Auseinandertanzen verboten

Dieses Bild einer gleichnamigen Ausstellung von 1938 zeigt einen von den Nationalsozialisten synonym mit „Negermusik“ verwendeten Begriff.
„Ihre Kritikpunkte waren unter anderem ‚sinnlose Anwendung von Synkopen‘, die ‚Schlagzeugorgien‘, ‚künstlerische Zuchtlosigkeit‘, ‚Verlotterung und Verschlampung im musikalischen Ausdruck‘ und die ‚unanständigen Tanzformen‘.“
Bereits 1932 (!) verbot die Reichsregierung unter Franz von Papen Auftritte schwarzer Musiker.

Auch nach dem Krieg wurde das Unwort von der „obszönen Negermusik“ von Kirchen, Schulen und Politikern weiterverwendet, nun aber im Blick auf die neue Jugendkultur des Rock’n Roll – in der DDR allerdings mit der Abweichung, dass man ideologisch kaum über die unterdrückten schwarzen Sklaven lästern konnte und daher lieber von „Amimusik“ sprach.
Wenn man die sinnlichen Beats und Hüftschwünge, die „schreckliche Unruhe auf der Tanzfläche“ (Cassiel, fass!) sowie die hohe Verletzungsgefahr bedenkt, kann man wahrlich schon mal den Weltuntergang heraufbeschwören:



Typisch für solche „Kulturkämpfe“ ist stets die Behauptung, die angefeindete Musik sei künstlerisch wertlos. So schrieb damals die FDJ-Zeitung „Junge Welt“ über die Ikone Elvis Presley: „Sein Gesang' glich seinem Gesicht: dümmlich, stumpfsinnig und brutal. Der Bursche war völlig unmusikalisch (...) und röhrte wie ein angeschossener Hirsch, nur nicht so melodisch."

Auch „Quotenregelungen“ hinsichtlich der anzubietenden Musik gibt es nicht erst seit den Auseinandersetzungen im Tango: Im Januar 1958 legte die SED-Führung fest, dass 60 Prozent der Musik, die in den Medien gespielt wurde, von Komponisten aus der DDR oder den sozialistischen Bruderstaaten stammen müssten. Dies galt ebenso für das Repertoire von Tanzorchestern.

Weiterhin begegnen wir im „Arbeiter- und Bauernstaat“ der 50-er Jahre den geliebten „Tanzflächen-Benutzungsordnungen“. Das Parteiorgan „Neues Deutschland“ schrieb: Wenn im Kulturhaus einige Jugendliche beginnen, den Tanzsaal mit einer Turnhalle zu verwechseln, werden sie vom Klubdienst aufgefordert, anständig zu tanzen. Dabei erziehen sich die Tanzpaare gegenseitig. Wer nicht hören kann, wird kurzerhand aus dem Saal gewiesen.“ Flugs wurden Schilder aufgehängt: Auseinandertanzen verboten". Nun, auch dies hat ja seine kulturgeschichtlichen Wurzeln:



Allerdings dämmerte selbst den Einheitssozialisten, man müsse wohl auf Dauer dem westlichen Einfluss etwas Eigenes entgegensetzen. So gab der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht die Marschrichtung vor: „Es genügt nicht, die kapitalistische Dekadenz in Worten zu verurteilen, gegen Schundliteratur und spießbürgerliche Gewohnheiten zu Felde zu ziehen, gegen die Hotmusik' und die ekstatischen Gesänge' eines Presley zu sprechen. Wir müssen etwas Besseres bieten."

Komponisten und andere „Kulturschaffende“ wurden entsprechend beauftragt. Schließlich fiel die Wahl auf René Dubianski, welcher aus Walzer und leichtem Latinorhythmus Tanzmusik im Sechsvierteltakt schuf, die man nach der Heimatstadt der meisten Beteiligten „Lipsi“ taufte (Lipsia ist der lateinische Name für Leipzig). Das dortige, damals schon etwas angejahrte Tanzlehrerpaar Christa und Helmut Seifert  choreografierte flugs die Neuschöpfung. Man warf eine riesige Propagandamaschine an, inklusive Tanzwettbewerben, Einsatz des Schlagerstars Helga Brauer sowie des Rundfunk-Tanzorchesters Leipzig unter Kurt Henkels und der Aktivierung der Freien Deutschen Jugend als Pflichttanzorganisation: Jeder FDJ-Funktionär hatte Lipsi zu lernen. Über die tränentreibenden Einzelheiten berichtet der Ex-DDR-Journalist Klaus Taubert (siehe http://www.spiegel.de/einestages/der-lipsi-modetanz-made-by-sed-a-951419.html):

„Ich war damals für ein paar Monate in der FDJ-Kreisleitung Erfurt-Land tätig und erlebte die ernste Seite der heiteren Muse hautnah mit. Im Sitzungssaal wurden Tische und Stühle beiseitegeschoben, wir stellten uns paarweise auf, der 1. Sekretär mit der Sekretärin, der 2. Sekretär mit der Buchhalterin, der 3. Sekretär mit der Hauptkassiererin und ich… mit dem Kraftfahrer. Denn mehr Frauen gab es nicht.

Vom Plattenteller sang Helga Brauer: ‚Heute tanzen alle jungen Leute im Lipsi-Schritt, nur noch im Lipsi-Schritt‘. Dazu hüpften wir los, als gelte es das Sackhüpfen zu kultivieren. Werner, unser Chef und Tanzlehrer hatte sich sein Talent in ähnlichen Veranstaltungen in der FDJ-Bezirksleitung geholt. Theoretisch hatten wir uns durch das Studium des Neuen Deutschland' auf die Tanzstunde vorbereitet, denn dort waren die Lipsi-Schritte erläutert und zeichnerisch dargestellt.“

Hier (ab 1:30) eine Reminiszenz der sozialistischen EdO" in gepflegter Ronda:



Pflichtgemäß schwärmte das „Neue Deutschland“: „Das Bewegungsbild ist voller Harmonie und mit seinem Lösen und Wiederfinden der Partner, mit seinen Solodrehungen ganz und gar modern. Unsere Jugend will sich nicht in ständiger geschlossener Tanzhaltung bewegen, sie wünscht sich Bewegungen, wie sie der Lipsi bringt, freilich weit entfernt von jenen geschmack- und hemmungslosen Verrenkungen überseeischer Tanzimporte, die ebenso wie die ohrenbeleidigenden Jazzverfälschungen aller Art die Gehirne einer zu Rettern des Abendlandes' vorgesehenen Jugend der westlichen Länder vernebeln."

Sprich: Die deutsche Jugend durfte nunmehr „auseinandertanzen“, aber halt „anständig“.

Eine mitreißende Demo der Protagonisten beginnt auf dem folgenden Video ab 2.52:

Man hatte allerdings die Rechnung ohne die DDR-Jugend gemacht, die sich großflächig weigerte, den Rock’n Roll und Twist gegen das „Plasteprodukt“ aus der Funktionärsebene einzutauschen. Bereits Ende 1960 redete kaum noch einer vom Lipsi oder tanzte ihn gar – obwohl die SED ihren Modetanz sogar weltweit zum Patent angemeldet hatte! Und der Dirigent Kurt Henkels floh, der andauernden musikalischen Diktate überdrüssig, alsbald in den Westen.

Soll ich nun Parallelen zum jetzigen Streit über die „código-gemäße“, brave und anständige Tanzweise im Tango nebst der entsprechenden Musik ziehen?

Ach nein, liebe Leser, das ist mir zu heiß - ich überlasse es euch!

Sehen wir uns stattdessen noch die Erinnerungen der Kabarettistin Gabi Decker an:

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