Vernünftiges aus München


Die Träne quillt: In der Facebook-Gruppe „Tango München“ fand sich neulich (versteckt zwischen den üblichen Werbeanzeigen) gar Vernünftiges! Und das vom Tanzschulbetreiber Oliver Fleidl, der mich in der Vergangenheit öfters geschmäht hatte und sich im Gegenzug von mir mal „Obercliquen-August“ nennen lassen musste.

In einem längeren Text beschreibt er nun seine gemischten Corona-Gefühle:

„Ich habe lange überlegt, ob ich das hier schreiben soll. Immerhin darf ich mir vorwerfen lassen, Anfang März noch einen Tango Biathlon veranstaltet zu haben. Wer mit mir hier befreundet ist, hat mitbekommen, dass ich bezogen auf Corona sehr zwiegespalten bin. Ich habe so ziemlich jeden Gedanken zu Corona gehabt, den man haben kann. Nicht nur aus Verantwortung meiner engsten Umgebung gegenüber, vor allem aus gesundem Menschenverstand habe ich beschlossen, jetzt einfach mitzumachen. Und die Sorglosigkeit eines Teils der Szene macht mich ehrlich gesagt rat- bis fassungslos.

Es möge sich bitte niemand angegriffen fühlen, ich schreibe hier im Bewusstsein, dass mir im April Leute, die ich letztes Jahr noch auf Partys zu mir nach Hause einlud, hier und im RL die Freundschaft kündigten, weil ich ihnen zu sorglos war. Und jetzt Tanguer@s mich blockiert haben, weil ich ihre kruden Verschwörungsideologien hinterfragt habe.

Die Frage ist doch nicht, OB Corona jetzt so gefährlich ist, wie ‚alle‘ sagen. Sondern: Was passiert, WENN es so ist. Ich will hier also gar nicht über Corona reden, sondern darüber, was (unter anderem) mit der Tangoszene, mit Euren Lieblingsmilongas, mit Euren Herzensmarathons passiert, WENN es stimmt. (…)

Während wir also in USA und Brasilien schockierend sehen, was passiert, wenn der Staat nicht handelt und im Gegenteil die Lage herunterspielt, fahren hierzulande die ersten Tanguer@s ins Ausland auf Marathons, wechseln dort und auf den heimischen (und heimlichen) Milongas munter die Partner und begrüßen sich herzlich mit allem Pamm Pamm, so, als wären sie in den letzten Monaten im Koma gelegen und hätten nichts mitbekommen.

Wir im Tango, insbesondere die Marathon-Nomaden, sind die ideale Brutstätte für Corona. WENN es stimmt, was 90, 95 % der Mediziner sagen. Ich verstehe jeden, der Sehnsucht nach Tango, nach Nähe, nach Berührung und Austausch hat. Aber ist es das wert? Ernste Frage.
Und wenn es nicht stimmt? Dann haben wir einen Sommer lang gedarbt und umsonst eine Maske getragen.“

Na ja, umsonst wahrlich nicht. Nur vergeblich.

Meine Erwartung, dass der Text das übliche Münchner Hauen und Stechen hervorrufen würde, hat sich erstaunlicherweise nicht erfüllt. Neben wenigen Unverbesserlichen äußerten sich viele ziemlich maßvoll und differenziert. In Auszügen:

„Du sprichst mir so sehr aus der Seele! Ich bin beruflich auch betroffen, unterrichte meine Tanzstunden mit Maske (obwohl ich das nicht muss), um meine Schüler zu schützen, und kann nur den Kopf schütteln in Bezug auf Tango. Die Sehnsucht ist riesig, aber was, wenn ein Funke kommt? Ein kleiner Funke könnte soooo viele liebe Bekannte betreffen, also bleibt nur durchhalten.“

Eine berufstätige Mutter schreibt:

„Und grundsätzlich bin ich selbst sogar der Meinung, dass wir für künftig lernen müssen, mit diesem Virus, mit dieser Erkrankung, die u.a. auch tödlich enden kann, zu leben.
Ich finde sehr, sehr viele Vorschriften mittlerweile absolut unverhältnismäßig oder sinnlos. Aber eben nicht alle. Und wenn Vorschriften dazu beitragen, dass wir einen neuerlichen Lockdown verhindern, dass wir verhindern können, dass wir im kommenden Herbst/Winter wieder wochenlang daheim im Stübchen hocken müssen und ich nicht weiß, wie ich einen 6-jährigen Schulanfänger mit Homeschooling, meinem eigenen Homeoffice und zwingender Arbeit außer Haus unter einen Hut bringen soll, dann bin ich auch gewillt, mich da anzupassen.“

Offenbar von Münchner Veranstaltungen wird hier berichtet:

„Nach meiner Erfahrung (...) kann ich aber zumindest bestätigen, dass angemeldete Paare, die für sich tanzend bleiben wollten, respektiert wurden in diesem Wunsch. Aber unsere Verwunderung war groß, dass alle anderen wohl offensichtlich einem Haushalt angehörten...“

„Dieses muntere Wechseln in manchen Münchner Milongas ist schwer zu verstehen. Zuerst dachte ich ...geh ich eben nicht mehr hin. Aber alle anderen sind ja nicht allein auf der Welt, wir treffen uns immer wieder. Und die Veranstalter, die es gewissenhaft befolgen, sind die Doofen oder wie.... wir alle müssen darauf folgende neue Verbote ausbaden.“

Ein Kommentator, der weit herumkommt, schreibt:

„Auch wenn viele so tun, als ob Tango etwas Besonderes wäre, das Verhalten unterscheidet sich nicht von Club-Fans oder Ballerman-Fans. Manche ziehen sich ganz zurück, andere versuchen, einen verhältnismäßig sicheren Weg zu finden, und andere versuchen, zu leben wie vor Corona.“

Auch den Schlussappell von Oliver Fleidl kann ich nur unterstützen:

An alle anderen Geduldigen, die hier so positiv reagiert haben: Unterstützt die Szene und die Veranstalter*innen. Kauft Gutscheine, geht (zu zweit) tanzen, konsumiert und bleibt vernünftig. Irgendwann ist dieser Spuk vorbei.“

Quelle:

Da ich es derzeit mit der „Weltuntergangs-Szene“ zu tun habe, welche tendenziell bereits alle Grundrechte abgeschafft sieht:

Auch, wenn man noch so laut schreit, repräsentiert man nicht die Mehrheit. Ich habe die Umfragen während der Krise aufmerksam verfolgt: Stets waren mindestens zwei Drittel der Befragten mit den Einschränkungen einverstanden, und – noch erstaunlicher – beim Rest überwog meist die Meinung, sie gingen nicht weit genug. Nur eine deutliche Minderheit fordert eine Aufhebung der Restriktionen. Sich daher als „Verkünder des Volkswillens“ aufzuspielen, ist absurd.

Man sieht es auch an diversen Politiker-Karrieren: Einige Verantwortliche versuchten sehr schnell, sich mit überzogenen Lockerungen beim Wähler lieb Kind zu machen, beispielsweise Armin Laschet, der Ministerpräsident von NRW. Er hätte sich lieber um die Zustände in den Schlachthäusern seines Bundeslands kümmern sollen. Via Tönnies kann er die Kanzlerkandidatur nun wohl vergessen.

Und genau seinem bayerischer Kollegen Markus Söder, der von vornherein den sowohl fürsorglichen wie gestrengen Landesvater gab, traut nun eine Mehrheit das Amt des Bundeskanzlers zu – wobei die Bayern ihn tendenziell nicht rausrücken, sondern als Regierungschef behalten wollen.

Als einer, der noch nie in seinem Leben CSU gewählt hat (und es auch trotz beginnendem Alzheimers nie tun wird), muss ich ehrlich sagen: Das Krisenmanagement der bayerischen Behörden hatte schon was. Vor allem war – bei allen Mängeln – eine klare Linie zu erkennen, und nicht ein ständiges Lavieren je nach „Demoskopie-Wasserstand“. Letztlich schätzt das der Wähler.

Alle Regierenden hingegen, die meinten, die Corona-Krise herunterspielen zu sollen und den unbeeindruckten Macho geben zu müssen, haben jetzt extreme Schwierigkeiten mit dem Infektionsverlauf. Selbst Herr Trump meint nun, ihn möge keiner mehr. Recht hat er.

Das deutsche Krisenmanagement wird zutreffend weltweit bewundert. „Wir schaffen das“ wird wohl auch für die Pandemie gelten. Dennoch meine ich: Wenn wir uns mit den Lockerungen noch ein paar Wochen Zeit gelassen und uns um die erwartbaren Hotspots (Altenheime, Landwirtschaft, Fleischverarbeitung etc.) rechtzeitig gekümmert hätten, lägen wir derzeit nur noch bei zweistelligen täglichen Neuinfektionen – statt uns nun Sorgen um eine mögliche „zweite Welle“ machen zu müssen.

Klar, uns Tangoleute hat es schon hart getroffen – auch, wenn wir das Tanzen nicht als Verdienstquelle betrachten. Bei der Verhinderung von Aufforderungen hat Corona den Cabeceo noch weit übertroffen. Dennoch: Wir dürfen doch schon lange wieder Freunde treffen, zusammen essen gehen, reisen, unsere sonstige Freizeit gestalten. Und die Kinder werden im neuen Schuljahr wieder einen halbwegs normalen Unterricht bekommen, die Kitas sind wieder offen – und, nicht zu vergessen: Auch Alte und Kranke haben wieder Kontakt zu ihren Angehörigen.

Ist es dann so viel verlangt, das alles mit einem Rest an Vernunft und Vorsicht zu handhaben? Müssen wir nun schon wieder Dinge tun, deren Sinn sich auch ohne Corona nicht immer erschließt: Zu Hunderten dicht gedrängt feiern, beim Tanzen aneinander pappen oder Rotwein-Imitate im Dutzend aus einem Eimer saufen?

Selbst im Tango der bayerischen Landeshauptstadt scheint sich nunmehr Einsicht durchzusetzen. Solch unglaubliche Vorgänge sollten uns doch ermutigen!


P.S. Und wer es durchaus anders will: Es gibt ja noch das Land der Freiheit von allen Beschränkungen…



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