Das Kreuz mit der Basse



Liebe Tangoanfänger,

die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass ihr in eurem Tango-Anfängerunterricht – so wie ich auch – stundenlang als „Grundschritt“ des Tango argentino den „Paso basico“ heruntertraben musstet (auch „Basse“ oder besser „Base“ genannt nach dem englischen Begriff „base step“):

Im klassischen Fall geht der Mann rechts rück (1), links seit (2) (wobei er in die links außenseitliche Position wechselt), rechts vor (3), links vor (4), kreuzt mit rechts hinten ein oder schließt mit diesem Fuß, wobei er ihn belastet (5), geht links vor (6) (wobei er wieder in die Inside-Position wechselt), rechts seit (7) und schließt mit links heran/belasten (8).
Die Frau geht im Parallelsystem: links vor (1), rechts seit (2), links rück (3), rechts rück (4), kreuzt mit links inklusive Belastung nach vorne ein (5), dann rechts rück (6), links seit (7), rechts heran/belasten (8). Die Position 5 nennt man „Kreuz“ („paso cruzado“ = „gekreuzter Schritt“).

Das auf acht Taktschläge ausgelegte Muster passt zu der Achterphrasierung der Tangomusik sein einziger Voteil.

Googelt man den Begriff im Internet, so finden sich Lehrvideos zuhauf, welche diese Schrittfolge darstellen. Eine kleine Auswahl nach fünfminütiger Suche:




Zwischendurch einmal eine Frage an die erfahrenen Tänzer: Führt ihr diese Schrittfolge auch jetzt noch öfters auf den Milongas aus? Aha, und warum nicht? Aber da seid ihr in guter Gesellschaft: Ich kenne kein „Vortanzvideo“, bei denen ein „Showpaar“ diese Bewegungsfolge zeigt. Die Schüler allerdings werden mit diesem Bewegungsmuster traktiert!

Dabei würde eher andersherum ein Schuh daraus: Sicherlich kann ein gutes Tanzpaar diese Schrittfolge stimmig umsetzen, für Anfänger jedoch beinhaltet die „Achterbasse“ so ziemlich alle Probleme, die ihnen den Einstieg in den Tango erschweren werden:

Der erste Schritt geht rückwärts – ein Neuling, welcher (natürlich) ganz auf die Choreografie fixiert ist, übersieht es wahrscheinlich, wenn da ein anderes Paar kommt, und schon gibt es den ersten Rempler!

Der zweite Schritt führt (aus Sicht des „Führenden“) links außenseitlich: Sollte jemals ein Oberkörperkontakt vorhanden gewesen sein, hat es sich nun damit erledigt, und der Mann schleift seine Partnerin mindestens bis zur „Fünf“ unter dem Arm mit. (Der Grund ist natürlich, dass man am Anfang die Separation" zwischen Beinbewegung und Oberkörper-Position noch nicht hinbekommt.)

In diesem Moment muss die Frau auskreuzen, sprich einen Belastungswechsel im Stand ausführen – für Anfängerinnen die beste Gelegenheit, anschließend auf dem „falschen“ Fuß zu landen! Der Abschluss auf der Sieben und Acht bedeutet einen Seit-Schluss-Schritt („Chassé“, beim Tango sonst eher unüblich) – wiederum eine treffliche Chance für beide, am Ende den Belastungswechsel zu übersehen und bei der nächsten Eins in einem Gestolper zu landen, meist mit unerwünschtem Fußkontakt. Und beim Tango gilt leider nicht „wer oben steht, hat recht“! (Übrigens ist das alles keine Spekulation, sondern beruht auf der Beobachtung hunderter Anfängerpaare!)

Sicherlich sind alle Primaten dressierbar: Nach ein, zwei Stunden Zeitverschwendung marschiert ein durchschnittliches Paar die Geschichte herunter – allerdings auswendig! Eine Folge davon ist, dass Frauen, welchen die „Basse mit Kreuz“ eingetrichtert wurde, einem nach spätestens vier Rückwärtsschritten ein Kreuz in den Weg legen ob es nun passt oder nicht. (An dem Punkt wird einem dann klar, dass „cruzado“ im Spanischen nicht nur „gekreuzt“, sondern auch „verflucht“ bedeutet…)

Natürlich könnte man ein Kreuz (mit entsprechender Erfahrung) führen, aber zu diesem Thema habe ich in den Lehrvideos (jedenfalls auf Anhieb) nichts gefunden – man tanzt es halt so und gibt den Schmarrn gemäß der im Tango herrschenden Steinzeitmethodik einfach weiter: gugschdu, machschdu…

Braucht der Tango als Improvisationstanz Nummer Eins eigentlich einen Grundschritt? Nun, ursprünglich nicht wohl erst um 1980 haben angeblich argentinische Tangolehrer (wer sonst?) dieses Ding zusammengekupfert, auf dass unser Tanz den Standardtänzen nicht nachstehe. Im Internet las ich die Vermutung, dies sei ein Marketing-Manöver für die Europäer gewesen, damit diese – ihrer Mentalität gemäß – mit einer „festen Regel“ versorgt wurden, inklusive diverser, darauf aufbauender Variationen, welche man in x Kursen verscherbeln kann. Und angesichts der mangelnden Eignung dieser Choreografien für die Schüler besteht die Hoffnung, diese noch sehr lange beliefern zu dürfen…

Insofern ist der Paso basico – neben Tandas, Cortinas, „Workshops“, gestreiften Hosen und Tanzschuhverkauf – nur ein weiteres Beispiel für das Massenphänomen im Tango: Irgendeiner fängt einmal damit an, hat einen gewissen Zulauf, und binnen geraumer Zeit avanciert die entsprechende Kateridee zu einer „geheiligten Tradition“, die man weder zu begründen braucht noch gar zu hinterfragen wagt.

Gab es all das schon zu den Anfangszeiten des Tango vor über hundert Jahren? Ich rate euch ab, hier genauer nachzuforschen – ihr würdet enttäuscht sein.

(Und die verlinkten Videos sind keine Außenseiterprodukte", sondern weisen zumeist sechsstellige Zugriffszahlen auf!)

Ehrlich gesagt hatte ich – nach den schon gehabten Schimpftiraden – Skrupel, der Mehrheit der „Tangolehrer“ hierzulande mangelnde bis fehlende Kompetenz vorzuwerfen. Nach längerer Suche fand ich glücklicherweise ein Statement des Bildhauers Wolfgang Sandt, welcher auch Tangounterricht gibt:

„Kann man Tango tanzen, ohne einer bestimmten, auswendig gelernten Schrittkombination zu folgen? Aber selbstverständlich! (…) Die meisten Anfänger sind so beschäftigt damit, die Schrittfolge einzuüben, dass sie sich meistens nicht mehr auf die Musik des Tango konzentrieren können und tanzen völlig unabhängig von der Musik (freundlich ausgedrückt). Tango ist das dann natürlich nicht mehr. (…)
Leider ist es offensichtlich so, dass viele Lehrer, die offensichtlich selber keine Ahnung haben, ihren Schülern gar nicht vermitteln, wie man zusammen tanzt, mit seinem Körper Einladungen vermittelt oder spürt, was der Partner will.“


Liebe Anfänger, vielleicht findet ihr ja einen erfahrenen Tänzer, der euch schlichtweg das Gehen („caminar“) beibringt – voreinander bzw. außenseitlich links oder rechts, mit den entsprechenden Wechseln zwischen parallelem und gekreuztem System – notfalls könnt ihr auch auf den Seiten 156-157 meines „Milonga-Führers“ (2. Auflage) nachschauen! (Werbung Ende)

Da diese Manöver viel einfacher zu tanzen sind, könnt ihr sie wohl bald ziemlich passend zur Musik gestalten, was einem Tango dann schon täuschend ähnlich sieht. Aber verratet nicht (und schon gar nicht euren Kollegen, welche teure Kurse buchen), mit welch billigen Mitteln ihr das hingekriegt habt!

Edit 2019: Von Tangolehrern wurde ich schon öfters belehrt, keine Ahnung vom den heutigen, gigantischen Fortschritten in der Unterrichtsgestaltung zu haben. Leider sehe ich aber nach wie vor haufenweise Anfänger, die sich durch dieses Schrittmuster quälen. Daher bleibt mir nur der Rat: Beim Erscheinen der Basse sofort den Kurs verlassen!

Kommentare

  1. Fundstück bei Wikipedia:
    "Basse bezeichnet in der Jägersprache ein starkes, altes, männliches Wildschwein (Keiler)"

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.