Allmählich werd‘ ich sauer!


Ich hatte wirklich die Hoffnung, dass wir im September mit unserer Wohnzimmer-Milonga – in reduziertem Umfang – wieder loslegen könnten. Vor einigen Wochen waren wir deutschlandweit schon mal bei knapp 300 Corona-Neuinfektionen pro Tag. Gestern gab es wieder über 1700 – der höchste Wert seit dem 16.4.20 (damals 1737).

Dafür allen Corona-Vollidioten meinen herzlichen Dank!

Klar, man muss solche Zahlen in Relation sehen – so wie ich in meinem ersten (und bislang meistgelesenen) Artikel zu diesem Thema am  29.2.20:

„Nach dem Stand von gestern Abend gab es in Deutschland 54 nachgewiesen durch Corona Infizierte, das sind bei einer Bevölkerungszahl von 83 Millionen schlappe 0,0006 Promille. Weltweit sind es über 80000. In etwa 80 Prozent der Fälle verläuft die Erkrankung ohne oder mit milden Symptomen. Die Todesrate beträgt 2 Prozent, wahrscheinlich weniger. In Deutschland starb bislang noch keiner der Patienten.“

Damals galt ich manchen Leuten als schrecklicher Verharmloser. So schrieb die Rechtsanwältin Stefanie Ecke zu meinem Artikel (siehe oben im Kommentarbereich):

„Oft finde ich Herrn Riedls Posts durchaus lesenswert, aber dieser Eintrag ist für mich nur polemischer ‚die-Realität-richtet-sich-nach-meinen-Vorstellungen-und-schlauer-als-das-RKI-bin-ich-auch-noch!-Quatsch‘. Da ist jemandem wohl ein Apfel auf die Birne gefallen...?
Aber letztlich ist das auch egal, reden hilft nicht gegen Viren und gegen Meinungen älterer Herren sind sie ohnehin immun. Ganz anders als im umgekehrten Fall...“

Und ein Mediziner, welcher unter dem Pseudonym Joost Rot postet, schrieb im selben Umfeld:

 „Apropos Gerhard Riedl zieht (mal wieder) unsere Diskussion durch den Kakao und vergleicht Äpfel- mit Birnenrisiken.“

Etwa ab dem 9.3.20 setzte dann in Tango-Foren (z.B. der FB-Gruppe „Tango München“) ein munteres Haberfeldtreiben gegen alle ein, welche irgendwie noch Tango tanzen wollten. Zu meinem am gleichen Tag erschienenen Artikel handelte ich mir Kommentare mit Formulierungen wie „schülerhafte und langweilige Zusammenfassungen“, „Eigenlob“, „Blödheit“, „blöd“, „erschreckende geistige Unreife“ oder „intellektuelles und empathisches Armutszeugnis“ ein.

Noch am 24.3.20 konnte ich mich anhand der aktuellen Zahlen der Panik nicht ganz anschließen:

„Und was den Tango betrifft: Sicherlich stellt er durch die Nähe ein erhöhtes Infektionsrisiko dar. Jeder muss selber entscheiden, ob er sich dem aussetzen will. In Deutschland gibt es momentan etwa 200 bestätigte Corona-Infektionen – also 0,0024 Promille der Einwohnerzahl.“

Mit Datum von heute haben wir nun gut 230000 nachgewiesene Corona-Infektionen – also eine Steigerung um das über 1100-fache. Das sind immerhin schon 0,3 Prozent der deutschen Bevölkerung. Davon gestorben sind mehr als 9200 Patienten.

Aha, und lese ich nun im Netz umso flammendere Appelle, das Tangohobby mit äußerster Vorsicht zu handhaben? I wo – in den Tangoforen häufen sich die Werbeanzeigen für Unterricht und Practicas, die wohl teilweise verkappte Milongas darstellen.

Es lohnt sich dabei stets, die Berichte des Münchner Corona-Blockwarts Joachim Beck zu verfolgen, der bestens mit der Gerüchteküche vernetzt ist:
    
„Man kann sich beim Tango - also der richtigen Milonga - nicht an die Regeln halten. Und die Leute wollen das auch gar nicht. Was ich von den Veranstaltungen in München höre: Es klingt nach Konzept, dann wird aber wegen der Nachbarn zu selten gelüftet, es wird durchgewechselt wie früher - Hauptsache, es steht irgendwo eine Fläschchen Handdesinfektion rum.“
(FB-Seite von Thomas Kröter, 19.8.20)

Es gehört zu meinen Grundsätzen, auch Menschen fallweise recht zu geben, deren Persönlichkeitsstruktur ich persönlich für unterirdisch halte. Dies gilt auch für den Wiener Tangoveranstalter Thomas Mayr, der sich mir gegenüber mehr als einmal danebenbenommen hat. In der FB-Gruppe „Tango-Vienna“ schreibt er am 10.8.20:

„Tatsächlich scheint die dauernde Übertretung mindester Sicherheitsvorkehrungen bei Milongas stattzufinden. Die Verantwortung vollständig bzw. bei weitem zu unverhältnismäßig an die Besucher abzugeben, scheint gang und gäbe zu sein. Einige Personen haben mir unabhängig voneinander berichtet, dass die Wiener Milongas, die sie besucht haben, ‚ganz normal‘ stattfinden, jeder mit jedem tanzen würde.
Eine Person hat sich sogar selbst als ‚Luder‘ bezeichnet, weil sie sich auf einer Wiener Milonga regelmäßig so verhielte, als ob es Corona nicht geben würde. Sie könne eben nicht anders, so sei sie eben, meinte sie. Der Veranstalter hatte offensichtlich nie interveniert, obwohl die betreffende Person die Milonga wöchentlich besucht und bei einem einigermaßen aufmerksamen Blick sicher nicht dauernd zu übersehen wäre. Auch die wechselnden Tanzpartner der betreffenden Person, hatten anscheinend kein Problem mit dieser ‚solo Frau‘ zu tanzen. Das Motto scheint also zu sein: ‚Macht wie ihr wollt.‘ Aber eine Spielwiese für Unverantwortlichkeit einzurichten, sollte eines Tango-Veranstalters unwürdig sein!“

Ich kenne die österreichischen Hygiene-Verordnungen nicht genau, daher sage ich nur: Organisatoren, welche sich nicht an die behördlichen Auflagen halten, sollte man den Laden zusperren – egal, ob sie nun eine Gurkenfabrik, einen Schlachthof oder eine Milonga betreiben.

Und ich habe für das Verhalten mancher Aficionados, die nun wie Vierjährige in der Trotzphase mit dem Fuß aufstampfen und „Hauptsache Tango – mir wurscht, ob ich sterbe“ plärren, im höchsten Grade für verantwortungslos: Vielleicht sterben sie selber gar nicht, dafür aber jemand, den sie – auch außerhalb des Tango – dann anstecken? Für mich wäre das fahrlässige Tötung.

Echt, Leute, wir könnten – hätten wir die Einschränkungen noch ein paar Wochen länger durchgehalten – bei unter 100 Neuinfektionen pro Tag sein. Das wäre ein Wert, bei dem ich kleinere Milongas mit Partnerwechsel für vertretbar hielte.

Aber das haben auch Politiker, die lieber Kanzler werden wollten statt sich um die Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen und anderen Betrieben ihres Bundeslands zu kümmern, kräftig in den Sand gesetzt.

Und klar, der Deutsche muss im Sommer in den Urlaub, um an verdreckten Stränden weinähnliche Getränke aus Eimern zu saufen und in überfüllten Clubs zu feiern. Dass inzwischen bald 50 Prozent der Neuinfektionen von Reiserückkehrern stammen, war absolut vorhersehbar. Ein Wanderurlaub in der weiteren Umgebung scheidet da völlig aus – wäre ja fast schon ein Naturerlebnis...

Meinen herzlichen Dank auch der eventhungrigen Jugend, welche offenbar nicht mehr mit sich anzufangen weiß als zu Klumpen geballt und nicht nur musikalisch zugedröhnt auf engstem Raum „Party zu machen. Allein diese Formulierung dokumentiert den geistigen und geschmacklichen Verfall völlig ausreichend. Man könnte die Krise auch dazu nutzen, mit einem sinnvollen Hobby zu beginnen. Aber da würde man handwerkliche oder geistige Interessen unterstellen…

Nebenbei: Noch keine Generation hatte es mit dem Erwerb von Wissen so einfach wie die jetzige. Allein auf YouTube gibt es eine mindestens sechsstellige Zahl von Lehrvideos zu praktisch allen Themen. Stattdessen verdammt man das „Homeschooling“ und kreischt nach dem, was einem bislang am Hintern vorbeiging: Präsenzunterricht. Dafür zwingt man dann über 60-jährige Lehrer mit Vorerkrankungen ins Klassenzimmer.

Nur der Vollständigkeit halber möchte ich mich bei meinen speziellen Freunden, den Weltverbesserern, bedanken, die uns seit Monaten einzureden versuchen, mit Distanzgeboten und dem Tragen einer Maske werde die Demokratie abgeschafft. Dabei müsste dies doch bereits der Sicherheitsgurt bewirkt haben:

„Selten reagierten die Westdeutschen so hysterisch wie bei der Einführung der Gurtpflicht. 1975 verweigerten sich Millionen Menschen dem Lebensretter Sicherheitsgurt. Männer fürchteten um ihre Freiheit, Frauen um ihren Busen – am Ende spaltete der bizarre Glaubenskrieg die ganze Republik. (…)
Um die Ursachen für die hohe Zahl an Gurtmuffeln zu ergründen, beauftragte das Bundesverkehrsministerium 1974 eine psychologische Studie. Wie tief die Aversion gegen das Anschnallen bei vielen saß, überraschte selbst die Psychologen des durchführenden Instituts. Manche Probanden verweigerten schlicht die Antworten, andere Befragte griffen die Interviewer sogar verbal an. Die Psychologen registrierten ‚starke latente Spannungen, unausgetragene Konflikte, affektive Verfestigungen und Bereitschaft zu kämpferischen Auseinandersetzungen‘.“

Übrigens finde ich ein Bußgeld für Maskenverweigerer höchst unsozial: Die einen zahlen es aus der Portokasse, für die anderen bedeutet es fast ein Wochenbudget. Drei Tage Ordnungshaft hielte ich für gerechter – ersatzweise eine Hospitation auf einer Intensivstation oder Reha-Einrichtung. Dort könnte man erleben, mit welchen Corona-Spätfolgen sich auch jüngere Patienten plagen müssen.

Selber habe ich seit Mitte März ziemlich abgeschieden von Freunden und Bekannten gelebt – na gut, es gibt ja heute genug elektronische Kontaktmöglichkeiten. Und Tango fand ausschließlich mit der Ehefrau statt. Nicht weil ich so große Angst vor einer Ansteckung hatte – wer eine Krebserkrankung durchgemacht hat, ist nicht so leicht in Panik zu versetzen. Nein: Vor allem, weil ich andere nicht infizieren wollte.

Der Ausfall von Milongas, Musik- und Zauberauftritten war dennoch nicht leicht wegzustecken. Umso mehr freute ich mich, dass Corona doch nicht so infektiös erschien, wie ich befürchtet hatte: Unter der Wirkung von Kontaktbeschränkungen gingen die Infektionen rapide zurück. Inzwischen weiß ich aber: Wir waren schon mal weiter.

Vermasselt haben es diejenigen, welchen zum Erwachsensein eine wichtige Eigenschaft fehlt: ein wenig Selbstdisziplin. Mein persönlicher Verzicht war also ziemlich nutzlos.

Daher, wenn ich es mir genau überlege:

Ich werd‘ nicht allmählich sauer – ich bin es bereits. Und wie!

Foto: www.tangofish.de

Kommentare

  1. Ich hätte nie gedacht, dass ich dem Wiener Tangolehrer und Veranstalter Thomas Mayr einmal recht geben würde. In der FB-Gruppe „Tango-Vienna“ schrieb er am 11.8.20 unter anderem:

    „Pandemie und Tangosucht?

    Welcher Tangotänzer möchte sich schon selbst als Suchterkrankter sehen? Als jemand sehen müssen, der sich aufgrund seiner Bindungsängste und Bindungsunfähigkeit der unverbindlichen, beliebigen und flüchtigen Ersatzbeziehung Tango verschrieben hat, von der er aufgrund des Ersatzcharakters der Droge Tango, nie genug bekommen kann und für die er bereit ist jeden Preis zu zahlen? Vielleicht zahlt es sich aber aus für sich selbst zu überprüfen, inwieweit die Tangoleidenschaft schon den mit dem eigenen Gewissen vertretbaren Pfad verlassen hat.

    Nähe, Wärme, Sicherheit und Körperkontakt in der Umarmung, harmonisches MIteinander, wortloses einander Verstehen und Einverständnis, etc., das sind doch alles Mögliche und immer wieder ersehnte auch stattfindende Momente, Erlebnisse und Erfahrungen einer tiefen Beziehung zu einem geliebten Menschen. Aber wie schrecklich und grausam, sie alle können auch eine Ware sein, die man sich im Tango beschaffen kann! Dann wird die Tangobeziehung eine käufliche Droge. Diesen Drogencharakter des "missbrauchten" Tangos sieht man gegenwärtig besonders deutlich. Nämlich dann, wenn diese wunderbaren so ersehnten Erlebnisse der Befriedigung mit Hilfe des funktionalisierten Tanzpartners so eindeutig auf Kosten von Rücksicht und Verantwortung den Mitmenschen gegenüber zutage treten, wie in der gegenwärtigen Corona Pandemie, statt in einer sozialen Haltung integriert zu sein.

    Ist es uns das tatsächlich Wert? Was treiben wir da mit den Anderen und uns selbst? Sollten wir nicht darüber nachdenken, wie sehr wir verdrängen, verharmlosen, verleugnen, um unserer Sucht zu frönen? Wäre eine solche Auseinandersetzung nicht eine Chance? Wäre sie nicht eine gute Gelegenheit für Persönlichkeitsentwicklung und Sinnfindung? Könnte diese Auseinandersetzung nicht auch eine Bereicherung für unseren zukünftigen Tango in pandemiefreien Zeiten sein?“

    Wie wahr! Nicht nur bei diesem Thema entscheiden wir oft emotional, was wir wollen, und suchen uns dann mehr oder weniger rationale Gründe dafür. Das kann gewaltig schiefgehen.

    Aber auch im Tango sollten wir gelegentlich unser Gehirn beteiligen und nicht ausschließlich mit den Keimdrüsen denken…

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