Objektiv? Nicht bei mir!

 

Anmerkungen zu meinen Texten haben einen Vorteil: Sie regen mich dazu an, über meine Ideen und Behauptungen (und natürlich die der Kommentatoren) nachzudenken. Nicht selten wird daraus ein neuer Artikel.

Ein altgedienter, sehr erfahrener Tangolehrer hielt mir gerade vor, immer wieder einer „fixen Idee“ anzuhängen: Dass es in früheren Zeiten weniger Kommerzialisierung im Tango gegeben hätte. Im Gegenteil: Ohne kommerzielle Tangolehrer hätte es ab den 80er Jahren hier in Deutschland kein Revival und so große Verbreitung des Tango Argentino gegeben.“ Klar, er dürfte in Deutschland einer der ersten gewesen sein, die den Beruf des Tangolehrers ausübten. Wenn ich mich recht erinnere, berichtet er aber selber von immensen (auch finanziellen) Problemen.

Dichte ich dem Tango eine „kommerzfreie Epoche als Subkultur“ an, wie er behauptet?

Na ja, ich kann da nur von meinen Erfahrungen ab 1999 berichten: In den ersten sieben oder acht Jahren begegnete ich kaum Tangolehrern oder Veranstaltern, die ich als „Vollzeit-Profis“ bezeichnen würde. Bestenfalls erzielten sie mit diesem Tanz ein meist nicht erhebliches Zweiteinkommen. In der überwiegenden Zahl der Fälle waren es aber schlicht Tangobegeisterte, die ihrem Hobby frönten, ohne damit finanzielle Ansprüche zu erheben.  

Ab zirka 2007 erlebte ich deutliche Veränderungen: Viele der einstigen „Aficionados“ wurden von der Idee befallen, „authentisch argentinischen Tango“ verbreiten zu sollen, und begaben sich in geistige Untermiete bei Latino-Lehrern. Damit begann der ganze Gemischtwarenladen mit Workshops, Festivals, Tangoreisen, Klamotten und Glitzerschühchen – langweilige Musik inklusive.

Der obige Tangolehrer hielt mir nun vor, mich lediglich auf meine „Gegend um Pörnbach und Umkreis“ zu beziehen: „Etwas nur aus dem persönlichen Bereich zu beurteilen ist ja wohl nicht so objektiv.“ 

Nun ist das schon mal etwas untertrieben: Genauer kenne ich aus vielen Jahren den Großraum zwischen Nürnberg, Regensburg, Augsburg und München. Eine Reihe von Tangoreisen (oft mit Buchlesungen verbunden) führte uns beispielsweise auch nach Hamburg. Lübeck, Köln, Dresden, Leipzig, Salzburg und in viele andere Städte – sicherlich alles nur Momentaufnahmen.

Bereits in der ersten Ausgabe meines Tangobuches schrieb ich dazu: 

„Zu bieten hätte ich jede Menge praktischer Erfahrungen rund um den Tango: In zehn Jahren (Stand: 2009) war ich wohl auf zweitausend Milongas an hundertfünfzig verschiedenen Orten. Da ein Tanzabend für mich eigentlich am interessantesten ist, wenn ich zumindest eine mir noch unbekannte Tänzerin auffordere, dürfte deren Zahl sich der Vierstelligkeit nähern. Und wenn ich mal nicht auf dem Parkett bin, lausche ich lieber der Musik oder beobachte andere Tänzer und Tanzstile, als mich tiefsinnigen Gesprächen oder dem kalten Büfett hinzugeben.“ (S. 34) 

Ich wäre schon einmal gespannt, wie viele Tangolehrer auf diesen Erfahrungsschatz zurückgreifen können. Vor allem, wenn sie sich halbwegs professionell betätigen, haben sie meist mit ihren eigenen Kursen und Milongas genug am Hals. Auf fremden Veranstaltungen sieht man sie eher wenig – und tanzend schon gar nicht, bestenfalls bei einer „Pflichtrunde“ mit der eigenen Partnerin oder der Gastgeberin.

Dennoch werde ich immer wieder mit dem Argument konfrontiert, dies oder jenes möge ja bei uns „in der Provinz“ so sein – mir fehle jedoch der bundesweite Überblick und vor allem die Erfahrungen mit wahrlich fortschrittlichen, professionellen Tendenzen in Punkto Unterricht und Milongagestaltung. Vulgo: „Bei uns ist alles anders.“ Mir mangle es halt an Objektivität.

Meines Wissens gibt es aber keine Statistik, wie viele Tangobeschäftigte wirklich Profis sind (d.h. voll davon leben können), obwohl dieser Begriff in der Szene geradezu inflationär verwendet wird. Wer kann also bei diesem Thema wirklich objektive Feststellungen treffen? (Nebenbei möchte dies auch kaum einer – das Ergebnis wäre voraussichtlich niederschmetternd…)

Noch schlimmer: Absolute Objektivität kann es gar nicht geben. Meint zumindest Wikipedia: 

Objektivität (…) bezeichnet die Unabhängigkeit der Beurteilung oder Beschreibung einer Sache, eines Ereignisses oder eines Sachverhalts vom Beobachter beziehungsweise vom Subjekt. Die Möglichkeit eines neutralen Standpunktes, der absolute Objektivität ermöglicht, wird verneint. Objektivität ist ein Ideal der Philosophie und der Wissenschaften. Da man davon ausgeht, dass jede Sichtweise subjektiv ist, werden wissenschaftlich Ergebnisse an bestimmten, anerkannten Methoden und Standards des Forschens gemessen.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Objektivit%C3%A4t

Glücklicherweise müssen mich solche philosophischen Fragen wenig kümmern: Ich bin nämlich nicht objektiv – das betone ich immer wieder. In meinen Büchern, meinen Artikeln stelle ich stets meinen persönlichen Standpunkt dar – subjektiver geht’s nicht. Und ich habe schon in der Erstausgabe meines Tangobuches beschrieben, was ich alles nicht kann, da ich

• hinsichtlich Soziologie, Politik und Landeskunde Lateinamerikas über keine Kenntnisse oberhalb des durchschnittlichen Besitzers eines Abiturzeugnisses verfüge – ja noch nicht mal in Buenos Aires war und auch nicht vorhabe, dieses Manko zu tilgen …

• derzeit zwar ca. 140 Tango-CDs besitze und mich als DJ betätigt sowie ein gewisses rhythmisch-musikalisches Empfinden habe (behauptet jedenfalls die Mehrzahl meiner Tänzerinnen), aber keinerlei musiktheoretischen Kenntnisse aufweisen kann und gehörmäßig falsche Töne nur registriere, wenn sie mindestens eine kleine Terz neben dem richtigen liegen

• weder eine Tangolehrerausbildung bei irgendwelchen klingenden Namen absolviert habe noch dreistellige Zahlen von Tangofiguren abspulen und schon gar nicht diese graphisch darstellen oder spanisch benennen kann (meine Kenntnisse dieser Sprache beruhen auf einigen Übersetzungen, zwei Wörterbüchern sowie einem Rest Schullatein)

• keine nennenswerten Kontakte zu inneren Zirkeln angesagter Tangoszenen vorweisen kann – ich hatte bislang noch nicht mal ein Verhältnis mit einer Südamerikanerin …

• bisher weder als Psychologe noch als Paartherapeut und schon gar nicht als Erotikexperte arbeitete (S. 33)

Gibt es andere Tangoveröffentlichungen, welche derartig die Grenzen des Autors beschreiben?

Ich fürchte, viele Kritiker verwechseln subjektiv mit unsachlich. Sicherlich führe ich zur Untermauerung meiner Ansichten Tatsachen an, und die versuche ich mit seriösen Quellen zu belegen. Und werte sie dann subjektiv.

Was meine Veröffentlichungen relativ bekannt gemacht hat, sind wohl gerade meine ganz persönlichen Erfahrungen als Tango-Kunde, ein wenig vergleichbar mit den Rezensionen auf „Amazon“ – nur intelligenter. Mir geht es stets nicht um hochtrabende, möglichst argentinische Theorien zum Tango, sondern um seine reale Situation hierzulande – und hierzu habe ich eine Menge persönliche Erfahrung.

Das Gezerre um vermeintliche Objektivität läuft ja meist so ab: Da beschreibt einer persönliche Eindrücke, welche der andere nicht erlebt hat – sondern ganz andere. Da kann der werte Diskussionspartner doch nicht objektiv sein… In Wahrheit stehen sich meist zwei subjektive Standpunkte gegenüber. Das mag jedoch keiner der beiden zugeben. Objektiv ist dann häifig das, was man subjektiv für richtig hält.

Ich dagegen gebe gerne zu, nicht objektiv zu sein.

Daher wird man auf meinem Blog auch weiterhin die persönlichen Erfahrungen und Ansichten des jeweiligen Autors lesen können. Das nachzuplappern, was irgendwelche Tango-VIPs verzapfen, überlassen wir gerne anderen. In den sozialen Netzwerken wird ja weitgehend das geistige Eigentum Dritter verlinkt oder kopiert.

Ich zweifle jedenfalls weiter daran, ob es wir den Tango-Hype der 1980-er Jahre den professionellen Tangolehrern verdanken. Entscheidend waren eher die Tangoshows mit der Musik Piazzollas. Und – lernt man das Tanzen auch heute noch zu diesen Klängen? Ich hatte jedenfalls mit „Profis“ teilweise schreckliche Erfahrungen.

Wo diese sich überschneiden, kann es schon mal „objektiv“ werden. Als besagter Gesprächspartner das Regensburger Tangolehrerpaar Horst und Christiane Kröniger als Berufs-Beispiel erwähnte, gestand ich, bei ihnen die Tango-Anfangsgründe erlernt zu haben, aber frustriert wieder gegangen zu sein. Seine Antwort: Ja, wenn Sie bei Horst & Christiane angefangen haben, verstehe ich Sie viel besser!“

Das nenne ich einen Minimal-Konsens – ganz subjektiv!

P.S. Auch unsere Gaißberg-Katze" hat ihre ganz persönlichen Standpunkte:

Foto: Manuela Bößel

 

Kommentare

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