Töten wir den Tango?


Nach dem literarischen Ableben von Cassiel ist zweifellos Melina Sedó im deutschsprachigen Raum die unerbittlichste Verfechterin des puren EdO-Tango. Musik jenseits der 1960-er Jahre – so hat sie es in der jüngsten Facebook-Diskussion wieder bestätigt – ist für sie ein absolutes No-Go, ohne Wenn und Aber.

Umso erstaunlicher, dass sie in der aktuellen Debatte auf einen Text ihres Blogs hinweist, der mir damals (Ende 2014) entgangen ist und den sie offenbar immer noch für aktuell hält: „Are We Killing Tango?“

Ich halte den Artikel – gerade aus ihrer Feder – für sensationell und erlaube mir, ihn in einer (von mir übersetzten) Zusammenfassung darzustellen:

Zu Beginn stellt sie die provokante Frage, ob wir – also ich und alle Menschen, die eine bestimmte Philosophie des sozialen Tangos teilen – die Entwicklung des Tangos als Kunst- oder Kreativprozess unbeabsichtigt behindert haben. Zumindest in Europa”.

Um das Jahr 2000 hätten Veranstalter ein oder zweimal im Jahr ein Festival geplant – mit Lehrerpaaren, Shows, Kursen und einem Orchester. Und heute? Jeder, der etwas auf sich halte, organisiere einen Marathon oder ein Encuentro – ohne das alles. Sie selber habe zu dieser Entwicklung beigetragen und sei stolz darauf, dass die europäische Szene eine „einmalige Form der Tangokultur, gerichtet auf soziale Begegnung und Umarmung“, geschaffen hätte.

Das sei jedoch nur die eine Seite der Medaille: Die neuen Formate hätten weniger zur Vielfalt beigetragen denn die bisherigen Veranstaltungen verdrängt. Es herrsche sogar die Vorstellung, „gute“ Tänzer besuchten keine Festivals und Workshop-Wochenenden mehr, diese seien nur für „Angeber“ und „Anfänger“.

Somit gebe es…

weniger Unterricht:

Es sei ja erfreulich, dass sich das Tanzniveau in den letzten 10-15 Jahren verbessert habe. In den letzten zwei Jahren habe sie aber Stagnation und teilweisen Rückschritt festgestellt: Viele Tanzende besuchten keine Workshops mehr, da sie mit ihrem Level zufrieden seien.

Das ausschließliche Tanzen auf Milongas könne den Unterricht aber nicht ersetzen, da man dort selten seine „Komfortzone“ verlasse: „Sehr oft führt dies zu eher ‚schlampigem‘ Führen und zu einer ständigen Wiederholung von ‚sicheren‘ und bevorzugten Mustern. Der Grad der wahren Improvisation ist bei einem gesellschaftlichen Tanzereignis sehr gering.“

Tja, Melina, da sachste was – aber wenn auf Encuentros interessantere Aktionen halt verboten sind…

Zudem lernten auch die Lehrer durch das Unterrichten, was ihren Horizont erweitere.

Auch dieser Satz könnte von mir sein:

„Die Innovatoren des Tanzes (und ich spreche nicht nur von Tango Nuevo, sondern von allen, die den Tanz in den letzten 100 Jahren entwickelt haben) sind nicht nur zu Milongas gegangen, sie haben von anderen Tänzern gelernt, sie haben geübt, sie haben erforscht, ihre Erfahrungen weitergegeben…“

weniger Demos:

Erfahrene Tanzende wollten keine Show sehen, sondern lieber selber tanzen. Das sei auch ihr und ihrem Partner von Zuschauern schon deutlich gemacht worden. Aber solche Vorführungen könnten Menschen auch animieren, Neues auszuprobieren. Und es zwinge auch die Auftretenden, härter an sich zu arbeiten. Eduardo Capussi habe ihnen einmal gesagt, Choreografien führten seine Partnerin und ihn auf ein höheres Level der Verbindung mit der Musik.

Melina Sedó stellt fest:

„Tango, auch sozialer Tango, wurde von Vorführenden vorangetrieben, nicht nur von Gesellschaftstänzern. Vergessen wir das nicht.“

weniger Live-Musik:

Durchaus selbstkritisch bekennt die Autorin, hierzu ihren Teil beigetragen zu haben: Während sie früher Musiker engagierte, tut sie das heute nicht mehr – und besucht auch keine solchen Veranstaltungen. Ihr sind halt die alten Aufnahmen lieber. Aber genau diese Künstler hätten „eine Tradition gepflegt, seien für sehr wenig Geld und noch weniger Anerkennung gereist – mit wenig davon zumindest von den modernen Milongueros oder Marathonisten“.

Stolz könne sie darauf nicht sein, auch nicht auf den zunehmenden Ausschluss anderer Künstler (wie Malern oder Fotografen) von den Milongas:

„Ich habe den Kontakt zu Musikerfreunden verloren, ich höre nie neue Kompositionen ... Gibt es überhaupt neue Kompositionen? Wird es weniger neue Tangomusik geben, weil wir nur die Orchester der Epoca d'oro hören wollen? (…) Wie kann es Wachstum in diesem Bereich geben, wenn niemand die Musiker dafür bezahlt, zu spielen, zu lernen und aufzutreten? Ist es in Ordnung, dass Tangomusik eher eine nostalgische Erinnerung und weniger eine lebendige Kunst ist? Betrifft das uns Tänzer?”

mehr Trennung:

Die Autorin sieht eine wachsende Abgrenzung der „Eliten“ von den „normalen Tänzern“, zwischen denen, die „noch Kurse brauchten“, und solchen, welche „einfach nur mit anderen guten Tanzenden“ unterwegs sein wollten. Anfänger würden dann als „nicht encuentro-erfahren” abgetan, weil sie „die Ronda stören” könnten. Melina berichtet von einer sehr guten Milonga, wo man den Fehler machte, nur „erfahrene Tanzende“ einzuladen – mit der Folge, dass sie schließen musste. Es sei halt wichtig, stets an die „nächste Generation“ zu denken!

Das Resümee der Autorin:

„Töten wir wirklich den Tango? Nein, natürlich nicht.“
Man habe für den „sozialen Tango“ in Europa viel erreicht. Sie fügt jedoch hinzu:

„Aber ich denke, wir können nicht stehen bleiben und alte Ideen immer nur wiederholen. Wir können uns nicht einfach gegenseitig auf die Schultern klopfen und immer mehr Encuentros oder Marathons organisieren. Wir müssen die gegenwärtige Situation kritisch reflektieren. Ich denke, Tango braucht eine ständige Weiterentwicklung, um nicht abgestanden zu werden. Tango braucht musikalische Erkundung, Mischen von Ebenen, Raum zum Üben und Erkunden des Tanzes (…) Ich freue mich darauf.“

Hier der Original-Text:

Mein Fazit:

Zweifellos verdient Melina Sedó Respekt für ihre Betrachtung – auch wenn sie in einem Pro- und Epilog versucht, das Ganze als „Provokation” hinzustellen und damit zu relativieren. Und ich nehme ihr auch ab, dass sie in solchen Fragen selber total zerrissen ist: Obwohl sie die jungen Musiker fördern möchte, will sie halt – so ihr abschließendes Bekenntnis – stets „lieber zu Di Sarli tanzen als zu jedem modernen Orchester“. So haben wir halt alle unsere Widersprüche

„Töten wir wirklich den Tango?“

Nein, liebe Melina, das schaffte nicht mal die argentinische Militärjunta, umso weniger Detlef und du! Leute wir ihr haben sich allerdings alle Mühe gegeben. Nachdem ein Astor Piazzolla den Tango wieder zum Leben erweckte, hat man diesen Tanz anschließend um ein halbes Jahrhundert zurückgeworfen.

Als ich es 2010 wagte, in meinem Tangobuch für modernere Tangomusik zu werben und Dünkel- und Klassendenken sowie anderen Abgrenzungen entgegenzutreten, traf ich auf eine bestens organisierte Phalanx unter der Ägide eines bloggenden Tango-Tartuffes. Jegliche Neuerungen wurden als Teufelswerk abgetan, Kreativität und Experimentierfreude durch steinerne, angeblich aus Tangourzeiten stammende Reglements ersetzt. Menschen, die so aufforderten, wie es seit zwei Jahrhunderten in Europas Ballsälen üblich ist, rückte man in die Nähe sexueller Nötigung.

Das Schlimmste aber: Man ignorierte zwei Generationen von Talenten, welche dem Tango wieder Weltgeltung verschafften – außer auf den Tanzflächen der Milongas.

Inzwischen stelle ich mit Genugtuung fest, dass viele meiner Ideen, die damals als ideologischer Verrat galten, nun in die Praxis umgesetzt werden: Man sieht Methoden des bisherigen Tanzunterrichts zunehmend kritisch und beginnt, über neue Verfahren nachzudenken. Frauen sind immer weniger bereit, sich den überkommenen Macho-Erwartungen aus dem vorigen Jahrhundert unterzuordnen. Immer mehr Gäste strömen auf Milongas mit der Musik junger, kreativer Gruppen, die weit mehr können als nur die alten Arrangements abzukupfern – und bislang „linientreue“ DJs wagen zumindest die eine oder andere Tanda mit neuen Klängen.

Schön, dass nun auch Personen wie die Saarbrücker Tangolehrerin nachdenklich werden. Sie müssen sich aber vorhalten lassen, die Suppe mit angerührt zu haben, welche nun andere auslöffeln dürfen. Praktische Konsequenzen aus ihren Erkenntnissen von 2014 sehe ich bei ihr nicht.

Aber ohne selber nass zu werden, kann man sich den Pelz nicht waschen…

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