Widerstand des Lumpenproletariats

Es sieht so aus, als dräue unserem Land eine neue Partei: „Widerstand 2020“ nennt sich eine Gruppierung – der Name spielt wohl bewusst auf den Artikel 20 (4) unseres Grundgesetzes an:

„Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Für viele, welche sich derzeit auf den „Anti-Corona-Demonstrationen“ lautstark zu Wort melden, ist dieser Fall wohl schon eingetreten: Die Regierenden hätten die Grundrechte bereits weitgehend abgeschafft – daher wird ein „Widerstandsrecht“ proklamiert, behördliche Verfügungen werden ignoriert, und fallweise greift man bereits zu Gewalt gegen Polizeibeamte.

Dass man seine Behauptung ad Absurdum führt, da man ja durchaus demonstrieren darf (halt unter Beachtung der Abstandsregeln und meist in verminderter Personenzahl) schert solche Zeitgenossen natürlich nicht. Ebenso wenig, dass natürlich, wenn schon, „andere Abhilfe“ durchaus möglich ist: Immer noch gilt die Meinungs- und Pressefreiheit – gerade im Internet darf man doch folgenlos fast jeden Quatsch posten – und von einer Abschaffung demokratischer Wahlen habe ich bislang auch noch nichts gehört.

Weniger bekannt ist, wie sich so eine Art von „Corona-AfD“ überhaupt formiert. Ich habe einmal nachgelesen:

Gründerin ist die 36-jährige Victoria Hamm, die wohl eine Art Partnerschafts-Coaching-Agentur betreibt. Im Gespräch mit ZDFheute sagte sie, dass sie erst vor drei Wochen die Webseite aufgesetzt habe, weil sie sich angesichts der Corona-Maßnahmen machtlos gefühlt habe und „Widerstand leisten wollte". Davor sei sie politisch nicht aktiv gewesen.

Per Mail kontaktierte sie den Leipziger Rechtsanwalt Ralf Ludwig. Nach einem Treffen beschlossen die beiden, dass sie zusammenarbeiten wollten, aber noch einen prominenten Unterstützer bräuchten. Dieser fand sich in dem HNO-Arzt Bodo Schiffmann, der in Sinsheim eine „Schwindel-Ambulanz“ betreibt (den Kalauer verkneife ich mir heldenhaft). Der hatte schon durch zahlreiche YouTube-Videos zum Thema von sich reden gemacht.

Vorgestern hat Victoria Hamm, die bisherige Vorsitzende und Schatzmeisterin, aber bereits wieder hingeworfen und ihren Austritt erklärt. Auf ihrer Facebook-Seite schreibt sie dazu unter anderem:

„Was mich zu diesem Schritt bewegt, ist der innere Prozess des Entstehens der Partei.
Es werden Entscheidungen getroffen, mit denen ich mich nicht identifizieren kann. Die strikt basisdemokratischen Entscheidungsprozesse, die ich mir wünsche, sind in diesem rasanten Aufbau wohl leider nicht möglich.
Die gesunde innere Entwicklung von der Ein-Themen-Partei zur Partei der Weltverbesserung, wie ich sie mir vorstellt habe, findet aktuell nicht statt. In dieser Hinsicht war ich wohl einfach zu optimistisch.
Es geht einfach alles zu schnell, muss zu schnell gehen – aber dann passieren Dinge, die ich nicht mittragen kann, die ich auch nicht verantworten möchte.“
  
Ja, so schnell frisst die Revolution ihre Kinder

Worum geht es der neuen Bewegung?

„Anders denken ist kein Fehler, sondern Freiheit!“, so der übergeordnete Slogan. Man darf hinzufügen: Nicht denken auch.
Man sei „nicht rechts, nicht links, sondern frei“.

Der Arzt Schiffmann hält schon einmal das medizinische Schussfeld frei: Corona sei so gefährlich oder ungefährlich wie eine normale Grippe, es gebe keine entsprechende Übersterblichkeit.

Der Anwalt Ludwig liefert die juristische Munition: Das Grundgesetz müsse reformiert werden, es sei „fehlerhaft“. Der Bundestag solle durch ein Notstandsparlament aus 700 Menschen ersetzt werden, die in den letzten fünf Jahren nicht in der Politik tätig waren. Wer die wählen soll, konnte ich leider nicht eruieren.

Und natürlich muss der Widerstand gegen die behauptete Impfpflicht mit einem Mittel herhalten, welches leider nicht mal ansatzweise zur Verfügung steht:

„Aus meiner Sicht geht es darum, uns unsere Freiheit zu nehmen. Wir sollen nicht mehr über unsere Körper selbst entscheiden dürfen", so Ludwig.

Nach bewährter Piratenart soll ein Parteiprogramm auf Online-Basis entstehen. Das könne innerhalb von zwei Wochen hinzukriegen sein, so die Ex-Vorsitzende Hamm. Landesverbände werden gerade gegründet, man will bei der nächsten Bundestagswahl antreten. Partei-Spenden sollten anonym erfolgen, soweit das mit dem Parteien- und Geldwäschegesetz vereinbar sei.

Aber handelt es sich bei dieser Initiative wirklich um eine Partei? Wohl (noch) nicht.
Die Parteienrechtlerin Sophie Schönberger, Professorin an der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf, meint dazu: „Um eine Partei zu sein, braucht man ein Mindestmaß an politischem Programm." Das werde derzeit aber erst entwickelt. „Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Parteieigenschaft damit ausgeschlossen."

Hunderttausend Mitglieder hätten sich laut Selbstauskunft dem „Widerstand 2020“ schon digital angeschlossen. Internet-Fachleute bezweifeln dies, da die Echtheit der Anmeldungen noch kaum überprüft wurde. Immerhin schaffte auch der Gockel eines AfD-Funktionärs die Aufnahmeprüfung. Einige tausend echte Mitglieder seien eher realistisch.  

Welches bunte Völkchen schart sich da um das Zauberwort?

„Widerstand 2020 ist derzeit ein diffuses Sammelbecken: Wissenschaftsfeinde treffen auf Verschwörungstheoretiker, Rechtspopulisten und linksesoterische Impfgegner", sagt der Soziologe Matthias Quent, der das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena leitet. „Verbreitet werden die Inhalte besonders in rechten und zum Teil antisemitischen Kreisen."

Na, das freue ich mich auf die Programmdiskussion zwischen den unterschiedlichen Lagern! Die AfD eint doch immerhin eine dumpf-bräsige Melange aus Fremdenfeindlichkeit und nationaler Verblendung. Aber hier bin ich schon sehr gespannt auf die Kollision von Reptiloiden, Bachblüten und Springerstiefeln…  

Uff! Ich muss gestehen: Obwohl ich an derlei Recherchen gewöhnt bin, hatte ich hier doch das heftige Bedürfnis, zum Schutz gegen Schäden meines Immunsystems den Aluhut aufzusetzen. Albert Einstein sagte einmal, Universum und menschliche Dummheit seien unendlich – wobei er sich beim Universum noch nicht sicher sei.

Um bei den Herrschaften aus der Empöreria wenigstens ein bisschen Schulbildung nachzuholen: Grundrechte konkurrieren nicht erst seit Corona miteinander. Beispielsweise wird halt die Freizügigkeit eines Bankräubers (Art. 11 GG) wegen des Rechts auf Eigentum (Art. 14) eingeschränkt und so seine Flucht verhindert. Und wenn eben Grundrechte wie das der Versammlungsfreiheit (Art. 8) mit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit  (Art. 2) kollidieren, kann es zeitweise Menschenansammlungen nur in engen Grenzen geben.

Damit man mich nicht zu leicht missverstehen kann: Selbstverständlich darf man finden, die momentanen Beschränkungen seien zu eng. Darüber kann man gerne und engagiert streiten. Grundrechte müssen je nach Situation immer wieder neu austariert werden. Dafür sorgen die Gerichte, welche ja momentan zur Genüge angerufen werden und auch manche zu weitgehende Grenzsetzung aufgehoben haben. Unser Rechtsstaat funktioniert also auch hinsichtlich der Gewaltenteilung.

Nur: Wenn’s dann aber dennoch verboten bleibt, gibt es kein „Notstandrecht“, das einen erlaubt, sich trotzdem in Massen und ohne Schutzmaßnahmen zu drängen, Polizisten oder sogar Mitbürger, die eine Maske tragen, anzupöbeln.

Ich habe bei der Corona-Pandemie immer wieder für Maß und Mitte plädiert. Dies hat mir anfangs heftigste Aggressionen von denen eingebracht, welche ihre Mitmenschen mit Angst und Panik überzogen. Nun handle ich mir eher von denen Anwürfe ein, welche die Krankheit verharmlosen und zu demokratiefeindlichen Zielen missbrauchen wollen. Irgendwas muss ich richtig gemacht haben…

Daher sage ich: Wer sich nun in bewusster Übertretung von Verboten in Massen und ohne Schutzmaßnahmen zusammenrottet, spielt insbesondere mit dem Leben derer, welche diesen Staat nach den schrecklichen Verwüstungen von Krieg und Diktatur zu dem gemacht haben, was er heute ist: eine liberale Demokratie.

Doch diejenigen, welche in erster Linie protestieren könnten, sehe ich auf solchen Demos kaum: Alte Menschen, die sich seit über zwei Monaten in der eigenen Wohnung oder gar im Zimmer eines Pflegeheims im „Hausarrest“ befinden, nicht einmal von ihren Angehörigen besucht werden durften. Aber die haben ja oft noch wirkliche Notstände erlebt: Krieg und Naziherrschaft, kaum etwas zu essen, unzureichende medizinische Versorgung, politische Verfolgung, Bombennächte.

Mir fiel in diesen Tagen ein Satz meiner Mutter ein, den ich oft bei Problemen von ihr hörte: „Mei, was hätten wir da im Krieg sagen sollen…“

Wer heute den Unterdrückten gibt, gehört eher zu einer Generation, der man von Geburt an Zucker in den Hintern geblasen hat und die grundlos meint, die ganze Welt müsse sich um den ihren drehen. Die es als Freiheitsberaubung sieht, derzeit zusammen mit den Kumpels auf den Cappuccino im Stammcafé oder die Bierflasche im Park verzichten zu müssen.

Revolutionäre? Karl Marx hatte für diese Existenzen einen anderen Namen: „Lumpenproletariat“„ruinierte Bourgeois und ruinierte Proletarier, […] eine Kollektion von Lumpen, die in jedem Zeitalter existiert haben“.

Ja, bis heute.

Quellen:   
https://www.br.de/nachrichten/kultur/widerstand-2020-was-radikale-verschwoerungstheoretiker-eint,RyBeY3q

Kommentare

  1. Wie sich die Bilder gleichen: In Ö gründet ein Zahnarzt eine neue Partei mit dem originellen Namen Freiheit2020!

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    1. Nennt man in der Biologie Konvergenz: Gleiche ökologische Nischen führen zu gleichen Anpassungen nicht miteinander verwandter Organismen.

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