Ich habe fertig.
Nach langem Nachdenken veröffentliche ich diesen Artikel. Er wird wohl wieder
einige von denen verscheuchen, die man im Tango gerne Freunde nennt – und möglicherweise von den Falschen bejubelt und zitiert werden. Ich kann daher nur versichern, dass es mir
nicht um persönliche Abrechnungen,
sondern die Sache geht. Und: Mein
Blog wird sich nie vollständig auf eine
Seite schlagen, sondern weiterhin ein unabhängiges Urteil bewahren.
Seit
gut 15 Jahren kämpfe ich mit tausenden von Druckseiten, aber auch als DJ
dagegen an, die Tangomusik in den Tanzsälen auf das zu verengen, was Ideologen
das „EdO-Kernrepertoire“ nennen. Der
es wissen müssende Kollege Cassiel
bezifferte es in seinem neuen Blogbeitrag gerade wieder auf 1200 bis 1500
Aufnahmen. Der Wahnsinn in Zahlen: Für
eine Milonga von gut 4 Stunden benötigt man zirka 80 Titel. Spätestens nach 20
Veranstaltungen ist man also durch – eine Gleichverteilung (die es kaum gibt)
vorausgesetzt. In der Praxis hört man auf fast jeder „traditionellen" Milonga 10 bis 20
Prozent der Musik von der vorherigen. Mehr benötigt man nicht, um die Ödnis zu schildern, die sich in den
letzten anderthalb Jahrzehnten über große Teile der Tangowelt gelegt hat.
Daher
habe ich in vielen Jahren geradezu verzweifelt
jede Veranstaltung durch Besuche und Werbung unterstützt, die mehr Vielfalt,
mehr Farbe in diese Wüste bringen wollte. Dabei muss man
natürlich vieles tolerieren – von Annett
Louisan-Gezirpe über wahlloses Filmmusik-Gedröhne sowie Flower-Power-Hits bis hin
zu gefühlten Walgesängen zur natürlichen Geburtsbegleitung. Motto: Alles dennoch besser als schon wieder
die mir zu den Ohren heraushängen Hits der Knisterepoche von Muñeca brava bis Milonga sentimental! Und schließlich wird ja auch ab und zu Tango aufgelegt, natürlich unter
Zugrundelegung einer sehr großzügigen Definition. Oder?
Um
der Wahrheit die Ehre zu geben (und
wer hätte sie sonst?): Nicht selten waren Tangotermine für mich weniger
Vergnügen als „Solidaritäts-Akte“:
Man muss doch die Minderheiten in
unserem Tanz unterstützen, welche sich überhaupt noch trauen, sich dem Diktat
der heutigen normierten „Einheits-DJs“
mit dem gleichgeschalteten
Telefonbuchwissen über vorschriftsmäßige Zusammenstellungen zu entziehen – „kreative“ oder gar „alternative“ Musik bieten, gerne auch
ohne erkennbare Tandas und Cortinas. Wir sind so frei!
Nebenbei:
Dass Solidarität eine wechselseitige Beziehung beschreibt,
darf man in der Tangoszene getrost als unbekannt
voraussetzen. Gegenbesuche der
Avantgardisten bei eigenen
Veranstaltungen sind nicht selbstverständlich, da regiert das Lustprinzip – und die Herrschaften von der Betonfraktion kommen eh nicht. Na gut, ist
ja auch nachvollziehbar – es soll und darf natürlich jeder wegbleiben, wo er will. Man
will sich den Feierabend schließlich nicht mit Verpflichtungen verderben. Selber saß ich allerdings oft genug auf Milongas mit rund einem Dutzend Besuchern...
Allerdings
ist auch mein Pflichtgefühl nicht
grenzenlos. Daher drängt es mich heute zu der Feststellung: Für mich ist der
Ansatz, alles sei Tango, was man
notfalls mit Tangoschritten
interpretieren könne, nichts weiter als geblümter Bullshit!
Vierviertel- oder Vierachteltakt? Kein Problem, gibt es
bei 90 Prozent der Schlager- und Popmusik, keine Frage: Tango. Walzer – ob Wiener, langsamer oder Musette? Tangovals, da Dreivierteltakt (oder Sechsachtel), ganz klar! Na, und Zweivierteltakt, ob nun Samba, Mambo, Polka oder was auch immer? Milonga – unbedingt! Ganz schön blöd
von den normalen Tanzschulen, dass sie Foxtrott, Slowfox, Cha Cha Cha oder Jive
unterrichten: Alles im Viervierteltakt,
also Tango!
Man
darf hierzu natürlich nie intensiv Standard-
oder Lateinamerikanische Tänze
studiert haben – sonst würde sich auch der verstopftesten Eustachischen Röhre
erschließen, dass es sich hierbei um Tänze mit himmelweit auseinanderliegenden Charakteristika handelt, die man selbstredend
bewegungsmäßig unterschiedlich
darstellen soll und kann. (Übrigens hörte ich von einem Paar, das heute die
Tangoszene einer größeren Stadt beherrscht, sie seien sintemalen aus einer
Tanzschule geflogen, weil sie auf jede Tanzart Tangoschritte produziert hätten.
Na ja, heute dürfen sie es…)
Inzwischen
kenne ich auf der Seite des Tango, die sich gerne „alternativ“ nennt, Veranstaltungen, die sich in genau nichts mehr von
den Ü 50-Parties unterscheiden, wie
sie in jeder Tanzschule oder Kreuzfahrt fürs reifere Publikum vorgehalten werden. Geboten
wird oft ein stochastisch zusammengewürfelter Klangbrei, bei dem sich – wie es Tucholsky einmal so schön formuliert hat – „Beethoven, Erotik und Stachelbeerkompott“ organisch die Hand
reichen. Grundvoraussetzung ist
offenbar, dass kein Stück irgend etwas mit dem vorhergehenden oder folgenden zu
tun hat – so bleiben die Tanzenden stets hellwach und ultimativ fürs Neue bereit (das
so sicher, folgenschwer und krachend einschlägt wie das Gewitter).
Das
kann dann natürlich auch wirklich jeder
und jede auflegen – und tut das tragischerweise auch. Besonders beliebt
sind Titel aus der eigenen Jugendzeit,
wo wir doch alle so beseelt ums Lagerfeuer saßen und der Gruppenleiter mit seiner
Gitarre (nur echt mit den bunten Bändchen am Griffbrett) „Blowing in the Wind“ intonierte und es so schön nach verkohlten Kartoffeln und
Fußschweiß roch… Alles Tango, keine
Frage!
Das
Ganze dann noch möglichst schlecht
ausgesteuert, mit wechselnder Lautstärke
und Ausblendungen vor dem Schluss. Wir sind ja sowas von unkonventionell (bis auf Piazzolla natürlich, so fortschrittlich ist man eher nicht)! Und auf dem Parkett darf man noch etwas Contango-Rückbildungsgymnastik bewundern...
Meine Überraschung ist gering, dass solche Events oft durchaus großen Zulauf haben und dort die reifere Jugend haufenweise im Tangokostüm zu Non-Tangos abhottet. Und ich gönne es den Veranstaltern ganz ehrlich
von Herzen – soll doch jeder mit den Veranstaltungen Erfolg haben, die ihm
liegen, ob nun Misswahlen, Schlammcatchen oder Ü 50-Parties.
Nur:
Er sollte es weder „Tango“ noch „Milonga“
nennen.
Und
„alternativ“? Ja, wozu denn? Zum
Tango?
Für
mich ist „alternative Tangomusik“
oft genug eher eine Alternative zu
Musik…
Und dabei gibt es gerade heute unzählige moderne Tangoensembles, deren Titel man einmal vorstellen könnte. Es ist zum Heulen...
Bereits vor gut zwei Jahren habe ich dazu, ziemlich folgenlos, einen Text veröffentlicht:
http://milongafuehrer.blogspot.com/2017/10/von-der-muhsal-des-fortschritts.html
Bereits vor gut zwei Jahren habe ich dazu, ziemlich folgenlos, einen Text veröffentlicht:
http://milongafuehrer.blogspot.com/2017/10/von-der-muhsal-des-fortschritts.html
Um
meine Einordnung in die bereitstehenden
Schubladen etwas zu erschweren:
Ich
liebe als Chemiker und Tänzer Experimente.
Sie sind mir tausendmal lieber als öde
Routine. Und man darf als Anfänger
gerne Fehler produzieren. Nur so lernt
man – ob beim Tanzen oder Auflegen. Nur sollte man sich ehrlich machen: Geht es einem um Tango oder irgendwelche (Tanz)musik?
Dennoch habe ich grundsätzlich nichts gegen das, was man gemeinhin „Non-Tango“ nennt. Es gibt Musik, welche ähnliche Empfindungen auslöst wie die vom Rio de la Plata – das kann
mal ein Blues sein, ein Chanson, eine Ballade oder vielleicht ein Musettewalzer. Wer dieses
Gewürz sparsam handhabt, kann nicht
wirklich scheitern – das Ergebnis schwankt dann zwischen „genial“ und „ich wollte mir
eh was zum Trinken holen“. In Überdosis
aber verdirbt es ein Milonga-Menü derart, dass man es nicht mal mehr dem Hund geben
kann.
Wenn
man mit erfahrenen Tanzenden
spricht, kommt man oft auf diesen gemeinsamen
Punkt: In der ersten halben Stunde nach dem Eintreffen auf einer Milonga
entscheidet sich, ob sich jenes geheimnisvolle, schwer zu beschreibende „Tangogefühl“ einstellt, das einen
immer wieder aufs Parkett treibt, um diese Klänge körperlich nachzuvollziehen. In
den erschöpften Zwischenpausen lauscht man selig der Musik und hat keinerlei
Bedarf nach Gesprächen – und noch nach der Heimkehr spürt man diese Melodien
nicht nur im Ohr: Sehnsucht, Traurigkeit, Nostalgie, Romantik, Verzweiflung – und nicht Hulli-Gulli für Silver Surfer.
Klar
kann das für den Einzelnen ganz
unterschiedliche Musik sein, und ich respektiere jeden Geschmack. Ich sage nur: Wer mich mit einem schönen Tango (ob nun modern oder
historisch) auf die Tanzfläche lockt und mir anschließend mit Salsagedudel, einem
Rock’n Roll oder einem Trällerliedchen einen kalten Wassereimer ins Genick schüttet, muss bitte verstehen, dass ich
eine längere Pause brauche, bis sich mein Geschmacksempfinden wieder erholt. „Solidarität mit Alternativem“ wird
hinfort für mich nicht mehr zwingend sein.
Es
bereitet mir Sorgen, dass ich inzwischen oft nach rein traditionellen Milongas beschwingter
nach Hause fahre. Da kann doch irgendwas nicht
stimmen!
Illustration: www.tangofish.de |
Hi Gerhard,
AntwortenLöschen"Es bereitet mir Sorgen, dass ich inzwischen oft nach rein traditionellen Milongas beschwingter nach Hause fahre. Da kann doch irgendwas nicht stimmen!"
Bedenklich. Warst schon beim Arzt? ;-)
Aber ernsthaft: ich lerne gerade, dass auch zum DJing eine gewisse Begabung gehört, manche haben dafür das gewisse Händchen, selbst wenn sie rein traditionell auflegen ... (zum Glück und vermutlich zum Selbstschutz meines Seelenheils, war mein Drang selber aufzulegen noch nie groß genug ;-) )
Na ja, meiner hält sich inzwischen auch in engen Grenzen. Lieber lege ich privat für ein Dutzend Leute auf, denen die Musik was sagt, als für 200, die darin nur eine Rhythmusquelle sehen.
LöschenUnd Auflegen ist sicher eine Kunst, daher habe ich die Sprüche vom DJ als "reinen Dienstleister" nie verstanden.