Mit Zitronen gehandelt



„Die Redewendung geht möglicherweise auf die Vorstellung zurück, dass man bei einer wirtschaftlichen ungünstigen Aktivität in ähnlicher Weise wie beim Verspeisen der sauren Zitrone das Gesicht verzieht.“

Die „Mittelbayerische Zeitung“ wusste vor anderthalb Jahren von einer „transatlantischen Lovestory“ besonderen Zuschnitts zu berichten:

Sie war früher ein Hippiemädchen, das „Tanzkurse furchtbar spießig“ fand und sich in der 68-er-Zeit lieber zum „Sit in“ (ohne Cabeceo) verabredete. Erst ab 2010 war sie dem Tango verfallen. 2015 kam sie auf einer Reise nach Buenos Aires in einer Milonga, die auch noch „El Beso“ („der Kuss“) hieß, gegenüber ihm zu sitzen: Ein Sohn indischer bzw. französischer Eltern (geboren auf La Réunion), „ein Mann mit Kirschaugen und einem Lächeln wie Harry Belafonte“, wie die Presse zu berichten weiß. Bereits seit 2008 lebte er in dieser Stadt, um „den Tango zu entdecken“. Natürlich funkte es zwischen den beiden, und „gegen alle Regeln“ tanzte man an diesem Abend mehrmals miteinander.

Doch, oh jemine, beinahe hätten sie einander wieder verloren, da sie sein hingenuscheltes „monday“ für den Tag des nächsten Treffens mit „sunday“ verwechselte – Romeo und Julia in der Großstadt! Doch vier Tage vor ihrer Heimfahrt klappte es doch noch, natürlich wieder im El Beso…

Seit letztem Jahr ist der Traumtänzer nun bei seiner Tanguera in einer nahen bayerischen Großstadt angekommen und gründete mit ihr eine Tangoschule – Entschuldigung, natürlich eine „Escuela de Tango Argentino“: „Naranjo en Flor“ („blühender Orangenbaum“) – logischerweise ein Tangotitel.


Gerade die hier mitlesenden Damen werden sich nun wohl – dank gestiegenen Oxytocinspiegels – spontan entschließen, Kurse zu buchen und es mir nie verzeihen, wenn ich nachfolgend etwas Wasser in den argentinischen Rotspon kippe. Aber es wirkt bei solchen legendären Angeboten halt meist etwas desillusionierend, wenn man sich die Webseite betrachtet und gar noch einiges recherchiert.

Dort ist fürwahr Erstaunliches zu lesen:

„Ganz bewusst“ verzichte man „auf eine komplizierte Einteilung von Levels oder Niveaus“, denn man verstehe „den Tango als sozialen Tanz, der für alle gleichermaßen offen“ sei: Anfänger (I und II), Intermediates und Fortgeschrittene würde reichen. (Nun, das ist die übliche Einteilung der Schulen!)

Und selbstredend: „Wir legen Wert darauf, unseren SchülerInnen von Anfang an die ‚Códigos de la Milonga‘ und damit den ‚Baile social‘ nahezubringen.“ Eindeutig setzt man auf die „Hundertprozent-Argentinien-Strategie“: „Als Meisterschüler von Mimi Lertora-Santapa, einer der letzten großen und anerkanntesten Maestras in Buenos Aires, unterrichten wir den Tango Argentino unverzerrt in seiner Reinform, dem ‚Tango Salón‘ und zentriert auf seine Herkunft, die ‚cultura de porteña‘.“ Das macht sicherlich Eindruck auf den Gemeinen Oberpfälzer…

Doch wird es bei der Nachforschung schon schwierig: Zuverlässige Internet-Quellen wissen kaum etwas von der Dame. Immerhin gibt es ein paar Tanzaufnahmen mit ihr:


Angeblich soll diese Person „seit 2009 die UNESCO-Botschafterin für das Weltkulturerbe ‚Tango‘“ sein. Doch auch hier erntete ich von Google nur Schulterzucken…

Und so geht es weiter: Der hier werbende Tangolehrer „schloss sein Studium an der Tango Universität Buenos Aires mit dem Diplom ‚Instructor deTango Danza de la CETBA‘ (Centro Educativo de Tango de BsAs) ab.“ Die „Mittelbayerische“ nimmt das zwar hin („ja, sowas gibt's“) – jedoch weiß auch hier das Internet wenig über diese Institution. Keinesfalls entspricht sie wohl dem, was man hierzulande unter einer „Universität“ versteht – eher handelt es sich offenbar um ein kommunales Kulturzentrum, in dem alle möglichen Kurse stattfinden:
Und „1386 Stunden“ dauerte die Ausbildung (ja, da nehmen es die Argentinier bekanntlich genau…).

Und über seine Partnerin erfahren wir: „Ihre Tangolehrer-Ausbildung (International TangoTeacherTraining) erhielt sie bei Melina Sédo und Detlef Engel (Saarbrücken).“ Äh ja, aber die Ausbilderin trägt halt ihren accent aigu auf dem „o“ – den Namen des Lehrers sollte man schon schreiben können…

Überwältigend ist vor allem das Kursangebot: Über 20 Lehrgänge konnte ich zählen, darunter solche Knaller wie „Estilo Carlos Gavito“ – ich warte wirklich auf die erste Musikschule, die „Geige im Stil von Menuhin“ anbietet (und zwar ebenfalls nach drei Jahren Spielpraxis). Und ob man bei Beachtung der hochgeschätzten Códigos Workshops wie „Voleos y Planeos“ (geeignet ab einem Jahr) überhaupt braucht? Schön ist auch die Erwartung, man könne nach ebenso langer Lernzeit die folgende Qualifikation erwerben:
„PUGLIESE, DI SARLI, D’ARIENZO, DONATO.....?
Tango ist nicht gleich Tango: jedes wichtige Orchester der Epoca d'Oro des Tango hatte seinen spezifischen Stil, seine kleineren und größeren Besonderheiten der Interpretation. Ziel dieses workshops ist es, diese Unterschiede herauszuhören und nicht nur die passenden Schritte und Figuren, sondern auch die Emotion und die Seele des jeweiligen Stückes in den Tanz zu integrieren.“
(Übrigens müsste man nach konservativer Lesart als viertes Orchester Troilo nennen!)

Übungsmöglichkeiten „in freier Wildbahn“ sind eher rar: Practicas werden gelegentlich (zwei Stunden alle drei Wochen) angeboten, eine Milonga nicht. Da drängt sich mir der Vergleich mit einer Fahrschule auf, die zwar über Unterrichtsräume, nicht aber Autos verfügt… Aber immerhin wird ein Tangowochenende auf einem Barockschloss veranstaltet!

Man möge bei meiner Kritik nun nicht in die tangoübliche „Kultur des Beleidigtseins“ verfallen – ich weiß ja nichts über die Unterrichtsqualität, vielleicht ist sie sogar gut. Aber gerade dann empfehle ich, die Orangen am Baum zu lassen und uns mit Poemen vom „Land, wo die Zitronen blüh‘n“ tunlichst zu verschonen! Dieses Geplustere mit dem „wahren Tango“, der Meisterschülerschaft bei den letzten, fast hundertjährigen Zeitzeugen sowie der exotische Romantik-Schmus hat soo einen Bart!

Daher verwende ich als Schluss statt des üblichen argentinischen Zitats (irgendwas mit den Geigen und den Pausen) lieber einen herrlich schnoddrigen Spruch aus der bundesdeutschen Tangometropole:
   
Hamses nich 'ne Nummer kleener?

Weitere Infos: http://naranjoenflortango.com/index.html

Kommentare

  1. Es gab eine Zeit, da besagte Dame noch mit gewöhnlichem Volk tanzte, also mit unsereins, die wir das Pech haben, den höheren Segen bei keinem argentinischen Meister erhalten und auch auf keiner Tango-Akademie ein Diplom erworben zu haben. Inzwischen hat sich die Lage für besagte Dame erheblich gebessert. Jetzt hat sie es nicht mehr nötig, mit dem Plebs in irgendeiner Weise Kontakt aufzunehmen. Nicht nur, dass sie mit unsereins nicht mehr tanzt, sie sieht dieses Volk auch nicht mehr und sucht in großen Tanzräumen die sogenannte VIP-Ecke auf, wobei whip im Englischen "Peitsche" bedeutet. Derart abgewehrt fühlt sich gewöhnliches Volk auch, wenn es sich dieser Ecke nähert.
    Unverständlich indes ist die Anerkennung als Tangopaar. Sie deutsch - da gibt es keinen allgemein verbindlichen Volkstanz - er indisch - da gibt es überhaupt keinen Tanz für Männer, außer Tempeltänze, von Jungfrauen zur höheren Ehre gewisser Götter zelebriert. Also bleibt nichts anderes übrig, als sich mit Diplomen zu schmücken. Ob die echt sind oder nicht, wen kümmert's. Ein intelligenter Beobachter könnte ja aus deren Verhalten auf der Piste Rückschlüsse auf Tanzstil und Unterrichtsform ziehen. Würde er/sie das tun, käme es zu erstaunlichen Erkenntnissen. Denn mehr als einen wackelig verschrittenen Grundschritt (immer vorwärts, für ihn) hab ich noch nicht beobachten können. Aber vielleicht wird die wahre Kunst dieses Paares auch dem gemeinen Volke vorenthalten. Womöglich schaut sich einer was ab und gründet eine Konkurrenz-Tanzschule. Das wäre in der Tat fatal!

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    1. Lieber Peter,

      es ist eine fatale Tendenz, Sozialkontakte zurückzufahren, wenn man zum „Funktionsträger“ wird. Ich habe nie verstanden, wozu das gut sein soll. Dennoch ist es im Tango allgemein üblich. Ihr seid da bei Eurer Milonga eine rühmliche Ausnahme, das kann man nicht oft genug betonen!

      Dennoch möchte ich nicht, dass der Eindruck entsteht, hier würde über bestimmte Personen der Stab gebrochen. Ich kenne die Dame flüchtig, ihren Partner gar nicht. Wie sie unterrichten, weiß ich nicht. Immerhin betonen sie die Improvisation – das ist kein schlechter Ansatz. Vielleicht kriegen wir dazu ja nochmal den O-Ton eines Schülers.

      Mein Beitrag sollte eine bestimmte Art der PR kritisieren, die leider nicht ganz selten ist. Da wird für meine Begriffe einfach zu dick aufgestrichen. Weniger wäre oft mehr, das gilt beim Tango in vielerlei Hinsicht.

      Mit dem Begriff „Volkstanz“ habe ich ein Problem: In Argentinien gibt es hunderte von Volkstänzen – der Tango ist für mich dagegen ein multikulturelles Phänomen. Mit irgendwelchen „Echtheits-Zertifikaten“ sollte man vorsichtig sein.

      Herzliche Grüße
      Gerhard

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  2. Markus Betz, WI28. Juli 2017 um 15:33

    Na immerhin erhöhen sich durch dich nun die Page Hits ;-)

    Lieber Gerhard, könntest du mal eine Rezension hierüber schreiben?

    https://www.vida.show/de/tango-argentino-tanz-der-extreme-seine-fantastische-geschichte/

    https://www.vida.show/de/tango-tanzen-lernen/

    Ich vermute mit ziemlicher Sicherheit, dass diese Ausführungen gemeinsam entstanden sein müssen, da sie sehr großen Wert auf seine Meinung legt und sich beide sehr hoch schätzen.
    Dies war auch meine private Wahrnehmung, also darf ich bitten, dass du einen Tango mit diesen Texten tanzt?!

    PS:(..)Ziel dieses workshops ist es, diese Unterschiede herauszuhören und nicht nur die passenden Schritte und Figuren, sondern auch die Emotion und die Seele des jeweiligen Stückes in den Tanz zu integrieren(..)

    Davor habe ich die größte Angst bei diesen Musikworkshops meine eigenen Emotionen durch die von anderen überdeckt zu bekommen, ich kann nur als Beispiel sagen, dass dies Cosae Mandinga wirklich großartig getan haben.

    Leandro Diaz ließ sich von mir zu der Aussage hinreißen, dass das größte Problem sei, den Tango nicht tot zu deklinieren.
    Man darf sich nicht in den Einzelteilen verlieren, da dies den Tango und die Emotion tötet, und dafür bin ich am meisten dankbar :-)
    Und die Interpretation läge in jedem selbst, sie selbst als Musiker möchten lediglich eine Richtschnur vorgeben, an der man sich dann entlang hangeln kann, Emotional sowie technisch.

    http://www.cosaemandingatango.com.ar/tour-gira

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    1. Lieber Markus,

      danke für die Infos!

      Über Nicole Nau habe ich schon mehrmals geschrieben:
      https://milongafuehrer.blogspot.de/search?q=nicole+nau

      Und Musik-Workshops sind für Tangotänzer auf jeden Fall besser als irgendwelches Figuren-Geschraube. Aber natürlich ist die Musikinterpretation (ob man nun spielt oder tanzt) eine individuelle Angelegenheit. Anregungen kann man sich dennoch holen.

      Ansonsten bitte ich um Verständnis dafür, dass ich zum reinen Spaßvergnügen schreibe und mir daher den (unbezahlten) Luxus leiste, nur Themen zu bearbeiten, die mich persönlich herausfordern.

      Beste Grüße
      Gerhard

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