch die „Verbindung“ – mit dem Partner und der „gepflegten Ronda“. Vom Tanzen ist nur noch selten die Rede, und von der Musik gar nicht mehr. Und bei Altmeister Cassiel haben wir ja gelernt, „umarmungsfokussiert“ und nicht etwa „bewegungsfokussiert“ zu agieren.

Klar, auch wir von der „Tango-Vorkriegsgeneration“ wussten es zu schätzen, mal eine Person des anderen Geschlechts in nächster Nähe umärmeln zu dürfen. Nur haben wir daraus kein solches Gedöns gemacht. Und die meisten von uns wussten, dass dies nicht das Endziel darstellte, sondern die Voraussetzung für einen schönen Tanz bildete.

Wie wäre es, wenn man sich in Zukunft nur noch zu einer passenden Ronda im Kreis aufstellt und sich dann (nach 30 Sekunden Gerede) einfach drei Minuten im Stehen gar kuschelig umarmt? Keine Behinderungen, kein Gerempel mehr – und es würden Kurse reichen, bei denen man die kunstvolle Umschlingung des Gegenübers erlernt!

Dazu vielleicht eine Art Meditationsmusik – etwas aus der Preislage „Esoterik-Canaro“?

Wenn es im Tango keine Tanzhaltung mehr gibt, könnte man doch auch auf den Tanz verzichten!

Und was Herrn Bronowski betrifft: Den Tango misst man… gar nicht. Denn wenn man das unternähme, wäre er tot. Der Autor darf dieses Zitat gerne verwenden. Allerdings nur, wenn er mich nicht in seinem Buch erwähnt!

Mein Tangofreund Peter Ripota berichtete einmal von seiner ersten Tangolehrerin, die ihren Schülern wilde Figuren beibrachte. Öfters erhob sich die Frage: „Wie zählt man da?“ Darauf sei die Dame fuchsteufelswild geworden: „In der Liebe zählt ihr doch auch nicht!“ Peters zutiefst österreichischer Kommentar: „Na, wer weiß?“

Zum Weiterlesen:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2017/06/umme-engarmung.html

https://milongafuehrer.blogspot.com/2017/06/umme-engarmung-ii.html

https://milongafuehrer.blogspot.com/2017/07/umme-engarmung-iii.html

Kommentare

  1. Die Umarmung: „Echt, Leute: Muss man das alles wirklich erklären?“

    Wie immer beim Tango lautet die Antwort: Es kommt darauf an.

    Wenn man nur ein bisschen herumtanzen möchte oder auf einer Milonga irgendwie zurechtkommen möchte, dann geht’s vielleicht auch ohne.

    Aber, wenn Mann/Frau seinen/ihren Tango entwickeln möchte, damit er möglichst entspannt und schön wird, dann wird man sich auch eingehend mit dem Thema „Umarmung“ beschäftigen müssen.

    Und in ihrem Video zeigen Ricardo und Raquel viele der Grundlagen. (Ok, über den dort gezeigten Umgang mit dem Becken kann man endlos diskutieren.) Aber, wenn ich auf die Tanzfläche einer real existierenden Milongas schaue, wünsche ich mir oft, dass sich diese Gedanken aus dem Video bereits weiter herumgesprochen hätten.

    Nun, ich bin beim Tango auch nicht immer das bravste Schaf auf der Weide. Aber ich bemühe mich zumindest, diese Themen immer weiter umzusetzen. Immer weiter.

    Und hier mal grundsätzlich: Wenn sich Tangoschaffende engagieren, andere Tänzer weiterzubringen und dies auf dem professionellen Niveau tun, wie es im Video präsentiert wird, wünsche ich mir, dass dies auch entsprechend wertgeschätzt wird.

    Beste Tango-Grüße,
    Joachim.Gebhardt@detawadi.de

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Lieber Joachim Gebhardt,

      falls man auf Milongas mehr will als „ein bisschen herumzutanzen“, braucht man also Tangolehrer… und bei denen lernt man dann die einzig richtige Umarmung.

      Wenn man sich Bilddokumente aus der über hundertjährigen Geschichte des Tango anschaut, könnten einem bei dieser Vielfalt schon Zweifel kommen. Und wie haben die damals eigentlich, ganz ohne Tangoschulen und Lehrkräfte, Tanzen gelernt?

      Andererseits: Wie umarmen wir Menschen, die wir mögen, in die wir vielleicht sogar verliebt sind? Braucht man dazu Kurse und Coaching?

      Auf den Tanzflächen real existierender Milongas sieht man vor allem viele Leute, die eine Menge Kurse und Workshops absolviert haben, bei denen sie gelernt haben, so zu tanzen wie ihr Lehrpersonal – bei vielleicht ganz anderem Körperbau, einem abweichenden Bewegungsstil, einer unterschiedlichen Mentalität. Ich wünschte, man würde sich mehr auf sich selbst besinnen statt zur lebenden Blaupause zu werden!

      Und wenn man dann die „perfekte Umarmung“ beherrscht, hat man sich noch keinen Meter mit dem Partner bewegt – vulgo: getanzt.

      Aus meiner Sicht wird der Umarmung im heutigen Tango eine viel zu große Bedeutung beigemessen. Das war der Kern meines Artikels.

      Ich habe auch Probleme mit Begriffen wie „Tangoschaffende“ (was schaffen die eigentlich?). Es sind schlicht Tanzlehrerinnen und Tanzlehrer, die Unterricht gegen eine Vergütung anbieten. Das darf man loben oder, wenn es einem nicht gefällt, auch kritisieren, ohne sich einer mangelnden „Wertschätzung“ schuldig zu machen.

      Danke für den Beitrag und beste Grüße
      Gerhard Riedl

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.