Der Tango der Neu-Viktorianer
Thomas Kröter, dem „Trüffelschwein des modernen Tango“, habe ich schon manchen interessanten Internet-Fund zu verdanken. Das Tangoblog, welches er neulich mehrfach bei Facebook verlinkt hat, ist sensationell gut: „Tangoforge“ nennt sich die Plattform des Tanzpaars Vio und Roberto, welches eine Vorliebe für Tango nuevo hat. Vio hat auf ihrer Seite eine Reihe von bemerkenswerten englischsprachigen Beiträgen verfasst. Glücklicherweise liegt zum Text „Warum benehmen sich junge Leute wie die Viktorianer?“ eine deutsche Übersetzung (von Karl-Artur Haag) vor. Es geht um die neokonservative Entwicklung im Tango der letzten zehn Jahre.
Vio schreibt dazu:
„Vor ein paar Jahren schon setzten vereinzelt die
Bestrebungen ein, Tango zu
beschneiden. (…) Diese ‚Zurechtstutzung' macht sich in der Form eines extrem
vereinfachten Tanzes bemerkbar, bei dem der Schwerpunkt nicht mehr auf
interessanten Improvisationen liegt, sondern angeblich auf Musikalität. Im
Besonderen auf rhythmischer Musikalität. Dazu gibt es recht engstirnige
Behauptungen, die sich auf irgendwelche anderen Werte und Prioritäten beziehen,
die beim Tangotanzen angestrebt würden. Dazu gehört eine extrem limitierte
Teilmenge der Tangomusik, wobei kontemporäre Orchester oder Kompositionen, die
jünger als aus den 50er-Jahren sind, und Welt-Musik außen vor bleiben. In
Berlin
bekommt man den Eindruck, dass die Ordnung auf der Tanzfläche wichtiger ist,
als das, was jeder Einzelne darauf macht. Es wird als ‚sozialer Tango‘
bezeichnet. Das ist das Formale. Aber ich glaube, der tiefere Grund dieser
Limitierung
ist Sexismus.“
In der Folge zitiert sie einen Tanzpartner namens Andreas:
„Ich tanze seit etwa acht Jahren. Hier in
Berlin gab es schon immer viel Kreativität beim Tanzen. Jetzt gibt es eine
Tendenz, die Bandbreite der Bewegungen zu limitieren (…) Und das Eigenartige
dabei ist, es sind vor allem die jungen Leute! Die Einstellung zum Tango in der
‚klassischen Szene‘ erinnert mich manchmal an eine Art Neo-Viktorianismus. Es
wird jetzt angestrebt, die Beine nicht zu weit zu öffnen. Es sollen kleine,
elegante und kontrollierte Bewegungen gemacht werden. Sie wollen sich nicht zu
viel bewegen, keine zu großen, zu expressiven Bewegungen. Eine Konsequenz
daraus ist, dass nicht mehr zu Piazzolla oder zur Musik jeglicher Tango Nuevo
Maestros getanzt wird, oder gar zu Neotango-Musik. Dino Saluzzi? Gib ihm einen
Konzertsaal, aber tanz nicht zu seiner Musik. Tanz nicht zu wild, benimm dich
zivilisiert, sei elegant. Wie kann jemand in dem jungen Alter seinem Körper die
Freiheit der Bewegung verbieten? Wie ist das möglich, nach der sexuellen
Revolution? Und das hier, in Berlin!“
Weiterhin befasst sich Vio mit den „Ursprüngen dieses langweiligen, befremdlichen und eher negativen Phänomens“: Neben „Susannah Millers lukrativer Erfindung des ‚Milonguero-Stils‘ 1995 und ihre verkaufsfördernden Ansprüche in Bezug auf seine angebliche „Authentizität“ sieht sie vor allem „die Bestrebungen der jungen Argentinier in den Jahren hin zu 2010, Tango als ihr väterliches Erbe zu schützen. Die Milongas in Buenos Aires wurden von ausländischen Touristen überrannt, von denen viele erschreckend meisterlich tanzten; Ausländer gewannen zu viele Spitzenplätze bei der Campeonato Mundial / Weltmeisterschaft (...) Dieser Protektionismus kam in der Form daher, dass der Schwerpunkt von leistungsorientierter Virtuosität fortgenommen wurde zu Gunsten leichter zugänglicher Tanzpraktiken, die sozialer und anspruchsloser sind, um junge Argentinier anzusprechen und zu unterstützen. Auch wurden damit die Touristen von manchen Milongas ferngehalten.“ Eine weitere Ursache sieht die Bloggerin darin, dass vorher der Tango nuevo „ganz bedeutend die Rolle der Frau in diesem Tanz verstärkte.“
Die Folge dieser Rückentwicklung: „Der Tanz der Milongueras war in zehn Jahren flüssiger und unabhängiger geworden und ist jetzt wieder da angelangt, wo die Tänzerinnen wie ungeübte Kleiderpuppen erscheinen.“
Vio sieht den Bezug zur Kleidung darin: “Die Ausstattung der neu-viktorianischen Milongueras kommt in zwei Ausführungen daher, beide gleich ausufernd in sexistischer Limitierung. Die erste ist ‚prüde Hausfrau‘. Die zweite arschbetonender Minirock. (…) Ein anderer Freund hatte mich darauf hingewiesen, dass in den Zeiten von Naveiras Einfluss sich Weltklasse-Schautänzer oft androgyn kleideten. Die Frauen trugen Hosen, und die Einstellung der Tanzpartner zueinander war gleichberechtigend. Dieser Tage sei das Image der Frau, das durch Weltklasse-Tänzerinnen verbreitet würde, ein sexy Frauenkörper, der in orgiastischer Verzückung ihrem Meister folgt.
Die Miniröcke sind bei Rückwärtsschritten ein anregender Anblick (…) Sie hat keine Chance, einen großen Seitschritt zu machen, oder einen Boleo oder Gancho. Die Frauen, die Miniröcke tragen, scheinen nicht mit solcherlei Wissen belastet worden zu sein, deshalb wird es ihnen niemals in den Sinn kommen, dass diese Art Garderobe denkbar ungeeignet für ein Tango-Repertoire sein könnte.“
Subjektiv, aber sehr treffend verbindet Vio Ursache und Wirkung:
„Als die Rolle der Frau virtuoser wurde,
wurde es für die Männer wichtig, sich eine kompetente Partnerin zu sichern. Die
Auswahl an Tanzpartnerinnen war beschränkt, es konnte zu Engpässen kommen, und
so mussten sie sich um die Beziehungen zu den Frauen bemühen, die auf der
gleichen artistischen Stufe standen, wie sie selbst. Vielleicht war es einfach
besser, einen Tanz zu tanzen, der weniger vom Können der Frau abhing?
Die neu-viktorianischen Frauen sind nach
den Standards, die noch vor fünf Jahren galten, keine guten Tänzerinnen (…),
aber den Männern scheint das nichts auszumachen. Es scheint, dass Miniröcke
eine größere Attraktivität besitzen als tänzerisches Können. Um mit dieser
Situation klar zu kommen, halten die Männer den Tanz extrem einfach. Die
‚prüden Hausfrauen‘ scheinen etwas bessere Tänzerinnen zu sein als die
Miniröcke, haben aber immer noch ein sehr limitiertes Repertoire. Ein Tanz, der
für unausgebildete Frauen überarbeitet wurde, vermehrt die Anzahl der
potentiellen Tänzerinnen und stellt sicher, dass Männer gebraucht und für ihre
Bemühungen belohnt werden, auch wenn die Leistung sehr anspruchslos ist."
Na eben: Bei musikalischer und choreografischer Schlichtheit ist es
ebenfalls für Männer leichter, an die „Lizenz zum Kuscheln" zu
kommen!
Erfrischend klar räumt Vio mit einigen Sprechblasen in diesem Bereich
auf:
"Die Tänzer, die weiterhin ihr
gesamtes Tango-Repertoire einsetzen, werden beschuldigt, dass ihnen die
Verbindung und die Emotionen im Tanz egal seien. ‚Die Musik bestimmt alles‘,
sagen die Neu-Viktorianer, eine von mehreren Gemeinplätzen, mit denen sie
einfachsten Tanz glorifizieren.
Ein weiterer Gemeinplatz (…): ‚Es ist
sehr wichtig, vorsichtig zu sein und den Tanzfluss zu respektieren.‘ Diese
Grundsätze sind aber tatsächlich maßgebend für alle Tangotänzer, und deren
Fehlen ist immer ein Mangel des persönlichen tänzerischen Niveaus. Darüber
hinaus macht es keiner dieser Grundsätze notwendig, Bewegungen zu verbannen.
Der einzige Grund, der ein limitiertes tänzerisches Vokabular rechtfertigt, ist
eine Folgende, die nur mit sehr wenig zurechtkommt (…) Die Neu-Viktorianerinnen
wollen Sinnlichkeit und die Aura des Mannes erleben, ohne zu eigener Weisheit
zu gelangen und die geteilte Verantwortung für ihr Tun anzunehmen.“
Ihr Resümee ist beeindruckend und könnte von mir sein:
"Was mich bei den Milongas der
Neu-Viktorianer stört, dass sie allen Kontrast beseitigt haben. Tango-Musik und
Tanz wird durch die Veränderung des Tempos interessant, des Maßstabs, der Form
und der Emotionen. Ein guter Tanz braucht einige dieser Kontraste, von schnell
zu langsam, von enger zu loser Umarmung, von großen zu kleinen Schritten, von
zackigen Bewegungen zu kleinen, wirbligen, von dramatisch bis verspielt, von
süß bis ernst. Neu-Viktorianische-Musik bleibt in einem begrenzten Rahmen (…),
die Schrittgröße ändert sich nicht, die Umarmung bleibt gleich, und die
Emotionen sind immer dieselben.“
Abschließend zitiert die Autorin ein Gespräch zwischen zwei Männern um die
Dreißig: Einer bemängelt, der DJ einer rein traditionellen Milonga (!) habe
Musik mit „zu viel Energie“
aufgelegt. Ihr Kommentar:
„Zu viel Energie? Für einen jungen,
agilen Mann? In Berlin? Bei einer Party?
Vielleicht zu viel Energie, um so zu tanzen, dass ein Minirock nicht verrutscht
und immer gut aussieht.“
Da kann ich in meinem mehr als doppelten Alter nur hinzufügen: Recht hattse!
Originaltext: http://tangoforge.com/neue-victorians/
Kommentare
Kommentar veröffentlichen