Bleiben wir doch einfach daheim!
Die
Füße schmerzen zwar noch etwas, aber dem Herzen geht es besser, einen Tag nach
der Premiere unserer „Wohnzimmer-Milonga“ – und ich glaube, unsere Gäste sahen
es genauso: Alle waren bis zum Schluss da, haben auch noch die letzte Tanda
getanzt und dabei schmunzelnd Max Raabes Eingeständnis vernommen: „Carmen, hab Erbarmen, ich bin müde!“
Das
Aufräumen hinterher ging schnell, zumal bei uns nicht – wie auf diversen
anderen Tangoparketts – haufenweise Noten der gespielten Stücke liegengeblieben
waren: Nein, alle Fermaten, Crescendi, Accelerandi und Pausenzeichen wurden
ausnahmslos auf der Tanzfläche interpretiert, und wie! Der Grund: Wir hatten
mehr gute Tänzer/innen als so manche „Schlachthöfe“
in den Metropolen (selbst wenn man dort die Zahl der toten Rindviecher
abzieht). Daher dürfen wir auch allen „Milonga-Verkehrs-Etiketten-Verklebern“
stolz vermelden: Trotz konsequenter Ignorierung vorgeschriebener Spuren und
Überholverbote sowie des Gebrauchs erhobener Füße zwecks Umsetzung von Ganchos,
Boleos und sogar Sprüngen gab es keinerlei Verletzungen von Körper, Geist oder
Seele! Warum? Nun, wer gewohnt ist, sich zu Klängen jenseits eines konstant
durchdudelnden Viervierteltakts zu bewegen, ist variabel genug, auf seine
Umgebung zu achten – auch bei einem Dutzend Menschen auf zwanzig Quadratmetern.
So
konnten wir es uns erlauben, gar gräuliche, „kaum
einen Ton sauber treffende“ moderne Tangomusiker wie Sexteto Milonguero, Tango
Amoratado, Beltango, Juan José Mosalini, Ariel Ardit, Luis und Lidia
Borda und natürlich Astor Piazzolla
zu interpretieren. Schon mal auf Esteban
Morgados „Cinema Paradiso“, „El Tango
de Roxane“ (aus dem Film „Moulin
Rouge“) oder „Tango Casino Noir“
von „Las Sombras“ getanzt? Nein, wohl
nicht, das legen ja „vorschriftsmäßig“ arbeitende DJs (Entschuldigung: TJs)
nicht auf und bewahren so ihr Publikum vor der Konfrontation mit Tangomusik der
letzten 60 Jahre. „Geht das Geplemper
jetzt so weiter?“ – so die ziemlich schmallippige Frage einer Tanguera, als
ich es neulich in München wagte, „Luna
Ladrona“ von „Las Sombras“ zu
spielen. Ja, klar, allerdings nun in Gerhard Riedls Wohnzimmer – wir wollen ja auch
niemand von seinem selbstgewählten Erfahrungsentzug befreien…
„Non
Tangos“ brauchen wir allerdings nicht. Was soll uns die Hintergrundmusik zur
Supermarkt-Käsetheke respektive natürlichen Geburtsvorbereitung bringen, wenn
uns der Tango in so vielen Farben und Spielarten begegnet? Freilich liefern wir
uns auf diese Weise der in gewissen Tangoblogs beschworenen Gefahr einer „fürchterlichen Unruhe auf der Tanzfläche“ aus,
und das gerne – schon deshalb, weil wir so der grauslichen Langeweile auf
vielen Milongas entgehen. Inzwischen habe ich ein Geheimrezept für meine Musikauswahl: Mit welchen Stücken und in welcher Reihenfolge könnte ich bei ausgewiesenen "Wahrheitsaufsagern" einen maximalen "Toblersuchtsanfall" auslösen? Das macht einen solchen Spaß!
Wenn
wir zukünftig immer mehr vor die Alternative „Traditionsgeplürre oder
Discogewaber“ gestellt werden: Bleiben wir doch zu Hause – aber nicht auf dem
Sofa, sondern dem heimischen Parkett! Legen wir dort die Musik auf, die uns
gefällt, schaffen wir expertenfreie Zonen, wo wir noch tanzen dürfen, wie es
uns passt! Und das nächste Mal lädt uns vielleicht ein anderes Paar zu seiner
„Hausmilonga“ ein. Man könnte sogar in der ersten Stunde ein bisschen
miteinander üben und Ideen austauschen – und plötzlich wären wir an den
Wurzeln des Tango angelangt: So muss es ja einmal mit diesem Tanz angefangen
haben am Rio de la Plata, an einer Straßenecke, irgendwer spielte Bandoneon,
der nächste brachte eine Flasche Wein mit, ein paar Stühle wurden hingestellt –
und man tanzte, unbelästigt von Fachleuten, Workshopveranstaltern, Tangoideologen,
Tanzschuh-, Boutiquenfummel- und Schritteverkäufern. Und auch das Label „Tangoreisen“
würde sich wieder mehr auf den Nahverkehr beziehen. Könnte das schön sein –
vor allem aber: so traditionell… und die GEMA muss draußen bleiben!
Freilich
könnte der „argentinische Tanz“ als wirtschaftliche Branche dann pleite gehen –
oder die Veranstalter würden uns eines Tages wieder Angebote machen, die sich
an der Freiheit orientieren, welche die Auswanderer vor über hundert Jahren
suchten, als sie ans andere Ende der Welt zogen. Tango hat in seiner
Entwicklung genialerweise stets die verschiedensten musikalischen Einflüsse
integriert – ob nun die Candombe der schwarzen Sklaven, die südeuropäischen
Tänze oder den Wiener Walzer. Einzig den hiesigen Traditionsmilongas von heute
bleibt es vorbehalten, uns mit mehr Ordnung als Zucht den Tango als „reinrassig“
zu verkaufen. Danke, wir haben schon! Bis zur Entwarnung bleiben wir lieber zu
Hause oder besuchen "Dorfmilongas" in Kleinkitzighofen, Sengkofen, Freising oder
Mallersdorf-Pfaffenberg, welche der lange Arm der Restauration noch nicht
erreicht hat.
Natürlich
ist die euphorische Schilderung des Veranstalters von seiner eigenen
„Haus-Milonga“ sehr subjektiv und daher mit Vorsicht zu genießen. Aber es steht
ja jedem mit offenen Ohren und lockeren Beinen frei, sich einmal selber zu
überzeugen. Ein Vorteil solcher Veranstaltungen ist jedoch unbestreitbar: Man muss endlich mal sein Wohnzimmer aufräumen…
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