Die Musik im Mittelpunkt


Bei allen Differenzen gibt es auch eine Gemeinsamkeit zwischen der Autorin Birgit Faschinger-Reitsam und mir: Beide haben wir vorgestern (wohl in der Münchner Gegend) unsere erste Milonga seit der Corona-Krise besucht.

Allerdings mit dem Unterschied: Während sie nach eigenem Eingeständnis die negative Energie wieder abschütteln musste, die sie beim Lesen meiner Rezension ihres Buches aufgebaut hatte, freuten wir uns schlicht über die Einladung unseres Tangofreundes Alfredo Foulkes:

Mit einem „getanzten Dankeschön“ wollte der Gröbenzeller Tangolehrer und Veranstalter sich bei seinen Schülern und Förderern für die „Unterstützung während der Corona-Krise“ erkenntlich zeigen.

Zweimal eine Dreiviertelstunde durfte im großen Saal des Freizeitzentrums Gröbenzell getanzt werden – und zwar ausschließlich zur Livemusik des hauseigenen  „Orquesta Atìpica Improvis Tango“ unter Leitung von Frank Wunderer.

Natürlich mussten die üblichen Corona-Regeln eingehalten werden: Maskenpflicht in den Gängen des Gebäudes, Lüftungspause, kein Partnerwechsel und einiges andere.

Wie nicht anders zu erwarten, kümmerten sich Alfredo und Angelika aufopfernd um die Gäste: Schon vor dem Gebäude wurde man eingewiesen – und Angelika überwachte sogar anhand einer Teilnehmerliste, dass jeder nur mit dem eigenen Partner tanzte. Und die Gäste taten mit, achteten auf den nötigen Mindestabstand und sonstige Vorsichtsregeln.

Das Ensemble um den Dirigenten Frank Wunderer kenne ich schon seit seinen ersten Auftritten. Es ist bewundernswert, welche Spielfertigkeit es sich inzwischen – auch unter Anleitung von Profi-Ensembles – angeeignet hat. Was mich aber noch mehr anrührt: Hier kommen junge Leute über die Musik in Kontakt mit unserem Tanz – endlich einmal! Nichts braucht der Tango mehr als einen Generationenwechsel, und als „alter Mann“, wie man mich erst jüngst wieder bezeichnete, erhoffe ich mir nichts sehnlicher.

Die junge Musikgruppe jedenfalls ließ es mit fetzigen Tangos, schwungvollen Walzern und spritzigen Milongas so richtig krachen. Sogar einige Piazzollas waren dabei und führten überhaupt nicht zur Leerung der Tanzfläche.

Bei der Gelegenheit: Könnten wir nach Corona eventuell von dieser furchtbaren Ideologisierung der Tangomusik wegkommen? Es muss ja keiner zu Tango nuevo oder noch moderneren Klängen tanzen – aber selbstredend ist das ohne weiteres möglich und sollte nicht abfällig kommentiert oder gar ausgeschlossen werden.

Was mir am Samstagabend ebenfalls aufgefallen ist: Es herrschte eine unglaublich entspannte Atmosphäre – trotz des Corona-Restrisikos, dessen man sich natürlich bewusst war. Ich meine, es lag auch daran, dass das übliche „Gelauere“ wegen des Aufforderns wegfiel – konnte ja eh jeder nur mit dem angestammten Partner tanzen. Vielleicht sollte man auch da ein bisschen weiterdenken: Es fiele so viel Krampf weg, wenn wir grundsätzlich nach dem Motto verfahren würden: Betanzt wird, wer an den Tisch kommt, anstatt uns noch jahrelang mit dem Cabeceo-Gedöns die Köpfe heiß zu reden.

Und man braucht keine Verkehrsregeln fürs disziplinierte Ringelreihen, wenn es das gibt, was ich beim Tanzen für essenziell halte: Genügend Platz – auch, wenn wir die Corona-Abstandsregeln einst hinter uns gelassen haben. Vollgestopfte Tanzflächen sind keine Voraussetzung fürs meditative Hintereinander, sondern ein Notstand. Auch Kinos und Theater können nicht mehr Plätze verkaufen als vorhanden sind.

Was mir weiterhin angenehm auffiel: Auch vom üblichen „Rangordnungs-Geplustere“ war nichts zu bemerken. Gut – Alfredos Milongas bilden eh nicht den Zielort für Menschen, welche ihre mangelnde Bedeutung im restlichen Leben beim Tango kompensieren müssen, was sicherlich auch an den Gastgebern liegt. Hat das Corona-Virus aber ein Umdenken auf das bewirkt, worum es bei unserem Tanz wirklich geht?

Die Musik im Mittelpunkt – das stimmte am Samstag ja wörtlich: Das Orchester hatte sich im Zentrum des Parketts gruppiert, die Paare tanzten außen herum. Ich verstehe nach dieser Erfahrung den Hype, den der Tango in seiner „Goldenen Epoche“ auslöste, als das Publikum ebenfalls ausschließlich zur Livemusik, manchmal sogar mehrerer Ensembles, tanzen konnte. Die Unmittelbarkeit, die so entsteht, kann kein DJ erreichen.

Auf der Heimfahrt kam mir der Gedanke, in dieser Hinsicht eine wahrhaft „traditionelle Milonga“ erlebt zu haben – und Alfredo Foulkes hat ja im Puchheimer Kulturzentrum P.U.C schon längst die Tradition von Tangofesten mit zwei Musikgruppen aufgenommen – eine davon stets sein „Haus-Orchester“ unter der Leitung von Frank Wunderer. Da werden wirklich die besten Seiten der Tango-Tradition wach – und nicht das blutleere Regularium überlebter Sitten und Gebräuche.

Und – um die Parallele zum Wintersport zu ziehen: Corona-bedingt kein „Fingerfood“ (sorry, Alfredo), und sein Getränk musste sich jeder selber mitbringen. Und die Aktivitäten der „Tango-Zubehörindustrie“ ruhen sowieso. Kein „Après Tango“ – einfach nur tanzen. Da reichen dann 90 Minuten durchaus, um völlig „tangosatt“ den Heimweg anzutreten!

Obwohl mir natürlich klar ist, in der Krise zu einer privilegierten Personengruppe zu gehören, da ich eine feste Tanzpartnerin habe: Zunehmend überfällt mich der ketzerische Gedanke, ob ich mich wirklich nach den „alten Milongazeiten“ zurücksehnen soll. Nach dem ganzen Bussi-Bussi-Getue, der Festivalitis, der Wichtigmacherei, dem Gekrampfe ums Auffordern, dem ganzen, für mich meist unnötigen, störenden Drumherum.

Einfach nur Tango – ist das die Botschaft, die uns die Corona-Krise liefern könnte?

Abschließend ein ganz herzlicher Dank an Veranstalter und Musiker. Während andere nur mit der Spendenbüchse klappern, laden Alfredo und Angelika ihre Freunde und Förderer zu einer Gratis-Milonga ein. Nichts kann das weite Spektrum im heutigen Tango besser beschreiben...

Weiterhin hoffe ich, auch die eingangs angesprochene Autorin hatte eine schöne Milonga. Nebenbei: Ich habe bei meinen Amazon-Rezensionen noch nie nur einen Stern (also die schlechteste Wertung) vergeben. In dem Fall schreibe ich lieber gar nichts. Ich weiß nämlich aus eigener Erfahrung, wieviel Arbeit ein Buch macht, wie man viele Monate mit den Formulierungen, dem Aufbau ringt, sich mit Satz und Layout, den Illustrationen, Korrekturen und vielem anderen plagt. Und wie stolz man dann ist, wenn das fertige Werk vor einem liegt.

Schon gar nicht arbeite ich mich an der Person des Verfassers ab oder versuche gar, ihn in irgendeine Schublade zu stecken. Es geht um eine Sache – ob nun Buch, Milonga oder was auch immer. Nicht um einen Menschen.

Und über die Sache dürfen wir gerne streiten. Auch im Tango. Aber dabei sollte es bleiben.

P.S. Ein kleines Video und Fotos der Veranstaltung hat Alfredo in der FB-Gruppe „Tango München“ veröffentlicht:

Und hier Frank Wunderers Orchester zusammen mit dem Sexteto Visceral:


Kommentare

  1. Na endlich einmal etwas Positives vom Riedl zu lesen! Gut, dass das alles gratis war - jetzt frage ich mich nur: haben die "zeitgenössischen Musiker" auch ein angemessenes Honorar bekommen oder durften sie gratis spielen? Die haben doch sicher einen anständigen Beruf erlernt, oder? Musizieren macht doch Spaß, da braucht man kein Honorar....

    Und warum sollen die Menschen vor Piazzollas Musik wegrennen? - ER war es, der den Tango wieder in Schwung brachte. Ohne ihn wäre der TAngo schon längst tot.

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    1. Improvis Tango ist ein reines Amateurorchester. Ich vermute daher: eher wenig bis kein Honorar. Spaß gemacht hat es ihnen trotzdem. Aber fragen Sie doch einfach bei den Musikern nach: http://improvistango.de/

      Tango-Insider (also Sie nicht) wissen, welche Schlachten in der Szene um die Musik Piazzollas geschlagen werden. Aber schön, dass wir da einer Meinung sind.

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