Tango-Klassenausflug


Kampf der Kulturen ist ein politikwissenschaftliches Buch von Samuel P. Huntington, (…) Das amerikanische Original erschien 1996 als The Clash of Civilizations (deutsch wörtlich „Zusammenprall der Zivilisationen“) (…) Das Buch enthält die Hypothese, dass es im 21. Jahrhundert zu Konflikten zwischen verschiedenen Kulturräumen, insbesondere der westlichen Zivilisation mit dem chinesischen und dem islamischen Kulturraum kommen könnte. Das Buch wurde vielfach aufgelegt und übersetzt, führte zu kontroversen Diskussionen und wurde von Politikwissenschaftlern von Beginn an heftig kritisiert.

Hm, wie beschreibe ich das jetzt, ohne jemandem persönlich nahezutreten? Es darf ja jeder seinen eigenen Spaß an dem haben, was er für Tango hält.

Ich aber auch!

Also, es gibt da eine Milonga, die ich sehr schätze: Nicht nur verfügt sie über freundliche, zugewandte Gastgeber, auch das Musikprogramm des DJ ist stets gekonnt zusammengestellt und geht öfters über den EdO-Kanon hinaus. Mit der Zeit hat sich dort ein Treffpunkt von Tanzenden etabliert, welche mehr suchen als das, was einem üblicherweise geboten wird. Schwierigere Klänge bilden eine Herausforderung von Fantasie und Kreativität – und das sieht man auf dem Parkett.

So versammelt sich dort meist ein buntes Völkchen von Anfängern bis routinierten Tänzern, es wird durcheinander aufgefordert, experimentiert, niemand bleibt lange sitzen, die Atmosphäre ist heiter und gelöst.

Wenige Male im Jahr kommt es dort aus Gründen, die ich diskret verschweige, zum Eindringen einer größeren, ziemlich geschlossenen Gruppe Anderstanzender. Regelmäßig ermöglicht mir dies Studien an einem soziologischen Feld-Experiment.

Neulich war es wieder einmal soweit: Die Milonga war Ziel einer Art von Klassenausflug einer Gruppe, die das eigene Führungspersonal weitgehend von den Einflüssen des modernen Tango abschirmt. Zwar wird in den heimischen Gefilden inzwischen öfters Livemusik geboten, was aber üblicherweise aus der Konserve dudelt, ist die übliche Päckchensoße spannungs- und emotionslosen Historien-Geplürres. Natürlich gibt es dazu den notorischen „authentisch-argentinischen“ Tangounterricht. Man gönnt sich ja selbst nichts.

Als Augenzeuge kann ich bestätigen: So tanzt man dort auch – soweit man lustloses Herumgeschiebe im Kreis denn so bezeichnen möchte. Wahrlich: Traditioneller Tango" ist die genialste Erfindung seit der Tütensuppe heißes Wasser dazu, umrühren, fertig!

Wenn, wie im vorliegenden Fall, eine solche Population auf einen eher ungezähmten heimischen Volksstamm trifft, darf man getrost von einem „Clash of Civilisations“ sprechen!

Wegen des Ansturms gibt es natürlich mehr Gäste: Während die Milonga sonst ganz gut besucht wird, ist sie bei solchen Anlässen proppenvoll, aber nicht gut besucht.

Weiterhin unverkennbar ist die starke Zunahme von Stöckelschuh-Weibchen – während diese sonst unter 20 Prozent liegt, pendelt sie dann um die 80 von Hundert. Um einen ähnlichen Anteil steigt die Anzahl der Damen, welche zwar gehemmt, aber nicht behost erscheinen: Röckchen und Kleidchen beherrschen nun das Bild. Dass man auf gestielten Fersen tänzerisch mehr können müsste als auf flachem Geläuf, verstärkt die Diskrepanzen zusätzlich.

Dem Kenner fällt eine deutliche Wandlung des Musikangebots auf. Gerüchteweise war zu hören, die Reiseleitung bestehe auf „Strictly EdO“, sonst komme man erst gar nicht. Nun gut: Wes Brot ich ess, des Lied ich aufleg… Allerdings ist der DJ ein Filou: Beim letzten Mal spielte er zwar – bis auf eine moderne „Alibi-Tanda“ gegen Schluss – ausschließlich Musik aus der Knister-Ära, allerdings hatte er so ziemlich die schwierigsten Stücke zusammengesucht, welche dieses Genre zu bieten hat (natürlich eine reine Vermutung meinerseits ohne jegliche Beweiskraft – aber ich kenne ihn ganz gut und müsste mich schon sehr täuschen…).

Auf jeden Fall waren die entsprechenden Irrungen und Wirrungen auf dem Parkett unübersehbar und äußerst amüsant.

Was vor allem auffällt: Wer nicht an Herausforderungen gewöhnt ist, entwickelt schwerlich ein gutes Navigationsvermögen. Wenn dann noch die Musik mehr Aufmerksamkeit fordert als sonst, fällt die Außenorientierung fast völlig aus. Ich hatte oft wirklich den Eindruck, auf ein Dutzend umherirrender oder stationärer Paare aufpassen zu müssen, welche mich ihrerseits überhaupt nicht zur Kenntnis nahmen. Das sind die Milongas, nach denen mir hinterher alle Knochen wehtun – nicht wegen irgendwelcher Treffer, sondern, weil ich die Energie nicht fließen lassen kann, immer wieder abstoppen und neu anfangen muss. Im Arm dann oft noch Personal, welches abrupte Wechsel nicht direkt mitbekommt!

Also, liebe Traditionsanhänger, die ihr euch so gerne über die „Rücksichtslosigkeit“ auf dem Parkett beschwert: Nennt es lieber Unfähigkeit, den Raum vorausschauend zu nutzen – und zwar eure eigene!

Da ich bei solchen Anlässen selbstverständlich auch mit den domestizierten Damen aus der Reisegruppe tanze, kann ich aus nächster Nähe berichten: Für diese Spezies besteht Tangomusik generell nur als halben und Viertelnoten – Achtel oder gar Sechzehntel werden überhaupt nicht wahrgenommen. Das Märchen, man würde die „Feinheiten“ der alten Tangostücke vertanzen, ist eines.

Was auch nicht existiert, sind Pausen oder gar Accelerandi und Ritardandi. Da die Fähigkeit, die Balance auf einem Bein länger durchzustehen, rudimentär ist, rumpelt man nach einer Belastung sofort auf den freien Fuß. So kann man zwar den groben Rhythmus einigermaßen tanzen, mehr aber nicht.

Als ich neulich auf einer anderen Milonga versuchte, mit meiner Partnerin eine ziemlich lange musikalische Pause darzustellen, ging der argentinische DJ grinsend an uns vorbei und meinte: „Ich glaube, der Strom ist alle.“ Um im Bild zu bleiben: Bei den oben beschriebenen Tänzen finde ich oft nicht mal den Stecker…

Im Mutterland des Tangos spricht man von „con cadencia“, wenn man wirklich in die Musik hineingeht, ihren rhythmischen Ausdruck deutlich darstellt – und auch mal Gas gibt und musikalische Kapriolen interpretiert. Kannst du bei solchen Anlässen vergessen: „Schrummel di schrummel“ – mehr gibt‘s da nicht. Man hoppelt drüber, statt in die Tiefe zu gehen.

Ich freue mich aber über solche Anlässe in einer sonst tief gespaltenen Tangowelt. Unser Tanz ist ja in seinem Wesenskern ein „Clash of Cultures“. Mir bleibt jedenfalls die Hoffnung, dass zumindest einige Schüler einer solchen Klassenfahrt den Eindruck mitnehmen, es gäbe im Tango noch viel mehr als das, was man ihnen jahrein, jahraus als kalorienarmes Diät-Futter vorwirft.

Und die kommen vielleicht wieder, ganz privat und trauen sich ohne Aufsichtspersonal in den verwirrenden Dschungel unzähliger Möglichkeiten und Chancen. Und dann sollte man erst recht mit ihnen tanzen.
Vom Morgenland ins Abendland...

Meine Tangofreundin Manuela Bößel nennt das nicht „Clash of Civilisations“, sondern schlicht „Anfänger versauen“.

Dabei bin ich gern behilflich.

Foto: www.tangofish.de

Kommentare

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.