Melusine!

 

Die Erzählung „Rickscha Tango“ des Autors Heinrich von der Haar haben Karin und ich vor fast drei Jahren besprochen:

http://milongafuehrer.blogspot.com/2021/06/rikscha-tango.html

Zweifellos eine nette Geschichte, die uns der Verfasser auftischt! Nun aber erhält das Werk neuen Auftrieb durch die Aktion eines Duos: In einem Video liest Tangofreund Tom Opitz eine Rezension von Ralf Sartori, laut Videobeschreibung Vermittler des Tango, Pionier der Münchner Tangoszene, Paarberater, Veranstalter, Fotograf, Buchautor“. Da kommt also einiges zusammen! Erfreulicherweise hat er Corona, die Impfungen dagegen sowie die drohende Diktatur lebend überstanden.

Beginnen wir am Anfang:

„‚Es irrt der Mensch, so lang er strebt‘ lässt Goethe seinen Mephisto im Prolog zu ‚Faust I‘ sagen, was uns auch auf das ewig fließende Jetzt des Seins verweist, aus dem sich auch der Tango speist.“  

Potzblitz und Dunnerschlag – da werden wir ohne jede Vorwarnung in literarische Höhen katapultiert, als wäre Reich-Ranicki noch unter uns! Und hinten reimen tut es sich auch noch. Wahrlich, die Qualität dieses Opus lässt sich nur in Goetheschen Dimensionen messen!

Zur Zentralfigur Oskar befindet der Kritiker:

„Nicht alle Werdegänge des Tangos dürften mit dessen Themenklaviatur so herausfordernd spielen wie dieser, und in seiner sich auffächernden Dramatik eine solche Katharsis zeitigen.“

Klingt natürlich schöner als der Fakt, dass Oskar so lange in seinem Weibervolk herumirrt, bis ihn der verdiente Herzkasper auf die Bretter nagelt.

Auf Sartori klingt das so:

„Der gute Geist, der Oskar hilft, ist der mahnende Loslass-Lehrer Tod, als er dessen suchthaft amourösem Streben Grenzen setzt.“

Zur Machart heißt es:

„Das Buch ist erfrischend unprätentiös mit leichter Feder geschrieben, ohne je seicht zu sein.“

Ach, hätte sich doch der Rezensent an diesem Stil ein Beispiel genommen! Er nennt das Buch einen „psychologischen Roman“. Also echt jetzt: Psychologisch wohl nicht – und schon gar kein Roman!

In ihm selber, so Sartori, habe das Werk „Episoden und halb vergrabene Eschütterungen“ aus seiner „eigenen Tangovergangenheit hervorgeholt.“ Das hatte ich schon befürchtet.

Gerade auf den Berliner Milongas seien viele Tangueros vom „Erreger neoliberalen Denkens infiziert“, es zähle nur der Marktwert. „Und stets auch die Sorge um den eigenen, der mit einem entsprechenden Gegenüber auf der Tanzfläche vor den Augen der anderen fällt oder steigt. Und natürlich das Streben nach Optimierung des eigenen Genusses, was das im Tango inflationär herbeizitierte ‚Corazón‘ in Unterkühlung hält."

Schön, wie der Schreiber hier den Begriff „empathiefreie Ego-Deppen“ umschifft! Muss man erstmal können. Und Oskar verfolge eine „Agenda des Beutemachens“. Er wolle das „für ihn noch Machbare ausloten“.

Mit Sophie schließlich gerät Oskar an die Falsche – also die für ihn Richtige. Beschrieben wird sie als „wandelnder Prototyp einer unwiderstehlichen männlichen Tangoprojektion“, die ihn „aus seinen kompensativen Gleichgewichtskonstruktionen stößt, indem sie ihm durch ihr unverbindlich opportunistisches Verhalten seine eigene Objektbeziehung zu Frauen spiegelt und ihn dabei aus dieser Ronda kippt.“

Na, wussten wir es doch: In der Ronda zu bleiben bringt nichts! Im Klartext: Sie behandelt Oskar so wie dieser die anderen Frauen.

Im Nachspann erfahren wir, dass diese Rezension bereits in der Tangodanza (1/2022, S. 14) erschien. Mir ist unverständlich, warum man nach der optischen jetzt noch zur akustischen Attacke geschwollenen Daherredens greift.

Und wenn schon, leuchtet mir überhaupt nicht ein, dass sich der verehrte Tom Opitz dafür hergibt, welcher sich in der Videobeschreibung als „Entfaltungspädagoge“ bezeichnet. Doch manche Kiste sollte man einfach zulassen. Immerhin liest er sehr gut, was aber nicht völlig vom Inhalt ablenken kann. Die Verantwortung für diese Schleiflack-Rhetorik hätte ich dem Verfasser jedenfalls nicht abgenommen. Immerhin wird im Titelbild sein Name falsch geschrieben  ausgleichende Gerechtigkeit!

Hier die gesprochene Rezension:

https://www.youtube.com/watch?v=w8Bk7pXQSq8

Mich erinnert das Video ein wenig an den hinreißenden Vortrag des Gegenwartslyrikers Lothar Frohwein in Loriots „Pappa ante Portas“:

„Melusine

Kraweel, Kraweel!

Taubtrüber Ginst am Musenhain!
Trübtauber Hain am Musenginst!
Kraweel, Kraweel!“

https://www.youtube.com/watch?v=bal1SH_EwYY&t=8s

Leider hat Tom Opitz den Schluckauf weggelassen. Schade!

Kommentare

  1. Tom Opitz hat mir den folgenden Kommentar geschickt:

    „Oh DANKE für die Loriot-Blumen und das Leselob lieber Gerhard. Ich habe den Text nur gelesen ...
    Und du fragst warum. Ganz einfach:
    Ich kenne Heinrich von der Haar als netten und klugen Zeitgenossen, mag und schätze ihn als umsichtigen und beliebten Tanguero und als Autor von sehr persönlichen, sehr berührenden Romanen.
    Er hat mich schlicht darum gebeten. Und ich habe es gerne gemacht!
    Meine eigene (bewusst sehr kurze!) Rezension folgt bald. Bin gespannt ob und wie du die zerreißt.
    Mit herzlichem Gruß TomO“

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    1. Lieber Tom,
      danke, dass du mit meiner Kritik so souverän umgehst! Sie bezog sich auch auf den Text, nicht den Sprecher.
      Du hattest ja schon einmal eine kurze Besprechung des Buches als Kommentar auf meinem Blog veröffentlicht:
      https://milongafuehrer.blogspot.com/.../rikscha-tango.html
      Herzliche Grüße!

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