Die unbekannten Heldinnen

 

Kennen Sie Katalin Karikó?

Ich bis vor kurzem auch nicht. Für einen gelernten Biologen eine Schande. Die 66-jährige Biochemikerin ist nämlich die Wegbereiterin der mRNA-Technologie, der wir heute die führenden Corona-Impfstoffe verdanken.

Warum konnten die so schnell entwickelt werden? Weil die ungarische Forscherin bereits seit Ende der 1970er-Jahre die Vision verfolgte, mit der Boten-RNA könnten Krankheiten geheilt werden.

Ihre Idee war so simpel, dass sie viele Jahre ihre wissenschaftlichen Kollegen nicht überzeugen konnte: Stoffwechselvorgänge spielen sich auf der Basis von Eiweißstoffen ab. Deren Rezept findet sich auf der jeweiligen mRNA – herunterkopiert aus dem Gen-Archiv DNA. Wieso sollte der Körper also „Medikamente“ nicht selber herstellen können, wenn man ihn mit der entsprechenden Rezeptur versorgt? 

Die Tochter eines Metzgers aus einem ungarischen Dorf durfte wegen ihrer Begabung Abitur machen und Biologie studieren. Nachdem man ihre wissenschaftliche Stelle an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften gestrichen hatte, wanderte sie 1985 mit Mann und Tochter in die USA aus, wo man ihr einen Posten an der Temple University Philadelphia angeboten hatte. Wegen der strengen Devisenbestimmungen versteckte sie 900 Britische Pfund (den Erlös aus dem Verkauf ihres Autos) im Teddybären ihrer Tochter.

Doch auch in den USA konnte sie zunächst niemanden von ihrem Forschungsvorhaben überzeugen. Förderanträge wurden abgelehnt, akademisch wurde sie auf eine schlechter bezahlte Stelle zurückgestuft. Erst der Immunologe Drew Weissman war von ihren Ergebnissen überzeugt. Gemeinsam gründeten sie eine Firma zur weiteren Erforschung von Medikamenten auf mRNA-Basis.

Entscheidende Schwierigkeiten mussten überwunden werden: Körperfremde Boten-RNA wird in einer heftigen Immunreaktion angegriffen und zerstört. Karikó gelang es, die zugeführte Erbinformation so zu modifizieren, dass sie nicht mehr erkannt wurde. Durch die Verpackung in Lipid-Moleküle konnte die empfindliche Substanz in Körperzellen eingeschleust werden.

Derrick Rossi von der Harvard University entwickelte die Idee weiter und gründete 2010 mit Kollegen die Firma Moderna. 2013 wurden in Deutschland Uğur Şahin und Özlem Türeci auf Katalin Karikó aufmerksam und machten sie zur Vizepräsidentin ihres Unternehmens Biontec. Inzwischen hat sie auch eine Professorenstelle an der University of Pennsylvania.

Wie schwer es heute noch für Frauen ist, sich in der Wissenschaft durchzusetzen, zeigt auch eine kleine Episode: Bei der Beantragung eines Patents konnte Karikó es nur mit Mühe verhindern, dass Weissman bei den Autoren als Erster genannt wurde: „Ich sagte: ‚Nein, es war meine Idee. Ich will an erster Stelle stehen.'"

Was mich an solchen Geschichten immer wieder fasziniert: Bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckungen werden häufig von Außenseitern gemacht. So stammen die beiden wichtigsten biologischen Veröffentlichungen der 19. Jahrhunderts von gelernten Theologen: Gregor Mendel und Charles Darwin. Beide vermochten ihre Umgebung wenig bis gar nicht zu überzeugen:

Darwins Evolutionstheorie, die er in seinem Hauptwerk „Die Entstehung der Arten“ 1859 veröffentlichte, war und ist bis heute Objekt heftiger Attacken, speziell aus konservativen kirchlichen Kreisen. Und von den Kreuzungsversuchen mit Erbsen, die der Augustinerpater Gregor Mendel im Klostergarten zu Brünn durchführte, erfuhr die Fachwelt kaum etwas. Sein Artikel „Versuche über Pflanzenhybriden“ veröffentlichte er – als Sonderdruck mit 40 Exemplaren – 1866 in den „Nachrichten des naturforschenden Vereins zu Brünn“.

Erst um 1900, als drei Forschergruppen seine Vererbungsregeln wiederentdeckten und es einen Streit um die Erstveröffentlichung gab, wurde Mendels Leistung offenbar – zirka 15 Jahre nach seinem Tod.

Mendel war alles andere als ein Wissenschaftler: Zweimal fiel der durch das Staatsexamen in Naturgeschichte und Physik für das Lehramt an Gymnasien. Das zweite Mal allerdings, weil dem konservativen Prüfer die damals neue Idee von der Befruchtung als Verschmelzung einer männlichen und weiblichen Zelle offenbar missfiel – die der Priester dennoch hartnäckig vertrat.

Dabei wurde zu Mendels Zeit von der wissenschaftlichen Botanik hartnäckig nach Vererbungsregeln geforscht – nur eben mit sehr komplizierten Ansätzen. Für den Amateur Mendel hatten seine Erbsenrassen halt gelbe oder grüne Samen, die runzlig oder rund waren. Genau diese simple Sichtweise führte – neben viel Akribie beim „Erbsenzählen“ – zum Erfolg.

Und die wichtigste biologische Entdeckung des 20. Jahrhunderts? Zweifellos die Aufklärung der DNA-Struktur – durch einen 22-jährigen Zoologen und einen 12 Jahre älteren Physiker.

Der junge James D. Watson – im Studium der Vogelkunde zugetan – verfolgte ebenfalls ein sehr simples Ziel: Er wollte wissen, was ein Gen wirklich ist. Lange Zeit hoffte er, dazu keine Chemie lernen zu müssen – bislang hatte er sich um entsprechende Kurse erfolgreich gedrückt. Aus einem wurde er sogar rausgeschmissen. Francis Crick galt im Kollegenkreis als Schwätzer, der viele Ideen hatte, aber bislang keine wirklich umsetzen konnte, auch nicht seine Promotion. Bislang hatte er vor allem der britischen Admiralität gedient – mit Arbeiten über Radar und Seeminen. 

Die beiden galten an der Universität Cambridge schnell als „wissenschaftliche Clowns“, die sich vor allem durch flotte Sprüche hervortaten. Gerade bei Watson zeigt sich wieder die Eigenwilligkeit und Renitenz, die einen wohl davor bewahrt, als Mitglied der „Forschungs-Blase“ nur auf ausgetretenen Pfaden zu wandeln.

In seinem berühmten Buch „Die Doppelhelix“ geht der junge Amerikaner mit der arrivierten Wissenschaft hart ins Gericht:

„In England, wenn nicht überall, waren die meisten Botaniker und Zoologen ein Haufen von Wirrköpfen. Vielen gab nicht einmal die Tatsache, dass sie auf einem Lehrstuhl saßen, den Mut, ordentliche Wissenschaft zu treiben. Manche verschwendeten ihre Kräfte mit nutzlosen Polemiken über den Ursprung des Lebens oder über die Frage, ob man wissen kann, dass eine wissenschaftliche Tatsache wirklich richtig ist. Noch schlimmer aber war, dass man einen akademischen Grad erlangen konnte, ohne die geringste Ahnung von Genetik zu haben.“

Watson und Cricks Methode bestand nicht aus komplizierter Chemie, sondern im Wesentlichen aus dem Bau von Molekülmodellen – oder, wie sie es ausdrückten, in der Überlegung, „welche Atome gerne nebeneinander sitzen“. 

Gerade einmal 900 Wörter hatte der Artikel über die DNA-Struktur in der Zeitschrift „Nature“, den Watson und Crick 1953 veröffentlichten. 1962 erhielten die beiden zusammen mit Maurice Wilkins den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie. Letzterer für die kristallografischen Aufnahmen, welche eine Doppelschrauben-Struktur der Erbsubstanz vorhersagten.

Was heute fast vergessen ist: Die Bilder stammten von der jungen Wissenschaftlerin Rosalind Franklin; Wilkins hatte sie ohne ihr Wissen kopiert und den Kollegen zur Verfügung gestellt. Franklin, die schon 1958 im Alter von 37 Jahren verstarb, ging beim Nobelpreis leer aus. Watson und Crick erwähnten sie nicht einmal bei ihren Ansprachen anlässlich der Verleihung.

1958 formulierte Crick das „Zentrale Dogma der Molekularbiologie“, welches den Informationsfluss von DNA über die RNA zum Protein fordert. Womit wir wieder bei Katalin Karikó wären.

Man sieht an solchen Beispielen, wie wichtig es ist, jungen Forschern Freiräume zu bieten, wo sie ihre Kreativität ausleben können. Wie sehr man an seine Ideen hartnäckig glauben muss, auch wenn sie von der Mehrzahl der „Experten“ ignoriert oder sogar abgelehnt werden. Und dass man als Frau die mehrfache Energie aufzubieten hat, um sich im akademischen Bereich Geltung zu verschaffen.

Immerhin berichten nun die Medien, die ungarische Biochemikerin sei eine heiße Kandidatin für den nächsten Nobelpreis – in Medizin oder Chemie. Bleibt zu hoffen, dass sich die Verhältnisse seit den 1950er-Jahren genügend geändert haben!

Einen Tag, bevor Biontech und Pfizer die erfolgreichen Studienergebnisse zu ihrem Corona-Impfstoff veröffentlichten, riefen die Unternehmen Katalin Karikó an und gratulierten ihr zum Erfolg. Die Forscherin feierte ihn – mit einer Tüte Schoko-Erdnüsse. Ziemlich bescheiden für jemanden, der wohl eine riesige Zahl von Menschen vor Krankheit und Tod bewahrt!

Ich finde, das ist zu Ostern ein passender Gedanke.

P.S. Ich habe über die Wissenschaftlerin gerade einmal zwei kurze deutschsprachige Videos auf YouTube gefunden – eines davon aus Österreich:

https://www.youtube.com/watch?v=1rUN_IhdzZU

https://www.youtube.com/watch?v=LG3ucg8wxBY

Quellen:

https://web.de/magazine/wissen/wissenschaft-technik/katalin-kariko-gaebe-mrna-impfstoff-corona-35667484

https://de.wikipedia.org/wiki/Katalin_Karik%C3%B3

https://de.wikipedia.org/wiki/Gregor_Mendel

https://de.wikipedia.org/wiki/Francis_Crick

https://de.wikipedia.org/wiki/Rosalind_Franklin

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