Letztmalige Erläuterung meines Musikgeschmacks



Kürzlich habe ich an zwei aufeinander folgenden Tagen bei Milonga-DJs für großes Erstaunen gesorgt, und zwar gleich in dreifacher Hinsicht. Obwohl vorwiegend traditionelle Klänge angesagt waren, besuchte ich diese Abende, tanzte viel und bedankte mich zum Schluss beim Mann (bzw. der Frau) hinter dem Computer für die „schöne Musik“.

In beiden Fällen erhielt ich ähnlich fassungslose Reaktionen in der Art von „Ich war überrascht, dass du überhaupt gekommen bist“ und „Ich dachte, dir gefallen nur moderne Tangos“. Ich kann inzwischen mit solchen Einordnungen leben, da ich weiß, dass sie mehr über das Denken der Betreffenden aussagen als über meines: Offenbar benötigt man halt Schubladen: „Tradi-Fan“, „Nuevo-Tänzer“ oder was auch immer. Also, ich brauch’ die nicht!

Mir war natürlich an diesen Abenden klar, worauf ich mich einließ, und da ich keine Berührungsängste vor den Stücken der EdO habe, war ich gespannt auf die musikalische Auswahl. Ich fand sie jeweils (innerhalb der gegebenen Grenzen) recht abwechslungsreich, gut zusammengestellt und zum Tanzen animierend. Insbesondere freute es mich, dass mir viele Titel nicht bekannt waren und ich mich nicht zum hundersten Mal auf „Asi se baila el tango“ (natürlich von Tanturi gespielt) bewegen musste. Zum Vergleich: Hätte ich eine „Neo-Milonga“ besucht, wäre ich ebenso dankbar gewesen, nicht schon wieder „Tango to Evora“ oder das „Lied van welk verdriet“ interpretieren zu sollen.

Mein Frust wäre in beiden Fällen nicht nur wegen eines DJ entstanden, der offenbar ohne große Eigenleistung das spielt, was alle auflegen. Diese Titel haben vor allem eines gemeinsam: Sie gehören zum Typus von „Kennst du die ersten 15 Sekunden, kennst du das ganze Stück“. Das Arrangement ist simpel, die Interpretation spannungsarm, Überraschungen sind nicht zu erwarten.

Diese gepflegte Langeweile aufs Parkett zu übertragen reizt mich überhaupt nicht, im Gegenteil – es steigert meinen Nikotinkonsum vor der Tür. Mir fällt dazu immer eine Besprechung des legendären Theaterkritikers Alfred Kerr ein, der sinngemäß schrieb: Das Stück begann um 20 Uhr. Als ich nach zwei Stunden auf die Uhr sah, war es Viertel nach acht.

Derzeit wird von der lieben Blogger-Konkurrenz wieder einmal viel über die „einmalige Symbiose zwischen den Orchestern und Tänzern“ im ach so verehrten Goldenen Zeitalter des Tangos geschwobelt. Das mag schon sein, doch da hier Mainstream auf Mainstream traf, kam oft genug „Mittelmaß im Quadrat“ heraus. Zum Vergleich: Diese perfekte Abstimmung tritt auch zwischen heutigen Popstars oder gar volkstümlichen Musikanten und ihrem headbangenden bis schunkelnden Konzertpublikum auf – nur finde ich da oft intelligenteres Leben auf meinem Duschvorhang…

Ganz sicher gibt es von den „großen Orchestern“ dieser Zeit hervorragende Aufnahmen, die ich sehr gerne tanze - neben Troilo und Pugliese möchte ich hier einmal die ultimativ dynamischen Walzer von Pedro Laurenz und die wunderbaren Schnulzen von Osvaldo Fresedo nennen, mit denen man mich, zumal am späteren Abend, glücklich machen kann.

Wenn beispielsweise der einschmeichelnde Sänger Héctor Pacheco Stücke wie „Vida mía“ oder „Sollozos“ interpretiert, kann ich die ganze Sensibilität und Leidenschaft des Tangos aufs Parkett malen, und sollte bei ersterem Titel gar Dizzie Gillespie das Solo blasen, bin ich im siebten Himmel – gerade wegen (und nicht trotz) dieser „Grenzüberschreitung“ zum Jazz. Übrigens hat das Video bei „YouTube“ über 50000 Klicks – und 200 „Gefällt mir“-Urteilen stehen 4 negative Reaktionen gegenüber (ich möchte nur wissen, wer die anderen zwei waren…). Sicher ist es schwieriger, den Trompetenpart dieses einmaligen Jazzmusikers zu vertanzen als  den gleichförmigen Viertel-Schrummelrhythmus bei Tanturi. Aber genau das wirkt auf mich als Anreiz und nicht als Abschreckung!

Nun scheint sich allmählich auch in den oben genannten Kreisen die Einsicht einzustellen, es grenze doch ans Lächerliche, jegliche Tangomusik nach 1960 als künstlerisch minderwertig einzustufen. Aber diese sei halt für Konzerte geeignet, nicht zum Tanzen. Das geht dann so weit, dass man hierfür noch die Komponisten und Interpreten zu Kronzeugen ernennt: Piazzolla beispielsweise habe gar nicht gewollt, dass man auf seine Stücke tanze. Abgesehen davon, dass ich hierzu noch nie ein überzeugendes Zitat gefunden habe – vielleicht hat der Schöpfer des „Tango nuevo“ angesichts der damals schon grassierenden „Seniorengymnastik“ auch nur gemeint: Diese Leute sollten sich nicht dazu bewegen…

Weiterhin kenne ich kaum Musiker, die tanzen können (die Frau an meiner Seite bildet eine rühmliche Ausnahme) – wieso also solchen Aussagen irgendeine Bedeutung beimessen? Ebenso ist mir völlig schnuppe, ob Johann Strauß einen seiner mitreißenden Walzer für eine Operette oder einen Ball geschrieben hat – ich bin der Tänzer und entscheide, dass ich diese Komposition in Bewegung umsetzen will (und bin dankbar, wenn man mir dann keine Konzertbestuhlung in den Weg stellt)!

Warum derlei Argumente so oft unreflektiert nachgeplappert werden, liegt vor allem am Marketing-Konzept, welches solch „nützliche Ideologen“ ermöglichen. Die Tanzlehrer können nämlich ihre Kundschaft beruhigen: „Seht ihr, der wahre Tango ist ganz einfach.“ Nein, ist er nicht!

Ich habe in letzter Zeit mehrfach Milongas erlebt, wo man mit der Zeit (und teilweise ein klein wenig durch meinen Einfluss) bei der Musikauswahl mutiger wurde und von „museal und langweilig“ auf eher „modern und ambitioniert“ umstellte. In keinem Fall kam es zu Protesten oder gar der Abwanderung von Gästen, im Gegenteil: Es war deutlich zu beobachten, dass fast alle besser tanzten als vorher.

Und wenn Sie probieren wollen, wie Musik dazu animieren kann, dann lassen Sie sich einmal von „Mariposita“ (El Arranque & Ariel Ardit), „Gallo ciego“ (Las Sombras) oder „Canaro en Paris“ (Sexteto Mayor) aufs Parkett locken! Die „Baujahre“ dieser Titel liegen alle im EdO-Bereich – aber mit welcher Dynamik und Spielfreude werden sie von diesen modernen Interpreten umgesetzt! Doch sollte Ihnen dies zu turbulent sein: Die Kolpingfamilie veranstaltet nach wie vor einmal wöchentlich ihren Bastelnachmittag für Senioren…

Fazit: „Traditionell“ oder „modern“ ist für mich kein Kriterium – Qualität dagegen schon!




Kommentare

  1. Früher, so vor gefühlten 100 Jahren war es logistisch echt schwierig aufkeimenden Tangomusikappetit zu befriedigen.
    In der gut sortierten, riesigen Schallplatten- (ja, wirklich!) und CD-Abteilung eines führenden Drogeriemarkts fand man meistens nur den Sampler "Tangomania" und genau einen Piazzolla - mehr von seiner Musik versteckte sich in der Jazzabteilung, aber nur vielleicht. Reinhören war so gut wie unmöglich, da die "Hörstation" von laut riechenden Teenagerhorden belagert war.

    Und heute freu' ich mich jeden Tag, wenn ich meinen Rechner einschalte, online gehe und dort SO VIEL Tangomusik hören darf.
    Hosianna! Halleluja! Simpel und stressfrei.

    Todotango z.B. ist ja inzwischen recht bekannt: eine argentinische Seite mit riesiger Musikdatenbank, geordnet nach Orchestern oder Stücken oder Komponisten. Wie es Euch gefällt! Täglich zum Kaffee die "Auswahl des Tages" zu hören, gehört bei mir zum Frühstück.
    Runterladen geht nicht - hören kostet dafür nix.

    Auch Internetradios bieten Tangomusik, einfach mal Tante Google fragen. (sehr fein z.B. LastFM oder Tangoradio Plauen)

    Eine (gering) kostenpflichtige Möglichkeit, unzähligen Tangoplatten zu lauschen, bietet u.a. simfy. Gerne suche ich dort nach einem persönlichen Lieblingstitel und lasse ihn mir von verschiedenen Interpreten vorsingen. ("Cambalache" von Julio Iglesias z.B. *grins* hoher Schrägfaktor)
    So findet sich immer neue, quietschlebendige, romatischbunte, intelligent ansprechende Glitzermusik aus allen Tango-Epochen und "Tango-Lebensräumen".
    Wie schön!

    Viel Freude beim Finden!

    P.S. Fast alle Stücke kann man bei "Amazon" auch einzeln kaufen!

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Danke für diese Hinweise! Ja, im digitalen Zeitalter hat man's da leichter! Aber: Haben denn die "Macs" vieler DJs einen Filter, welcher diese Vielfalt einschränkt? Vielleicht lässt sich der über eine "App(le)" umgehen, damit's auf dem Parkett wieder interessanter wird? Fragen über Fragen...

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.