Tanda-Klau?


Tango-DJs veröffentlichen kaum einmal ihre Playlists, was mich schon immer sehr verwundert hat. Nun bot sich mir auf einem Facebook-Forum die Chance, mehr über die meist verschwiegenen Hintergründe zu erfahren. Ein Musikaufleger befragt dort seine Kolleg(inn)en zum Thema „Tanda-Klau“:

„Wie geht oder ginget Ihr damit um?
Ist es Euch wurscht? Nervt es Euch? Oder fühlt Ihr Euch sogar etwas geehrt?
Teilt Ihr Eure Tandas generell nicht? ...oder doch, aber nur mit guten Freunden? ...oder wenn jemand nett fragt?“

Tatsächlich hat wohl ein beträchtlicher Teil dieser Personengruppe ein Problem damit, „kopiert“ zu werden:

„Eine komplette Tanda teile ich selten bis gar nicht öffentlich, höchstens per PN, wenn man mich lieb darum bittet.“

„Es ist schon doof, wenn einer sich die Arbeit macht und der/die andere eben nicht und sich dann mit den erwähnten fremden Lorbeeren schmückt.“

Mehrfach wird berichtet, es gebe tatsächlich „Spione“, welche auf Milongas an solche Informationen kommen wollten:

„Als letztens drei Männer um meinen Laptop standen (davon 2 DJs) und auf meine Playlist schauten, fand ich das auch schon ziemlich dreist (hätte nur noch gefehlt, dass sie sie mit ihren Handys abfotografieren), und als letztens eine andere DJane für einen Song (den bisher nur ich spielte) gelobt wurde, den ich auf einer Veranstaltung spielte, auf der wir beide waren (vielleicht hat sie ihn gemopst oder woanders her, wer weiß das schon?), hat mich das ein bisschen in meiner Ehre gekränkt.“

Was mir noch neu war: Seit es Apps zur Musikerkennung gibt, kann man sich das Mitschreiben sparen:

Einer hat klare Vorstellungen, wie beim Tango mit solchem Gesindel umzugehen sei:

„Aber die Geschichten von mit-notierenden DJs und von Abkupferern, welche nicht mal hallo sagen, die sind ja mehr als verdrießlich. Vorher mit dem Ordnungsdienst klar machen, dass bei Bedarf manche Leute kommentarlos vor die Türe gesetzt werden, ist wohl das Einzige, was eiskalte Egomanen verstehen würden.“

Ein Kommentator gibt das zu, was ich schon lange vermute: Gerade traditionelle Playlists werden hemmungslos aus dem Internet kopiert:

„Ich habe einige hundert im Netz veröffentlichte Tandas in meine (MIXXX-)Datenbank eingepflegt, verändert, verschnitten, neue gebaut.
Da war viel Fleißarbeit dabei, da bild ich mir wenig drauf ein, da sitze ich auch nicht drauf.“

Für moderne DJs ist das nicht ganz so einfach, da muss man eher selber suchen – und möchte dann umso weniger, dass die Funde Allgemeingut werden:

„Vielleicht macht es auch einen Unterschied in der Diskussion, ob man ausschließlich Tradi oder auch Neo wie du&ich auflegt – bei Neo ist es wie Perlen finden.“

Es gibt aber auch genügend DJs, welche nichts dagegen haben oder sich sogar geehrt fühlen, wenn man ihre Musikprogramme kopiert:

„Ich hab einen Beamer und zeige jeweils den aktuellen Titel an. Wer kann, darf sich bedienen...“
„Das ist Bildungsarbeit der Community.“
Meine Tandas kann ruhig jeder klauen. Ich sehe das als Kompliment an.“

 Und überhaupt hat man bei orthodoxem Vorgehen eh nicht viel Auswahl:

DJs, die Tandas sinnvoll aufbauen, werden häufig zu den gleichen oder ähnlichen Ergebnissen kommen. Die Auswahl ist begrenzt, wenn es um tanzbare und schöne Musik geht. Das sind nur wenige tausend Stücke.“

Vielleicht sind es sogar noch weniger:

„Zum einen wird auf Milongas und Marathons zu vielleicht 80-90 Prozent aus dem gleichen Repertoire von vielleicht 300-500 Stücken geschöpft, da ist Tandavariation nicht wahnsinnig groß, und es kommt zwangsläufig zu ähnlichen oder gleichen Tandas.“

Das finden nicht alle richtig spannend:

„Es nervt nur, wenn die immer gleichen D'Arienzios, Troilos, Laurenz', etc. gespielt werden und wenn ich immer schon ahne, was gleich kommt, weil ich eine Tanda schon von vielen DJs gehört hatte.“

Da gelangt man schnell zur Dialektik: Der deutsche Tangotänzer möchte durchaus Abwechslung, so lange er die Stücke kennt:

„Oft ist es aber so, dass die Tanzenden eben gerne die immer gleichen Nummern hören und tanzen.“

„Ich glaube nicht, dass die Tänzer die immer gleiche Reihenfolge wollen. Im Gegenteil, viele scheinen davon eher gelangweilt zu sein.“

„Tänzer*innen werden besser, wenn sie sich Neues zutrauen, probieren und Fehler zulassen.“

Tja, vielleicht wollen viele das gar nicht werden…

Glücklicherweise stellen einige DJs die berechtigte Frage: Was bringt reines Kopieren denn?
„Außerdem ist bei mir jede Tanda situationsabhängig. Sie kann in einem speziellen Moment der absolute Knaller sein, in einem anderen Kontext abgespielt fällt sie u.U. durch.“

„Die Kunst des DJ sind doch nicht vorgefertigte Tandas (was ein 1zu1 ‚Klau‘ ja wäre), sondern die Stimmung der Tanzenden richtig zu lesen und daraufhin die Musik insgesamt anzupassen, und das kann man mit kopierten Tandas doch sowieso nicht erreichen.“

„Ein und derselbe Zyklus auf einer Milonga kann wahnsinnig gut zu einem bestimmten Moment passen, aber eine Stunde später völlig fehl am Platz sein.“

Was meine Person angeht:

Mit derzeit 63 veröffentlichten Playlists aus dem Bereich des modernen Tango dürfte es zu meinem Blog im deutschsprachigen Raum nichts Vergleichbares geben. Worauf ich besonders stolz bin: Zahlreiche Kolleg(inn)en haben mir ihre Musikprogramme zur Verfügung gestellt – und ich würde natürlich nichts ohne Einwilligung publizieren.

Selbstverständlich freut es mich, wenn sich andere daraus Anregungen holen – von mir aus auch eine gesamte Playlist kopieren. Doch im DJ-Bereich herrscht – wie ich schon öfters vermutet habe – ein riesiger Konkurrenzdruck: Es gibt weit weniger Gigs (vor allem solche, die zu Ruhm verhelfen) als Anbieter. Nur so ist dieser Futterneid erklärbar – wieder einmal ein Beweis dafür, wie wenig die Mär von der „sozialen Tangofamilie“ stimmt…

Mich interessiert es hingegen überhaupt nicht, wer ein Musikprogramm auflegt, sondern, ob dieses interessant und originell zusammengestellt ist und mich zum Tanzen animiert. Und ich bin froh, wenn ich aufs Parkett kann anstatt die Musikanlage bedienen zu sollen.

Wenn ich mir eine Playlist überlege, hole ich mir sicherlich Anregungen aus vielen Quellen – und manche Musikgruppen oder Titel wären mir ohne die Tipps von anderen noch heute unbekannt. Bewusst kopiert habe ich eine Tanda allerdings noch nie, da gehe ich lieber nach meinem ganz persönlichen Geschmack. Und im Zweifel spiele ich in der realen Situation dann doch etwas anderes.  

Ich bin froh, dass es etlichen Tango-DJs doch einzuleuchten scheint, dass unsere zentrale Qualifikation darin besteht, für den konkreten Moment aufzulegen: Jede Milonga, jedes Publikum ist anders – und was in einem Augenblick toll ankommt, kann eine Stunde früher oder später bereits floppen. Und wir müssen selbstbewusst zu dem stehen, was wir tun: Letzten Endes schätzt das Publikum individuelle „Typen“ und nicht farblose Regelbefolger.

Ein Kommentator hat das in einer schlusswort-würdigen Weise ausgedrückt:

„‚Tandaklau‘ ist also eigentlich in etwa so viel wert, wie bei der Formel 1 zu glauben, man könne das Rennen gewinnen, weil man sein Fahrzeug mit der gleichen Farbe wie der des Vorjahresgewinners lackiert hat.“

Grafik: www.tangofish.de

Kommentare

  1. Ein Kommentar von Matthias Botzenhardt:

    „…und als letztens eine andere DJane für einen Song (den bisher nur ich spielte) gelobt wurde, den ich auf einer Veranstaltung spielte, auf der wir beide waren (vielleicht hat sie ihn gemopst oder woanders her, wer weiß das schon?), hat mich das ein bisschen in meiner Ehre gekränkt.“
     
    gemopst???
    woanders her (gemopst)???

    Wo darf man denn „legal“ einen „Song“ hören, damit man ihn anschließend für andere auflegen darf? Muss man sich diese Begebenheit für jeden Einzeltitel merken – und dann anschließend in einem detaillierten Quellennachweis dokumentieren? Damit die Lorbeeren entsprechend weitergereicht werden können? Falls die Mehrheit der DJs dies für sinnvoll erachtet, so schlage ich vor, dass dieser Aspekt als neuer Absatz 4 in den § 63 des Deutschen Urheberrechtsgesetzes [https://www.gesetze-im-nternet.de/urhg/__63.html] mit aufgenommen wird.
    Ich hielte dies allerdings nicht nur allein deswegen für überflüssig, weil die meisten der Milonga-Besucher für gewöhnlich einer Tanda nicht einmal den Namen des Orchesterleiters zuordnen können. Nicht einmal zu denen der „großen vier“ bzw. „großen fünf“. Ganz zu schweigen von den Namen einzelner Sänger usw.

    Das wiederum ist auch nicht notwendig! Um „musikalisch-stimmig“ und einfühlsam auf ein bestimmtes Orchester (mit oder ohne Sänger) zu tanzen, wird solch akademisches Wissen meiner festen Meinung nach nicht benötigt. Man muss zwar den Unterschied hören können, man braucht dazu aber weder Jahreszahlen noch Namen zu kennen.

    Auflegende, die einzelne Titel, eine gewisse „Signature-Tanda“ / „Calling-Card-Tanda“, ja selbst eine komplette Playlist für ihr geistiges Eigentum halten, denen ist nicht zu helfen. Musik, die von anderen komponiert, arrangiert und aufgenommen wurde, soll ernsthaft qua „Besitz“ auf einer Festplatte oder qua abspielen über einen Laptop als kreative Eigenschöpfung verkauft werden? Wow. Stark.

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  2. (Fortsetzung)

    Nein. Vielmehr: Lachhaft!

    Ich behaupte, dass es sich bei Leuten mit solch empfundener Kränkung der eigenen „Ehre“ (bzw. solcher Missgunst) um arme Würstchen handelt. Zum solidem tänzerischem Niveau fehlt die notwendige Begabung – und jetzt kriegt man hinterm Pult auch noch Konkurrenz? Manno!

    Ich halte solche Äußerungen für den Ausdruck eines vollkommen überzogenen Konkurrenzkampfes, der inzwischen fast alle Bereiche unserer Gesellschaft durchzieht. Leider. Der Tango bildet hierbei keine Ausnahme. Einzelne Akteure der Tango-Aristokratie, die ja oft genug den Ton einer Community vorgeben, üben diesen Konkurrenzdruck am deutlichsten aus. Nicht alle dürfen mit allen anderen tanzen, ohne dabei den eigenen Status zu gefährden. Schon unter den blutigsten Anfängern wird neidisch festgestellt, wenn der eine oder die andere oberhalb des zugewiesenen Standes tanzen „darf“. Oder es wird bedauert, weshalb ausgerechnet einem selbst heute nicht die Gnade einer Tanda mit XY widerfährt… (aber diese Themen wurden hier im Blog ja schon lang und breit bearbeitet).

    In Freiburg beobachte ich, dass mit dem Fernbleiben gewisser Personen zwar der Median des Tanzniveaus (unter Umständen) etwas sinkt, dafür aber die allgemeine Stimmung und Herzlichkeit der anwesenden Personen wahrnehmbar steigt. Und das ist oft viel wertvoller.

    Konkurrenz belebt zwar eventuelle das Geschäft der Barkeepers, tötet aber fast immer auch die Stimmung. Die Stimmung bei ausgeglichener Anzahl von Folgenden/Führenden ist daher meist besser, als wenn eine der beiden Fraktionen stark dominiert.
     
    Bei der Auswahl der Musik dasselbe Spiel: Wer inklusiv auflegt (nicht ausschließlich Di Sarli vor dem Jahr 1939, sondern vielleicht auch mal einen Salgán oder gar einen Goyeneche alleine… der bedient aufgrund der größeren Palette vermutlich ein größeres Publikum. Und wenn mir daraus mal etwas als „untanzbar“ erscheint? Na dann bleibe ich sitzen oder versuche eben daran so wenig wie möglich zu scheitern.
    Ich hatte dazu ja schon im März beim Beitrag „MIT GRÖSSTER FREUNDLICHKEIT“ kommentiert.

    Mein Abschlussappell an alle DJs (die wenigsten unter ihnen werden hier wohl mitlesen): GERADE WENN ihr der Ansicht seid, euch sei eine besonders gute Zusammenstellung einer Tanda geglückt – so haltet sie doch bitte nicht unter Verschluss!
    Werft doch genau diese Tanda dem ungewaschenen DJ-Pöbel als Perle zum Fraß vor – damit möglichst viele Tanzenden etwas davon haben.
    Wer souverän UND „sozial“ ist, der hat kein Problem damit, auch seine Playlisten zu veröffentlichen. Finde ich.

    „Peace, ich bin raus.“ - Rezo (18.05.2019, YouTube) -

    (Matthias)

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  3. Lieber Matthias,

    unterliegen Auflege-Ideen dem Urheberrecht? Eine interessante Frage! Einzelne Tandas sicher nicht, vorstellen könnte ich mir das für ganze Playlists - im Sinne einer Neubearbeitung wie bei Kompositionen und Arrangements.

    Aber - das sehe ich auch so - dieses Konkurrenzdenken schadet dem Tango. Ich bin jedenfalls froh, wenn andere Ideen von mir übernehmen. Ebenso hätte ich viele Aufnahmen ohne die Tipps von Kollegen nie kennengelernt.

    Auf der anderen Seite habe ich schon manche, die meine Playlisten kritisierten, um eine nähere Begründung oder die Veröffentlichung einer eigenen Setliste gebeten. Aber da kommt nie etwas. Schade.

    Besten Dank für den Beitrag!
    Gerhard

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