Liebes Tagebuch… 75

Milongas sind für den Blogger wichtige Informationsquellen zur Erforschung der Tangowirklichkeit. Angeblich wendet sich ja in unserem Tanz derzeit alles zum Guten: Musik, Verhaltensformen und vieles mehr seien – so lese ich in den sozialen Medien immer wieder – längst nicht mehr so altbacken bzw. verknöchert wie vor Jahren.

Die wichtigste Frage, der sich mein Blog widmet, lautet stets: Ist das wirklich so?

Neulich kamen auf einer Tangoveranstaltung einige „O-Töne“ der besonderen Art zusammen:

Eine Tangofreundin erzählte mir, sie habe kürzlich einen alten Bekannten getroffen, der vor vielen Jahren auch Milongas veranstaltet hat. Wie es denn mit dem Tango so laufe?

Schlecht, er gehe nur noch selten zum Tanzen, so dessen Antwort. Selbst auf progressiv anmutenden Events wie einem Queertango-Festival stellte er fest, dass die „Verspießerung“ immer mehr zunehme. Pistenregeln und Cabeceo-Pflicht seien fast noch ärger als bei den Heteros. Bei einem Freilufttango habe ihn eine Tanzpartnerin gefragt; „Wann führst du denn endlich mal?“ Und eine andere Tänzerin habe wissen wollen, ob er noch Anfänger sei. Ich kenne diesen Tanguero noch aus meinen ersten Tangojahren: Bereits damals galt er als sehr erfahrener Tänzer…

Und ein anderer Bekannter, der ebenfalls weit vor der Jahrtausendwende bereits Tango tanzte, berichtete uns von einem Festival, es habe lediglich „Marschmusik à la Troilo“ gegeben, kombiniert mit „elitärem Getue“ sowie genauen Vorschriften: „Du kannst mich doch nicht mitten in einer Tanda auffordern“ oder „Achte gefälligst auf die Ronda“. Weiterhin meinte er: Temperamentvolle Aktionen sind verboten, Freude am Tanzen auch. Sieht man an den verbissenen Gesichtern.“

Auf der oben angesprochenen Milonga durfte ich dann noch live miterleben, wie eine meiner Begleiterinnen mich ziemlich dringend um einen Tanz bat. Soeben habe sie einen Korb von einem Herrn bekommen: Auf die Frage, ob er mit ihr tanzen wollen, meinte der nur: „Im Moment nicht“. Sie habe dann etwas getan, was sie seit ihrer Kindheit nicht mehr unternommen habe: ihm die Zunge rausgestreckt.

Als ich den Tanguero einige Zeit später tanzen sah, meinte ich zu meiner Bekannten: „Hast du dir angeschaut, was dir entgangen ist?“

Vor einiger Zeit suchte ich für einen Artikel einige Original-Zitate:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/04/die-ungehaltene-lesung.html

Nach dem Erscheinen meines Tangobuches habe ich einige Jahre lang Briefe und Mails dazu ausgedruckt in ein „Poesiealbum“ eingeklebt. Die Post füllte bald drei dicke Bände. Beim Durchblättern nach mehr als zehn Jahren fiel mir auf, dass ich von den meisten der dort schreibenden Personen schon ewig nichts mehr mitbekommen habe: Zirka 90 Prozent der Leute gaben den Tango offenbar auf. Von einigen wenigen höre ich noch. Sehr oft sind sie aber nun auf den herrschenden Trend eingeschwenkt. Ich fürchte, es ist ihnen inzwischen peinlich, dass sie mein Buch früher toll fanden. Einige wenige bekennen sich noch zu den Werten von einst.

Poesiealben
 Wahrlich, seit 2010 hat im Tango ein gigantischer Personalwechsel stattgefunden. Musikalisch und tänzerisch Begabte hielten die Reduktion von Musik und Choreografie nicht mehr aus, Kreative wurden durch die immer strengeren „Tanzregeln“ vertrieben.

Glücklicherweise konnte ich ein persönliches Umfeld schaffen, wo wir uns noch öfters treffen und an unserer Art des Tanzens Spaß haben – notfalls halt zu „unserer Musik“, die sonst keiner mehr auflegt, auf dem Pörnbacher Parkett.

Kürzlich fragte ich eine Tangofreundin, ob sie ohne diese Umstände noch beim Tango aktiv wäre. Ihre eindeutige Antwort: Nein, da hätte sie sich längst ein anderes Hobby gesucht, weil ihr die üblichen Verhältnisse in unserem Tanz unerträglich seien.

Einst war der Tango eine Enklave der gesellschaftlich verachteten Einwanderer. Und heute? Ich glaube, der Mainstream erzwingt neue Rückzugräume!

P.S. Wenigstens hat der DJ bei der Milonga neulich ganz schön aufgelegt. Herzlichen Dank!

Kommentare

  1. Carsten Buchholz hat zu meinem Artikel auf Facebook einen Kommentar verfasst. Mit seinem Einverständnis stelle ich ihn hier ein:

    Ich glaube, es gibt einen (leider) unvermeidlichen Zyklus im Tango - wie in fast allen anderen Dingen: Wenn etwas richtig schön und deshalb populär ist/wird, wird es attraktiv für jene, denen es nicht ausreicht, zu genießen und vielleicht Neues, eigenes zu kreieren.
    Sie beginnen teilzunehmen, dann organisieren sie, dann strukturieren sie, dann bestimmen sie, dann urteilen sie, dann verurteilen sie. Das ist bei anderen Dingen (siehe Piratenpartei) so, aber eben beim Tango auch. Weil (manche) Menschen so sind. Und weil sie nicht kreativ sind, müssen sie die Erfolge von anderen kapern.
    Ich streite mit diesen Menschen nicht mehr (Ausnahmen bestätigen die Regel) - ich schaffe geschützte Räume und entwickle und unterstütze mentale Haltungen, die unabhängig von dominanten (sogar von meinen eigenen Tango-Lehrer:inne:n) Menschen machen.
    Zu bestimmten Veranstaltungen werde ich dann halt nicht eingeladen / zugelassen. Aber das ist schon OK so. Zum Glück erträgt Tango Vielfalt, und auch regional verlaufen diese Wellen ja zum Glück scheinbar zeitversetzt.
    Solange Tango von Menschen getanzt wird, wird es dabei immer auch Idioten, Arschlöcher, Kontrollfreaks und Arrogante geben. Das war sogar damals in BA so (die hatten sogar noch Messerstecher). Das wird mir die Freude am Tango nicht nehmen können.

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    1. Lieber Carsten,

      mir auch nicht!
      Deine gesellschaftliche Analyse kann ich nur bestätigen. Klar gibt es in jeder sozialen Gruppe auch Leute, die zum Abgewöhnen sind. Es ist nur die Frage, ob man die ans Ruder lässt.
      Und sicher - ich habe ja auch "Rückzugsräume" für die geschaffen, welche dem Mainstream-Trend nicht folgen wollen und können. Nur: Warum sollen Leute wie wir uns abkapseln?
      Ich finde, es gehört auch dazu, immer wieder öffentlich solche Mechanismen offenzulegen und zu kritisieren.
      Das mögen die nämlich gar nicht, weil es die Illusion zerstört, ihr ganzes Getue sei "alternativlos". Das teilweise wüste Geschimpfe auf mich beweist es mehr als genug.
      Sicher, Streiten bringt wenig. Aber wir müssen schon immer wieder darlegen, dass Tango auch anders geht.

      Vielen Dank und herzliche Grüße
      Gerhard

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