Tango oder Freundschaft
„Lieber
Gerhard,
schön mal
wieder zu sehen, was Du für tolle Dinge machst!
Da ich
jedoch (…) verlassen werde, bitte ich Dich, mich aus Deinem Verteiler zu
nehmen.
Ich wünsche
Dir weiterhin viel Freude und Erfolg bei Deinen Unternehmungen und vor allem
natürlich Gesundheit, um weiterhin das Leben zu genießen!
Liebe Grüße
(…)“
Diese E-Mail
erhielt ich gestern von dem, was ich noch vor Jahren als „Tangofreundin“
bezeichnet hätte. Dazu muss man einiges wissen:
Es war die Beantwortung
einer Werbung für mein neues Zauberblog. Diese Nachricht erhielten alle meine
„Zauberkunden“ – also auch sie, da ich vor Jahren einmal für die Organisation
aufgetreten war, bei welcher die Schreiberin arbeitete. Dafür erhielt ich eine Flasche
Rotwein, unverpackt, ohne Dankeskärtchen oder ähnliches Dekor.
(„Freundschaftshalber“ hatte ich auf eine Gage verzichtet.) Und wenn man nun
aus unserer geografischen Nähe an einen weiter entfernten Ort umzieht: Kann man
dann nicht trotzdem ein Blog lesen oder sogar darin kommentieren?
Unverschlüsselt
würde daher die obige Botschaft wohl wie folgt lauten:
„Lieber Gerhard,
es nervt kolossal, immer wieder in
Mails von Deinen Unternehmungen lesen zu müssen, die mich inzwischen kein
bisschen mehr interessieren.
Da ich nun an einen entfernten
Ort umziehen werde und somit die Möglichkeit, dass ich Dich nochmal brauchen
könnte, sehr unwahrscheinlich wird: Sei so nett, mir das Wegklicken Deiner
Botschaften zu ersparen.
Gestatte mir abschließend noch ein
bisschen Alibi-Gedöns, damit Du nicht behaupten kannst, ich sei unfreundlich
oder gar undankbar.
Liebe Grüße
(…)“
Unsere
„Tangobeziehung“ liegt schon Jahre zurück und bestand vor allem darin, dass die
Dame, chronisch Single, aus Gründen des Umweltschutzes über kein Auto verfügte
und daher die ökologisch günstigere Variante wählte, sich von uns auf Milongas
fahren zu lassen. Der Umweg über ihr Kuhkaff kostete uns, Hin- und Rückfahrt
zusammengerechnet, eine Dreiviertelstunde mehr Fahrtzeit.
Ich habe für
die vielen Touren im Zeitraum von etlichen Jahren weder Geld noch Schlimmeres
von ihr verlangt und fühlte mich nie als Wohltäter: Sie war eine hervorragende
Tänzerin und versprühte rundum Nettigkeit sowie Charme. Das war doch ein Deal!
Mit der Zeit
allerdings wuchsen die Zumutungen: Zu- oder Absagen in letzter Minute inklusive
längerer Telefonate über ihre derzeitigen Probleme respektive
Gesundheitszustand und dessen Eignung für Milongabesuche oder Bergtouren. Als
sie uns zur Krönung des Trends einmal mit einer fast dreistündigen Verspätung
erfreute, führte dies zu einer Krisendiskussion. Mein Angebot, Tangoabende
gerne weiter gemeinsam zu besuchen, allerdings mit Eigenverantwortung für An-
und Heimreise, schien ihr wohl nicht lukrativ genug. Hinfort herrschte, bis auf
seltene zufällige Begegnungen, Funkstille. Inzwischen ist sie offenbar aus der
Tangoszene verschwunden und beschäftigt sich, neben der Ökologie, mit
esoterischen Themen in Richtung des Umarmens von Bäumen. Na, die können
wenigstens nicht weglaufen…
Aus „alter
Verbundenheit“ schickte ich ihr weiterhin Einladungen zu unseren
Veranstaltungen. Eine Reaktion hierauf erfolgte nie. Einmal lud sie mich zu
einem Event ein, in dem sie im Mittelpunkt stand. Ich bin hingegangen – ohne
darauf je ein positives Feedback zu erhalten.
„Wie du mir, so ich dir“ ist – beim Tango wie im Leben –
keine verlässliche Formel. Auch für eine dreistellige Zahl von
Gratistanzstunden kann man keineswegs das Eingehen auf die eigenen Themen
erwarten, bleibt jedoch weiterhin ein Adressat für Wünsche der Gegenseite – und
dies sogar, wenn die Person nicht aus Nordrhein-Westfalen stammen sollte (für
mich die Untergrenze der bundesdeutschen Empathie-Skala). Der Fakt, anderen
Veranstaltern hundert Mal das Geld auf deren Events getragen zu haben,
verpflichtet natürlich in keiner Weise zu einem Gegenbesuch! Gerade hierbei
muss man Entfernungen relativistisch betrachten: Der Weg von A nach B ist nicht
zwingend gleich dem von B nach A, sondern oft deutlich weiter. Depressionen werden jedoch durch
kabarettistische Erlebnisse gemildert: Ertappt man beispielsweise Personen, die
wegen „privater Verpflichtungen“ zu bestimmten Zeiten keinesfalls zum Tango
gehen können, dann beim Besuch einer anderen Milonga, kann das personifizierte
„schlechte Gewissen“ sehr unterhaltsam wirken. Damit aus dem Text kein Buch
wird, verzichte ich lieber auf weitere Beispiele…
Wenn man
sich diesem Zirkus schon 16 Jahre lang aussetzt, muss man mit solchen
Erfahrungen umgehen können. Das ist wohl der Grund, warum ich beim Tango oft
etwas reserviert wirke: Gerade die „Bussi,
Bussi- und herzallerliebste Grüße-Mimikry“ in sozialen Netzwerken wirkt auf
mich wie eine besonders zynische Tangosatire, von der sogar ich lieber die
Finger lasse. Und ich werde nervös, wenn manche Tangofeste zu einem
stundenlangen Spießer-Palaver am „Stammtisch“ entarten, während im Hintergrund
die Musik dudelt. Da gehe ich lieber aufs Parkett und tanze zu Geschichten, die
von Neid, Eifersucht und Hass erzählen, und wo am Ende beide Rivalen, jeweils
mit dem Messer des anderen im Bauch, ihr Leben aushauchen. Ich empfinde das,
weil ehrlich, als weitaus harmloser.
Zugeben muss
ich, selber das Wort „Tangofreunde“ öfters unbedacht benutzt zu haben. In
Wahrheit besteht zwischen den beiden Wörtern dieses zusammengesetzten Begriffs
keine große Schnittmenge. Was bleibt, ist „Tango“. Und
in zahlreichen anderen Fällen bekommt man ja Zuwendung von Menschen, bei denen
man es nie erwartet hätte. Dennoch gehe ich mit dem Begriff „Freundschaft“ bei
zunehmendem Alter immer zögerlicher um.
Der von mir
sehr geschätzte Autor Peter Ripota hat mir einmal in einem Interview erklärt: „Von Astor Piazzolla stammt der Titel ‚Drei
Minuten mit der Wirklichkeit‘. Die wahre Welt ist somit die Zeit, in der man
einen Tango tanzt, und der Rest ist ein Traum.“ Wieso dann zwischen den
Tangos so viel Zeit verschwenden?
„‚Ich
verstehe das nicht‘, erwiderte er genervt. ‚Wie kommst du darauf? Tango ist
Leidenschaft, Temperament, Wollust. Der erste Tanz, bei dem Mann und Frau sich
öffentlich umarmen.‘ ‚Das schon‘, erwiderte sie. ‚Aber es ist auch die erste
Umarmung, die folgenlos bleibt.‘“
(Wolfram Fleischhauer: „Drei Minuten
mit der Wirklichkeit“)
Edit 14.12.21: Vor längerer Zeit hat sich die Dame, der ich nicht mehr schreiben sollte, tatsächlich wieder bei mir gemeldet. Sie ist nun offenbar dem "Bag-Wahn" verfallen und pries mir ein Seminar ihres Gurus an. Noch nie habe ich eine Mitteilung so gerne ignoriert...
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