Die Entdeckung der Langsamkeit

Vor einigen Tagen habe ich das Video eines sehr temperamentvollen, ja artistischen Tanzes besprochen. Überdies zur modernen Version eines historischen Tangos. Ich hielt meine Ansicht nicht zurück, dass ich mir so den Tango im 3. Jahrtausend vorstellen könnte:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/03/sturmisch-statt-windig.html

Meine Anregung fand nicht bei allen Lesern Gefallen: Nicht mal ansatzweise werde so die Zukunft des Tango aussehen, so ein Kommentator, welcher mir bislang durch eher progressive Artikel aufgefallen war. Er jedenfalls würde – selbst wenn er es könnte – keinen Salto als Schlusspose in sein Repertoire aufnehmen.

Abgesehen davon, dass den im Video die Frau ausführte, war es keineswegs mein Ansinnen, nicht mehr ganz jungen Amateuren im Tango Salti und ähnliche Akrobatik zu empfehlen. Aber der Begriff „Inspiration“ ist bekanntlich ein Fremdwort…

https://www.facebook.com/groups/1820221924868470/permalink/3350860021804645

Da ich in meinem Blog für alle Geschmäcker etwas bieten möchte, kam es mir sehr gelegen, dass heute Thomas Kröter einen Werbebeitrag von Theresa Faus verlinkte. Das Video zeigt einen Tanz eines Tangolehrerpaars, das demnächst in München bei ihr gastiert: Alexis Quezada und Céline Giordano. Die beiden tanzen zu einer Di Sarli-Aufnahme von 1944, bei der Alberto Podestá im gemessen-hymnischen Tempo wunderschön romantisch knödelt: „La Capilla blanca“ („Die weiße Kapelle“). Der Texter Héctor Marcó beschreibt eine sehr fromme und dennoch gescheiterte Liebe:

"In der weißen Kapelle

einer Stadt draußen in der Provinz

ganz in der Nähe eines kristallklaren Baches,

ihre Hände

trieben mich zum Gebet.

Deine Hände entflammten

mein Kinderherz,

und zu den Füßen von Christus, unserem Herrn

gabst du mir einen Trunk

von den Wassern der Zärtlichkeit.“

Okay, so ähnlich klingt die Melodie auch – muss ja irgendwie zusammenpassen…

Hier das Video:

https://www.youtube.com/watch?v=K_nTbQPQ58Q

Wie dem auch sei, die Fans von Theresa Faus waren begeistert: Über 70 lobende Symbole gibt es bislang auf FB – wobei die Münchner DJane ein ähnliches Ergebnis auch mit der Publikation einer Giesinger Telefonbuch-Seite erreichen würde.

Ein Leser schrieb: „Die Entdeckung der Langsamkeit“.

https://www.facebook.com/theresa.faus

Ich weiß nicht, ob der Kommentator sich des literarischen Vorbilds bewusst war. Bekanntlich schrieb Stan Nadolny 1983 unter diesem Titel einen preisgekrönten Roman, in dem es um das Leben des Polarforschers John Franklin ging, der durch sein mangelndes Tempo immer wieder Schwierigkeiten hatte, mit der Schnelllebigkeit seiner Zeit Schritt zu halten. Im Endeffekt setzt er sich aber mittels seiner Beharrlichkeit durch.

Der Romantitel wurde zu einem geflügelten Wort, das man heute noch in der Bedeutung „Entschleunigung“ und „weniger ist mehr“ verwendet.

https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Entdeckung_der_Langsamkeit

Nun weiß ich nicht, wie temperamentvoll man sich bei arktischen Temperaturen zu Tangoklängen bewegen kann – und ob das überhaupt schon wer probiert hat. Und welche Wetterbedingungen bei der Tanzshow herrschten. Und ich hoffe, man hatte dort einen Besen, um hinterher die ganzen liegengebliebenen Noten der Musik vom Parkett zu kehren...

Kritische Kommentare zum Video gibt es natürlich keine. Eine Leserin, welche das kürzlich bei einem anderen Tanzvideo des Paares unternommen hatte, wurde knallhart gedisst:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/02/verschieden-hohe-einlagen.html

Nicht nur deshalb möchte ich zunächst feststellen: Natürlich können die beiden Protagonisten Tango tanzen. Ich halte überhaupt nichts von den Argumenten, die man in unserer Szene bei Missfallen gerne verwendet: Das sei gar kein Tango, der andere hätte keine Ahnung – und was derlei Nettigkeiten mehr sind.

Allerdings kollidiert diese Vortragsweise halt mit einem Grundsatz, den man im Standard- und Lateintraining per Muttermilch eingeflößt kriegt: Zumindest auf die betonten Taktschläge solle man sich irgendwie bewegen. Vielleicht zusätzlich sogar auf die anderen. Warum die beiden zum Beispiel in den ersten 30 Sekunden so gar nicht vom Fleck kommen, weiß ich nicht. Aber da sie die Fläche allein benützen dürfen, behindern sie wenigstens das Paar hinter ihnen nicht!

Irgendwie schimmert bei der Vorführung die Ideologie des „umarmungsfokussierten Tango“ durch, den ich in anderem Zusammenhang auch als „Beamten-Mikado“ kenne: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Theresa Faus hat dazu vor Jahren schon den eisernen Grundsatz festgelegt:

„Nichts ist uninspirierter als ein Tänzer, der ununterbrochen Schritte macht."

Zu meinem großen Vergnügen kommentierte Thomas Kröter das damals mit der Bemerkung:

„Ich kann auch im Stehen.“

Was, hat er nicht verraten…

Daher: Wem’s langweilig ist, der darf sich gerne so bewegen. Ich wäre allerdings spätestens am Ende des Tanzes zum Rauchen vor die Tür geflüchtet – wegen meiner Befürchtung, mindestens noch zwei ähnliche Tänze geboten zu bekommen.

Selber habe ich mit solchen Sprüchen meine Probleme: Ist der „inspirierteste“ Tänzer der, welcher nur auf der Stelle tritt? Wenn weniger mehr ist – bedeutet das dann auch: Gar nichts ist alles?

Bezeichnenderweise lautete der Titel des damaligen Miloguero-Wochenendes „La Cerise sur le Tango“ – also sozusagen „die Kirsche mit Sahnehäubchen auf dem Tango“. Ich kenne das von Kaffeehaustorten, bei denen oft eine eingemachte, picksüße Steinfrucht auf einer ziemlich zähen Pampe klebt. Aber notfalls kann ja das Auge mitessen.

Ansonsten habe ich natürlich nichts dagegen, wenn Lesern diese Vorführung gefallen sollte. Ich möchte ja für jeden Geschmack etwas bieten. Und wenn so der „Tango des 3. Jahrtausends“ aussehen sollte, tröste ich mich damit, dass ein Großteil meines Lebens noch im zweiten stattfand.

Zum Ausgleich für die picksüße Konfiserie muss ich mir nun jedoch eine Fred Astaire-Nummer ansehen, in der er sich höchst uninspiriert mit ziemlich vielen Schritten bewegt – und auch noch „Blackfacing“ betreibt. Wirklich das Ende der Langsamkeit:

   

https://www.youtube.com/watch?v=-A6h12Qj9Cc

Kommentare

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