Tanz nicht mit den Schmuddelkindern…



„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern,
sing nicht ihre Lieder.
Geh doch in die Oberstadt,
mach‘s wie deine Brüder!
So sprach die Mutter, sprach der Vater, lehrte der Pastor.
Er schlich aber immer wieder durch das Gartentor…“
(Franz Josef Degenhardt, 1965)

Da hat mich Blogger-Kollege Yokoito in einem seiner neuen Beiträge, wohl ohne es zu wollen, in eine ziemliche Retrospektive gestürzt  (https://tangoblogblog.wordpress.com/2016/05/15/ach-ja/): Sein ironischer Rat „Gerhard, und ich sach noch, spiel nicht mit den Schmuddelkindern…sowas kommt dann von sowas“ bezog sich zwar auf gewisse soziale Foren, welche er meidet – in mir jedoch stiegen Eindrücke aus der Mitte der 60-er Jahre empor, wo ich zu allem Überfluss gerade in der Pubertät steckte.

1965 war die Welt noch geordnet: Bundeskanzler Ludwig Erhard träumte vom „Maß halten“ sowie von der „formierten Gesellschaft“, beklagte sich über die „unappetitlichen Entartungserscheinungen der modernen Kunst“ und nannte Autoren wie Rolf Hochhuth „ganz kleine Pinscher“. Wer Zweifel an der Aufrüstung und Angst vor der atomaren Katastrophe hatte, gehörte im besten Kalten Kriegs-Deutsch zur „fünften Kolonne Moskaus“. Pazifismus galt als „Drückebergerei“, wenn nicht gar als Vaterlandsverrat.

Die gesellschaftlichen Códigos, mit welchen wir damals im Überfluss versorgt wurden, mögen heute wie nicht von dieser Welt erscheinen: Sex vor der Ehe war verwerflich, Homosexualität unter Männern strafbar (der berühmte Paragraf 175), eine ledige Geburt bedeutete für Mutter und Kind das gesellschaftliche Aus. Und Ehefrauen hatten ihren Gatten um Erlaubnis zu fragen, wenn sie den Führerschein machen oder gar eine Arbeitsstelle annehmen wollten.

Die gedruckte „öffentliche Meinung“ bestimmte in unserer Region das Monopolblatt eines Verlegers, über dessen Nazivergangenheit man zwar gerüchteweise munkelte – mehr allerdings durfte sich niemand, der noch eine Karriere vorhatte, herausnehmen. Radikaler politischer Widerspruch fand schlichtweg nicht statt, weil man ihn nicht gedruckt hätte – weder als Artikel noch als Leserbrief. Zu dieser Zeit musste man froh sein, für gewisse Flugblätter überhaupt eine Druckerei zu finden…

Am Gymnasium, das ich besuchte, wachte ein deutschnational-militanter Oberstudiendirektor über die rechte Gesinnung der Lehrer, die körperliche Züchtigung der Schüler war „inoffiziell“ noch an der Tagesordnung, und in unserer katholischen Kirchengemeinde herrschte ein reaktionärer Pfarrer über das Seelenheil seiner Schäfchen. Zu Wahltagen verlas er „Hirtenbriefe“ mit der Empfehlung ausschließlich „christlicher Parteien“.

Dennoch schickten meine Eltern mich, da es nun mal so Sitte war, jeden Sonntag mit dem „Gotteslob“ in der Hand zur Messe, wo ich an den Predigten lernte, wie sehr diese an meiner Lebenswirklichkeit vorbeigingen, man mich mit dümmlich-süßlichen Phrasen ruhigstellen wollte.

Es gelang nicht wirklich. Franz Josef Degenhardt und andere Widersetzlinge wurden meine Idole. „Sie trieben ihn in eine Schule in der Oberstadt, kämmten ihm die Haare und die krause Sprache glatt. Lernte Rumpf und Wörter beugen“ beschrieb meine Lebenswirklichkeit halt viel treffender als das Gesülze von der Kanzel.

Nun muss ich – nicht 1965, sondern mit 65 Jahren – eine neue Restaurationsära erleben, und das sogar beim „Tanz der Schmuddelkinder“, dem Tango. Auf einem nicht genannt sein müssenden Blog las ich neulich den Kommentar:

„Und zu den Codigos: ja, ich finde sie manchmal auch anstrengend, wenn Sie so dogmatisch vorgetragen werden, andererseits: der Tango ist so komplex und emotional verdichtet, da kann ein quasi lithurgisches Ritual sehr wohl nötig sein, um Inhalt und Form in ein stabiles Verhältnis zu setzen.“

Kurt Tucholsky sagte in solchen Fällen: „Eine Welt stinkt auf.“ Es ist unglaublich, wie mir bei derartigen Sätzen wieder das Gerüchlein nach Anpassung und Verdrängung aus der Adenauer-Erhard-Epoche in die Nase steigt (wobei die Reaktionäre von damals das Wort „Liturgie“ noch richtig geschrieben hätten). Alles muss seine (wie auch immer geartete) Ordnung haben – und wer das in Frage stellt, ist ein Störenfried!
   
Abschließend lässt sich der obige Schreiber noch zu einer Schlussbemerkung hinreißen: „Provozierende Frage: Ist Tango eigentlich ein Tanz für Jeden?“

Na, Junge, wenn du schon so fragst: Ich bin mir da nicht sicher… Eigentlich dachte ich mal, Tango sei der Tanz der Unangepassten, die es vor über hundert Jahren in ihrer Heimat (aus verschiedenen, meist ziemlich unerfreulichen Gründen) nicht mehr aushielten und die Auswanderung ans andere Ende der Welt wagten. Einfache Proleten, die mit der heutigen, gutbürgerlichen Gesellschaft im Tango ungefähr so viel zu tun hatten wie Franz Josef Degenhardt mit Gerhard Löwenthal und seinem ZDF-Pendant zu DDR-Schnitzlers „Schwarzem Kanal“. Die Tangotexte erzählen vom Verlust der Heimat, von enttäuschter Liebe, Eifersucht und sozialem Elend. Wenn die Underdogs in den damaligen Elendsquartieren von Buenos Aires noch erlebt hätten, dass man auf heutigen Milongas unterm Kronleuchter schicke Kleidchen, edle Tanzschuhe und Tangoreisen verscherbelt…

Und die Beachtung allfälliger Códigos, auf dass die Seelenruhe der Ronda-Mimosen nicht gestört werde? Ich fürchte, zu früheren Zeiten galten Milongas schon als friedlich, wenn die Messer in der Tasche blieben!

In selbiger geht mir jedoch das Schneidewerkzeug auf, wenn ich heute im Tango nicht mehr die „Schmuddelkinder“, sondern die Nachfahren des moralinsauren Volks aus den „Wirtschaftswunder-Zeiten“ erleben muss: Bramsiger Mittelstand", hat Tucholsky mal geschrieben. Wir waren schon mal weiter... Nein, ihr lieben Verkünder von „Sauberkeit und Ordnung“: Da halte ich es doch lieber mit meiner Bloggerkollegin Manuela Bößel, die etwas beschreibt, was man offenbar heute in gewissen sozialen Medien als löschungspflichtig ansieht:

„Mit himmelblauen Valses dich trotzig lachend wieder ins Gleichgewicht tanzen, zu weinenden Geigen und  Dickermännergesang mit viel Schmalz gemeinsam improvisieren, in piazzollische Paralleluniversen entschweben, prickelnde Lebenslust in alle Körperzellen hineintanken, Bewegungen, die sich so zart anfühlen wie der Hauch von erstem Schnee, das Blitzen der Seele im Auge deines Gegenübers...“

Das suchte ich im Tanzen, seit ich fünfzehn war – und habe es im Tango gefunden. Jedenfalls in dem der „Schmuddelkinder“, und davon gehe ich nicht mehr ab. Insofern stimmt natürlich der Vorwurf meiner Kritiker, ich hätte mich „im Tango nicht weiterentwickelt“. Warum soll man, wenn der Schatz gefunden ist, noch weiter graben?

Und unter den „guten alten Zeiten“ verstehe ich auch etwas anderes:     
„Jener schlägt ein Instrument aus hohlem Holz und Stacheldraht
und erzählt dazu, was früher sich hier zugetragen hat
in den guten alten Zeiten.
Damals konnte, wer da wollte, auf den Hinterkrallen stehn.
Doch man fand das Kriechen viel bequemer als das Aufrechtgehn.“
(Franz Josef Degenhardt: In den guten alten Zeiten)

P.S. Wem der Songtitel aus der Überschrift nichts sagen sollte: Hier der Autor und Sänger, den übrigens seit Ende der 70-er Jahre die Rundfunkanstalten ignorierten...

Kommentare

  1. Den Kommentar von Harri Bold stelle ich mit einer kleinen Streichung ein (ich mag keine Nazi-Vergleiche):

    Hach ja, lieber Gerhard,

    die Zeiten ändern sich. (Oder auch nicht.) Darf ich, als ungefährer Altersgenosse, Deinen Rückblick in die 60er um eine Erinnerung ergänzen: Da gab es einen Sozi namens Willy Brandt, dem wir u.a. den Radikalenerlass zu verdanken haben. Dieser hat lange erfolgreich verhindert, dass linke Schmuddelkinder in den Staats- und Schuldienst gelangten. Gar so ein schlimmer Finger warst wohl nicht, alter Schlingel, wenn der Freistaat Dich zum Lehrer gemacht hat. (Den Erlass braucht´s heute nicht mehr, die Codigos werden auch so eingehalten.) Aber das gegen den Stachel löcken bleibt unserer Generation als Spätfolge in den Genen.

    Nach Brandt ging´s dann weiter bergab mit den Sozen: Raketen-Schmidt, Agenda2000-Schröder, und heute (…) TTIP-Gabriel. ("Doch nun ist es kalt, trotz alledem, trotz SPD und alledem..." sang damals schon Hannes Wader)

    No a Zuckerl zum Schluss: Bloggen tun viele, schreiben können die wenigsten. Du kannst es, und auch daher lese ich Deine Texte immer wieder gern!

    Servus!

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    1. Obwohl ich mich nun mal als Genosse oute (hat in Bayern immerhin verhindert, zum Schulleiter oder noch Schlimmerem zu avancieren): Mein Beitrag war nicht als späte Lobpreisung oder gar Wahlwerbung für die Sozialdemokratie gedacht. Das würde auch Degenhardt nicht gerecht, den die SPD nach einigen Mitliedsjahren rausgeschmissen hat (wegen Propaganda für die DKP, in die er später auch eintrat).

      Mein Vater hat einmal geschrieben: „Er trat in die Partei ein, weil er die Verhältnisse ändern wollte. Er traf dort all die Verhältnisse an, die er ändern wollte.“

      Für die Verhältnisse im katholischen Bayern konnte Willy Brandt 1965 allerdings wirklich nichts. Der war damals noch Regierender Bürgermeister in Berlin und gescheiterter Kanzlerkandidat. Ansonsten fiele mir noch ein, dass wir ihm die Ostpolitik zu verdanken haben…

      Aber sicher ist eine spießige Gesinnung eher zeit- als parteibezogen. Und ich bin allen dankbar, die das Rad der Geschichte (wie fehlerhaft im Einzelnen auch immer) ein bisschen weitergedreht haben.

      Beste Grüße und danke für’s Zuckerl!

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  2. Sorry, Fettnäpfchen getroffen...

    Hätte mehr auf Grün getippt.

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  3. Nein, gar kein Fettnäpfchen! Grund ist gar nicht speziell die Politik, sondern mein Großvater.

    Wenn mein Vater ihn in die bereits damals üblichen Diskussionen über die windelweichen SPD-Politiker der Weimarer Zeit verwickelte, antwortete er immer: "Schau, wir wollen doch nur, dass es euch mal besser geht als uns jetzt!"

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  4. Lieber Gerhard,

    sehr schöner Text, hat mich auch an frühere Zeiten erinnert. Ich habe noch eine Degenhart-Schallplatte, vielleicht mache ich mir heute die Mühe und digitalisiere die für Cortinas.

    Aber Krämerseelen gab es schon immer und überall und wird es immer geben. Es gibt Leute, die müssen sich mit Regeln einengen, sonst kriegen die Angst oder so. Die wollen unbedingt unterscheiden zwischen "wir" (auf bairisch glaube ich "mia san mia") und "denen da", letztere machen irgendwie Angst, jedenfalls sind das "Schmuddelkinder". Bei der DKP damals gab es allerdings auch schlimme Krämerseelen. Ich erinner mich an Diskussionen vor langer Zeit in einem studentischen Asta, bei denen es ständig Unterbrechungen gab, weil die Krämerseelen erst mal in Bonn anrufen mussten, um zu erfahren, was für eine Meinung sie hatten...

    Wenn wir mal wieder live plaudern und nicht hier übers Internet, erzähle ich Dir mehr von meinen früheren und jetzigen politischen Aktivitäten.

    Liebe Grüße von Annette

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  5. Degenhardt als Cortina - dass ich das noch erleben darf...

    Zu den "real existierenden Sozialisten" sagte Werner Schneyder einmal: "Sie haben das Pendant zum ewig Gestrigen geschaffen - den ewig Morgigen."

    Tja, Spießer unterschiedlicher Couleur...

    Die Bayern unterscheiden übrigens sogar drei Fraktionen: "mia", "de andern" und "de ganz andern".

    Herzliche Grüße!

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