Yokoito: Por cinco cabezas


Por cinco cabezas

Nach langer, intensiver Arbeit hat jetzt die Arbeitsgruppe „C“ (Codigos) der International Tango Union (ITU) mit Sitz in Buenos Aires eine „Recomendación“ verabschiedet (C.0401), die Cabeceos einen einheitlichen Definitionsrahmen in Form von „Nivels“ gibt[1].

Der Vorsitzende der Arbeitsgruppe, Comodin Primero de Avril, bezeichnete die Veröffentlichung als einen „bahnbrechenden Erfolg, der endlich Eindeutigkeit in ein Gebiet bringt, das bisher von Unklarheiten geprägt war“. Cabeceos sind ja eigentlich das zentrale Element der Tango-Codigos; umso erstaunlicher, daß mehr als hundert Jahre bis zu diesem Durchbruch vergehen mussten.

Worum geht es genau? Jedem Tangotänzer, der Cabeceos praktiziert, ist bewusst, dass es einfache, mittelschwere und schwierige Cabeceos gibt. Das Problem: wie darüber sprechen? Um sich mal eben mit einem Nachbarn über dieses Thema zu unterhalten, sind zeitraubende und dennoch ungenaue Umschreibungen notwendig, die nicht selten dafür sorgen, daß ein solcher Austausch bis weit in die nächste Tanda dauert und somit genussvolle Tänze kostet. Um solche Frustrationen zu vermeiden, gab es bisher nur eine Möglichkeit: nicht darüber sprechen oder gar, in einer psychologisch nachvollziehbaren Ausweichreaktion, Cabeceos ablehnen.

Oft erscheinen Lösungen komplexer Probleme im Nachhinein einfach und eigentlich offensichtlich. Das trifft sicherlich auch hier zu: ein international verbindlicher Standard für die Klassifizierung von Cabeceos nach ihrem Schwierigkeitsgrad[2].  Dass diese Standardisierung dennoch so lange gedauert hat, lag natürlich daran, daß eine große Zahl von Tango-Experten mit, naturgemäß, einer großen Bandbreite von Meinungen beteiligt war. Umso beeindruckender ist das Ergebnis dieser Arbeit.

Genaugenommen hängt die Schwierigkeit eines Cabeceo – nimmt man die gegenseitige Attraktion von Tanzpartnern als subjektives Element aus der Betrachtung heraus – zwar nur von einem objektiven Faktor ab, nämlich der gegenseitigen Sichtbarkeit. Diese hat jedoch mehrere Dimensionen, also Eigenschaftsebenen.

Die erste Ebene ist natürlich die Geometrie. Ein Cabeceo wird eher gelingen, wenn die Zielperson einen halben Meter entfernt ist, als wenn über die Diagonale des Tanzraums hinweg aufgefordert wird[3]. Die zweite Ebene sind die Lichtverhältnisse. Abgesehen von allgemein dunklen Räumen kann das Cabeceo-Ziel vor einer hellen Lichtquelle sitzen oder stehen, in die der Cabecist hineinblicken muss, will er Blickkontakt herstellen. Auch der Blickwinkel zählt noch zu den direkten Faktoren; je weiter am Blickfeldrand des Ziels, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, wahrgenommen zu werden[4].

Vor allem aber kann die Blickachse durch Hindernisse versperrt sein. Eine der wichtigsten Tangobloggerinnen aller Zeiten, Terpsichoral Tangoaddict, hat den unsterblichen Begriff vom „curtain of people“ geprägt, der sich mit dem Beginn der Tanda beginnt rapide zu schließen. Zwar gibt es dann immer noch die Möglichkeit kurzer Blicktunnel, wenn Tänzer sich bewegen. Auf vielen Milongas ist die Rondageschwindigkeit jedoch so langsam, daß sich solche Blicktunnel nur sehr selten entwickeln. Zudem – da sind wir allerdings schon im Bereich subjektiver Wahrnehmung – scheint es eine Art boshafte Absicht von bereits in der Ronda angekommenen Tänzern zu sein, den Cabeceo-Blick gerade auf die jeweilige Lieblings-Tanguera möglichst lange blockieren zu wollen. Die „Argentinidad“, also das halbminutenlange bewegungslose Herumstehen zur Musik, kommt noch „on top“.

Cabeceos durch eine bereits gefüllte Tanzfläche hindurch haben also fast immer Schwierigkeitsgrade am Ende der Skala. Allerdings – das wäre dann die „bright side“: Die Belohnung für einen solchen Cabeceo ist nicht nur ein starkes Glücksgefühl, sondern auch ein hoher Statuswert in der Cabeceo-Community.

Last but not least – auch wenn der Cabeceo prinzipiell funktioniert hat, muss das noch nicht bedeuten, dass auch die „gemeinte“ Person darauf reagiert – die „precisión del cabeceo“ (PC) wird in der Recomendación ausführlich diskutiert, die zudem noch zwischen Amateur- und Wettkampf-Cabeceo unterscheidet. Im Wettkampf-Cabeceo führt das Auffordern der falschen Dame zu Punktabzug, während im Amateurniveau vom Cabecisten nur verlangt wird, einen PC-Fehler glaubhaft zu verbergen.

Aber genug der Theorie: Schauen wir uns jetzt die Cabeceo-Nivel-Definitionen an. Wie gesagt gibt es zwischen den Nivels einen gewissen Spielraum. In Zweifelsfällen wird das Nivel im sogenannten CS-Verfahren festgelegt[5]. Da einige Leute keine Zahlen mögen, wurden alternativ zu den Nivel-Werten noch Buchstabenkombinationen festgelegt, in Klammern der Langtext dazu.

·         Nivel 1 oder RF (ridículamente fácil): Entfernung bis ca. 2 Meter, Zentrum des Blickfelds, gute Beleuchtung, keine Sichthindernisse.

·         Nivel 2 oder GDP (granja de ponis): Über die kurze Seite der Tanzfläche hinweg, gutes Licht, keine Sichthindernisse, Zentrum des Blickfelds.

·         Nivel 3 oder SVTL (se vuelve tan lento): Distanz bis zur kurzen Seite der Tanzfläche bei nicht ganz so gutem Licht, oder lange Seite bei gutem Licht; nicht mehr als 10 Grad Abweichung zum Blickfeld-Zentrum, kurze Unterbrechung der Sichtlinie.

·        Nivel 4 oder DDC (difícil de creer): Über die Tanzflächen-Diagonale hinweg, häufigere, aber jeweils noch kurze Sicht-Unterbrechung durch andere Tänzer, nicht mehr ganz so gute Helligkeit, schon etwas außerhalb der Blickfeld-Mitte.

·        Nivel 5 oder MTL (mierda totalmente loca):  Schummriges Licht, die Ronda ist bereits ziemlich voll, am Rande des Blickfelds oder Cabeceo-Zielperson in Unterhaltung, zweite Dame in fast gleicher Blickrichtung.

Dass nun die „Nivels“ es erstmals möglich machen, sich zeitsparend über Cabeceos auszutauschen, ist nicht der einzige Vorteil. Der Tango hat ja, mit jährlich stattfindenden „Weltmeisterschaften“, auch einen wettbewerbsorientierten Sektor. In Zukunft wird es möglich sein, nicht nur Tanz- sondern auch Cabeceo-Meisterschaften abzuhalten, was dem Tango ganz neue Möglichkeiten eröffnet, ein breiteres Publikum zu erreichen.

Auch für den Bühnentango und das Vortanzen professioneller Paare ergeben sich neue Möglichkeiten: Das Publikum mit noch mehr in schneller Folge ausgeführten Figuren zu beeindrucken stößt mittlerweile an Grenzen. Ein dem Tanz vorgeschalteter MTL-Cabeceo hat dagegen das Potential, auch die abgebrühtesten Zuschauer neu zu begeistern.

Ebenso wird der heute sehr wichtige Inklusionsgedanke gestärkt: Vielleicht ist jemand nicht zum Spitzen-Tangotänzer bestimmt, hat dafür aber außergewöhnliche Cabeceo-Fähigkeiten und kann sich so einen Platz in der Tango-Community sichern.

Nicht zuletzt ergeben sich für Veranstalter neue Möglichkeiten: Ein Encuentro oder eine Tango-Location könnte damit werben, dass dort nur DDC- oder MTL-Cabeceos möglich sind, und damit gezielt Spitzen-Cabeceros ansprechen.

Nun denn - ¡Que empiecen los juegos de cabeceo!



[1] So wie im Technikbereich das Englische, ist im Tangobereich ja Spanisch die Fachsprache; anderswo würden wir also von einer Recommendation und von Levels sprechen.

[2] Ähnlich funktionieren übrigens die Levels beim autonomen Fahren, die von der Society of Automotive Engineers (SAE) definiert wurden.

[3] Der Vereinfachung halber wollen wir hier einmal davon absehen, daß es eine Art „Mindestabstand“ für Cabeceos gibt, daß also ein Blickkontakt etwa aus Armlängen-Distanz je nach Tango-Community als unsportlich gelten kann.

[4] In der einschlägigen Cabeceo-Literatur finden sich denn auch zahlreiche Tipps, wie die Aufmerksamkeit des Ziels durch Bewegungen erlangt werden kann.

[5] Common sense

Ich danke dem Kollegen Yokoito ganz herzlich für diesen Bericht und die Erlaubnis, ihn auch auf meinem Blog veröffentlichen zu dürfen.

Den Originaltext findet man hier: https://tangoblogblog.wordpress.com/2024/04/01/por-cinco-cabezas/

Sicherlich kann dieser Definitionsrahmen dem Wettbewerbs-Wesen im Tango neuen Auftrieb geben. Yokoito wird uns auf dem Laufenden halten.

Lasst die Cabeceo-Spiele beginnen!

 

Kommentare

  1. Selten so gelacht

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    1. Vielen Dank! Ich werde es an den Autor weitergeben.

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