Wie improvisiert man, Manuela?

 

Insidern muss ich meine Gesprächspartnerin nicht mehr ausführlich vorstellen: Manuela Bößel hat meine Bücher illustriert und mir hunderte Bilder für mein Blog zur Verfügung gestellt. Sie betreibt ein eigenes Blog mit Texten zur Heilpraktikerei und zum Tango:

https://www.tangofish.de/

Beruflich ist sie in der ambulanten Intensivpflege und als Heilpraktikerin tätig. Und sie tanzt seit 1999 Tango argentino. Seit vielen Jahren auch mit mir. Eines unserer Tanzvideos hat bekanntlich im Internet für  helle Aufregung gesorgt.

https://www.youtube.com/watch?v=fX4SXOPa4cY

Von dem Interview gibt es eine Tonaufnahme, die ich nachfolgend verschriftlicht habe:

Liebe Manuela, ich habe neulich mit zwei Texten in eine Diskussion zur Improvisation im Tango eingegriffen. Beginnen wir mit der Frage:

Wie hast du selber Tango gelernt?

Ich habe einen Kurs, einen Workshop gemacht. Ob das allerdings zum Tangolernen beigetragen hat, weiß ich nicht. Es war einfach der Einstieg in die Szene. Nach zwei Terminen wurde mir vom Veranstalter verboten, schon auf eine Milonga zu gehen, weil man jetzt noch nicht reif sei. Das war mir aber wurscht. Dann bin ich dort gelandet und habe g‘schaut und getanzt und wieder g‘schaut, was mir dort gefällt oder auch nicht – und viel ausprobiert. Und irgendwann stolpert man halbwegs geschickt herum, dass die anderen meinen, man tanzt.

Wenn du deine Anfängerzeit vor über 20 Jahren mit den Verhältnissen in der heutigen Szene vergleichst – was hat sich geändert?

Ich war ziemlich überrascht, weil man in Augsburg Fremden gegenüber sehr zurückhaltend ist. Ich habe ein Eigenbrötler-Publikum erwartet, also eine Szene, in die man ganz schwer reinkommt. Lustigerweise fand ich im Gegenteil ein unheimlich freundliches Chaos vor. Die anderen Ungehorsamen vom Workshop und ich sind also sehr freundlich aufgenommen worden. Es war ein bunter Strauß von Menschen aus allen möglichen gesellschaftlichen Schichten. Verschiedenste Tanzstile, einfach ein wunderschönes Chaos in einer Hinterhof-Kneipe. Und die dortigen Stammgäste nahmen es gelassen hin.

Und du bist auch gleich aufgefordert worden?

Ja.

Öfters?

Ja, klar. Damals war ich noch ein bisschen fitter, da gab es meist zu Beginn eine Practica. Da bin ich auch hingegangen. Es waren damals keine solchen „Erklär-Practicas“, da hat man einfach viel mehr getanzt. Da war meistens einer, der schon mehr Erfahrung hatte, und dann den anderen etwas gezeigt hat. Und dann ab acht Milonga, bis der Wirt schließlich – so um ein Uhr nachts – heimgehen wollte und uns rausschmiss.

Und es war eher komisch, wenn man sich hingesetzt und gewartet hat, dass man aufgefordert wird. Da galt man eher als arrogant. Man hat ohne Rücksicht auf Verluste und querbeet aufgefordert, und man durfte auch mit denen tanzen, die schon lange dabei waren – die „Freaks“ – und gerade so hab ich wahnsinnig viel gelernt.

Das heißt, damals haben auch Frauen aufgefordert?

Ja sicher – sowieso!        

Welche Rollen spielten bei den Kursen und Practicas so genannte „Figuren“, also tänzerische Folgen?

Zu der Zeit waren die „Figuren“ eher zweitrangig. Da ging es beispielsweise darum: Wie kann ich Traspies tanzen, wie fühlt sich das an? Wie werde ich sicherer bei den Ochos? Wie kann ich gut auf einem Bein stehen? Solche Dinge.

Welche Rolle spielt heute bei deinem Tanzen die Improvisation?

Die Hauptrolle!

Ist es dabei ein Unterschied, ob du führst oder folgst? Du tanzt ja in beiden Rollen.

Fast keiner. Es fühlt sich fast gleich an.

Jetzt kommen wir zur Kardinalfrage, die offenbar viele derzeit beschäftigt: Wie kann man den Leuten beibringen, zu improvisieren?

Gar ned. Die Frage ist schon paradox. Beibringen zu improvisieren geht ned. Entweder man lernt es selber oder man lässt es bleiben. Man kann Bedingungen schaffen, die das Improvisieren fördern.

Welche wären das?

Viel Musik hören, allerdings ohne mit dem Großhirn zu analysieren. Nicht mit dem Verstand, sondern mit dem Gefühl. Und zwar verschiedene Musik, nicht nur Tango. Jazz oder Gregorianische Gesänge – alles, was einem entgegenkommt. Damit man möglichst viele verschiedene Rhythmen spüren kann. Und man muss sich sicher fühlen. Mit Leuten, bei denen ich Angst hätte, dass sie mich auslachen, wird das nichts. Dann sagt der Verstand: Da lassen wir die Schatzkiste zu! Man muss sich in einer Gemeinschaft befinden, wo Fehler auch toleriert werden.

Und man muss sich seiner Technik sicher sein, den Körper tanzen lassen – ohne die Angst, umzufallen.

Was man außerhalb vom Tanzen zwecks Gehirntraining auch versuchen kann: Einfach mal Dinge anders machen – vielleicht, wenn man zum Bus geht, die andere Straßenseite benutzen. Oder statt zum Aldi mal zum Lidl, Netto oder gar zum Rewe gehen. Statt Erdbeerjoghurt mal einen Quark – oder vielleicht mal freundlich sein zur Kassiererin!

Du hast mal davon gesprochen, dass Tango für dich ein „chaotisches System“ ist. Kannst du erklären, was du da meinst?

In der systemischen Theorie unterscheidet man zwischen einfachen Systemen, zum Beispiel eine Uhr mit ihrem Werk: Wenn da was kaputt ist oder neu eingestellt werden muss, kann ich an bestimmten Schräubchen drehen, und dann läuft sie anders. Ein triviales System.

Es gibt aber auch nicht triviale Systeme, die nicht von A nach B laufen, sondern sich selber in Mustern organisieren, ohne dass ein Chef da ist, der das Ganze koordiniert. Das sind Systeme, die sich immer wieder selber in Balance bringen, Muster bilden, die nicht unbedingt stabil sein müssen. Diese Systeme sind nicht instruierbar. Wenn man da etwas verändern möchte oder neue Muster erzeugen möchte, kann man das hochheben und schütteln wie eine Schneekugel, um zu schauen, ob sich dabei neue Muster bilden. Die gewünschten kann man schon stärken, ihnen aber keine Anweisungen geben.

Und blöderweise sind halt Menschen – und der Tango – nicht triviale Systeme. Das macht die ganze Sache für hierarchisch-mechanistisch denkende Menschen sehr schwierig.

Die also dann Führen und Folgen unterscheiden…

Zum Beispiel.

Also nochmal die Frage: Kann man Improvisieren in Kursen oder Workshops lernen?

Nein – man kann sich aber Anregungen holen.

Und wo lernt man’s dann?

Beim Tanzen. Aber man kann sich ja mit einigen passenden Menschen zusammentun und Improvisieren ausprobieren. Zum Beispiel durch Klatschen oder Fußtrappen einen Rhythmus vorgeben, den der nächste dann übernimmt und variiert.

Letzte Frage: Nach deiner Erfahrung – welcher Anteil der Tangotänzerinnen und Tänzer improvisiert?

Heute?

Heute.

Zwei bis drei Prozent – hoch gegriffen!

Liebe Manuela, herzlichen Dank für dieses Gespräch!

***

Da ich in der erwähnten Augsburger Vorstadtkneipe auch oft getanzt habe, kann ich Manuelas Eindrücke zum Großteil bestätigen. Leider habe ich das Lokal erst entdeckt, als man anfing, zum „traditionellen Tango“ umzuschwenken.

Meine Interviewpartnerin tanzt übrigens seit ihrer Kindheit – und nicht nur Tango. Sie hat mir schon vor mehr als sechs Jahren ihre „Tanzografie“ in die Feder diktiert: 

https://milongafuehrer.blogspot.com/2017/07/manuela-boel-meine-tanzografie.html

Kommentare

  1. Hier ein Kommentar von Karin Law Robinson-Riedl:

    Lässt sich das Improvisieren lernen bzw. lehren?

    Manuela hat in diesen Punkten völlig recht:

    1. Man braucht als Grundvoraussetzung eine solide
    Körperbeherrschung. Diese kann man beispielsweise durch Gymnastik oder andere Sportarten außerhalb vom Tango erwerben.
    Ich meine, dass Tangotanzen alleine hierfür nicht genügt.
    Bewegungen auf der Tanzfläche, die „improvisiert“ sein sollen, wirken bei fehlender „Sportlichkeit“ meist, sagen wir, befremdlich.

    2. Äußere Rahmenbedingung beim Üben vom Improvisieren ist die Atmosphäre:
    Offenheit und Vertrauen aller Beteiligten, gegenseitiges Be- und Abraten und miteinander Üben, d.h. Eingehen auf die Versuche der jeweiligen Tänzer/innen, diese durch die eigene Reaktion zu weiteren Experimenten Anregen.

    3. Von Gewohntem (auch im Alltag) immer wieder einmal abzuweichen halte ich für eine exzellente Idee.
    Übertragen auf den Tango heißt das:
    Warum soll man nicht mal zwei kurze Schritte, statt eines langen gehen, auch wenn das im Kurs anders gezeigt wurde? (Für Musiker: zwei Achtel statt einer Viertelnote.)
    Oder: Einen langen Schritt gar in drei kurze Schritte unterteilen – aber aufpassen, dass man auf dem nächsten Schlag wieder „dabei ist“! (Für Musiker: eine Triole.)
    Auch „Verzierungen“ (Für Musiker: z.B. Vorschläge, Triller.), die durchaus im Tangounterricht gelehrt werden, sind letztlich Improvisationen, mit denen man seinen Tanz aufmuntern kann – sie sollten natürlich zur jeweiligen Stelle in der Musik passen.
    Führende und Folgende müssen nicht immer direkt voreinander gehen, Wechsel also von einer Seite auf die andere (dabei aufpassen, dass die „Gestelle“ nicht verrutschen, die Körper bleiben voreinander!).
    Die Liste der Möglichkeiten ließe sich reichlich verlängern.

    4. Wenn ich lange Zeit klassische Musik höre, möchte ich mal wieder Tango hören (und spielen). Viel Tangomusik weckt bei mir wiederum die Sehnsucht nach Klassik.
    Schließlich isst man ja auch nicht dauernd Kuchen, sondern dazwischen mal etwas „Herzhaftes“, wobei ich offen lasse, wer nun die Klassik dem Herzhaften zuordnen mag und den Tango dem Kuchen oder umgekehrt!
    So ist es auch mit der Tangomusik selbst: Zu viel alte Tangomusik macht Lust auf moderne und vice versa.
    Wechselnde Musikrichtungen, Rhythmen, Klangfarben, Stücke mit Gesang oder ohne …
    Menschen sind „nicht triviale Systeme“, auch wenn dies gelegentlich unterdrückt oder vergessen wird.

    Unbeugsames Beharren auf Altem, Vertrautem halte ich für ein Angstsymptom, das uns allen bekannt, aber oft nicht bewusst ist.

    Was aber hätten wir heute NICHT, wenn immer alles gleich geblieben wäre?
    Also: Mut zur Vielfalt, auch in der Musik- und Tanzwelt!

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