Mund auf, Augen zu



Milongas sind für mich immer wieder die Quelle herrlichster Geschichten. So auch neulich, als ich mit einer Dame tanzte, welche ich einmal als „Springer“ bei einem Tango-Anfängerkurs übers Parkett führen durfte. Auf der Basis szenetypischer Attraktivitäts-Erwartungen führt sie auf den Veranstaltungen in meiner Heimatstadt eher ein Schattendasein – also erfordert es schon die Pflicht als Gentleman, sie gelegentlich zum Tanz zu bitten.

Außerdem nimmt sie seitdem Stunden bei einem weltberühmten Nürnberger Tangolehrer, und daher – ich geb‘s ja zu – möchte ich in gewissen Zeitabständen einmal sehen, was der Unterricht bei einem Tangostar so in der Praxis bringt…

Ich hatte wirklich fast alles erwartet, nicht allerdings die Frage, die sie mir nach dem ersten Tango stellte:

„Darf ich dir mal was sagen – aber nur, wenn du nicht böse wirst?“
„Klar.“
„Viele meinen, es sei nicht schön, wenn ihr immer mit offenem Mund tanzt.“

Huch, was war jetzt das? Über mich selber konnte ich diese Feststellung ja schon ein paar Mal im Internet lesen – aber wer waren nun „wir“? Oder sollte das ein Pluralis majestatis sein?

Ich beschloss, dem vorsichtshalber nicht weiter nachzugehen, und unterdrückte ebenso den Spruch, den mir mein Gag-Cortex sofort einblendete: „Lieber mit offenem Mund als mit offenem…“ Stattdessen meinte ich nur: „Bei dem, was ich alles zum Tango schreibe, mögen mich halt manche nicht – und da musste schon viel herhalten, nicht nur der offene Mund. Auch die gebeugten Knie oder das Rauchen waren schon ein Thema.“

Nach dem zweiten Tango setzte ich noch hinzu: „Ich mache dafür öfters die Augen zu, damit ich nicht sehe, welchen Scheiß viele tanzen.“ Zugegeben, dies war ebenfalls nicht die feinste Ausdrucksweise, aber da sich die Dame offenbar als „Buschtrommel“ betätigte, hoffte ich auf Weitergabe dieses Zitats an meine Verehrer in der Stadt auf der Schanz…

Nach dem dritten Stück hatte meine Partnerin anscheinend noch mehr Aufklärungsbedarf: „Du kennst dich doch aus – welchen Takt hat denn eigentlich der Tango?“

Aha, wenn ich schon den Mund offen hatte, durfte ich immerhin noch fachlich dienlich sein! Eine Gegenfrage konnte ich mir allerdings nicht verkneifen: „Hat euch das der Herr (...) nicht erklärt?“ „Nein.“ „Wie schön, dass ich jetzt nicht über Tangolehrer herziehen möchte! Also, der ursprüngliche Tango hatte einen 2/4-Takt, später band man die Stücke zu größeren Systemen, also über den 4/4 zum 4/8-Takt.“

Nun wollte sich die Dame schon bedanken und verabschieden. Ich machte sie dezent darauf aufmerksam, dass noch ein vierter Tango käme. Sie darauf: „Ach, ich dachte, es wären schon vier?“ Ich ersparte ihr die Bemerkung, dass die Grundvoraussetzung zur Erfassung des Tangotaktes schon in der Fähigkeit besteht, bis vier zu zählen…

Aber ganz im Ernst: Was ficht eigentlich Leute an, die mich nur sehr oberflächlich kennen, mir mit derartigen Sprüchen zu kommen? Wie groß wäre das Geschrei, wenn ich einer Tänzerin erzählen würde: „Du, viele sagen, du siehst auf dem Parkett echt fett aus…“

Aus wahrer Besorgnis um meinen Ruf hatte sie mir wohl das Ganze nicht berichtet. Vielmehr lag schon eine lauernde Erwartung in ihrem Blick, wie ich denn wohl auf diese Information reagieren würde. Und etwas Tratsch ist beim Tango unverzichtbar, das sollte man nicht so eng sehen. Man kann ja nicht wissen, dass mir mein Vater eine verkrümmte Nasenscheidewand vererbt hat, wegen der ich bei Anstrengung nicht gut Luft bekomme und dann eben den Mund öffne. Welcher erblichen Belastung es manche Männer verdanken, sich aus rudimentären Nackenhaaren ein Nano-Schwänzchen zu zwirbeln, weiß ich nicht – zudem sie es (gegen mein biologisches Grundwissen) hinten tragen. Allerdings habe ich dies noch mit keiner Zeile einer konkreten Person vorgeworfen…

Auf dem Heimweg überfiel mich dennoch ein Déjà-vu an meine Grundschulzeit, welche ich ebenfalls zum Großteil in dieser gastlichen Stadt hinter mich brachte. Damals waren es andere Eigenschaften, die zu einem veritablen Mobbing vor allem durch meine männlichen Klassenkameraden führten: Erstens war das meine durch starke Wachstumsschübe ziemlich lange, klapprige und unsportliche Gestalt – „langer Lulatsch“ war dabei noch eine mildere Charakterisierung. Zweitens gehörte ich zu denen, welche schon damals im bayerischen Idiom als „Fliechtling“ bezeichnet wurden. Meinen sudetendeutschen Dialekt wechselte ich dann ganz schnell gegen das Oberbayerische, nachdem ich mehr als einmal nach der Schule vor einer tobenden Meute übers freie Feld zu meinem Elternhaus fliehen musste.

Tieferer Grund war jedoch, dass ich etwas besser konnte als meine Klassenkameraden – früher eben nicht Tango, sondern Rechnen, Schreiben und Lesen… Auch als wir später in Ingolstadt als Kriegsdienstverweigerer pazifistische Flugblätter verteilten, bekamen wir wieder zu spüren: Man muss dort halt Pionier sein – alles andere ist problematisch.

Daher noch ein paar Tipps für die Gerüchteküche: Ja, meine Schwäche, nicht ganz aufrecht, sondern mit eingezogenem Kopf zu tanzen, sollte unbedingt auch einmal wieder kritisiert werden – leider geht diese auf den Umstand zurück, dass hierzulande Lampen und andere Artikel tiefer als einsneunzig hängen und ich mit diesen immer wieder kollidiere. Und wenn ich schon den Mund offen habe, sollte es doch nicht zu schwierig sein, einmal auf meine schlechten Zähne abzuheben: Flüchtlingskinder wie mich erkennt man immer noch an dem damals fehlenden Geld für eine Kieferregulierung!

Werde ich mir nun in Zukunft mehr Mühe geben, beim Tanzen dennoch ausschließlich durch die Nase an genügend Luft zu kommen? Nein, wieso? Selbstredend werde ich weiter mit offenem Mund tanzen – und mit eingezogenem Kopf, hochstehenden Schulern und einem mangelhaften Gebiss. Wie sonst könnte ich Menschen, die mich dennoch mögen, von Vollidioten unterscheiden?

P.S. Damit ich auch noch was lobe: Der Pianist Daniel Adoue war an diesem Abend Spitzenklasse!

Kommentare

  1. Lieber Herr Riedl,

    seit Beginn Ihres Blogs verfolge ich Ihre Beiträge mit großem Interesse. Zuvor hatte ich ebenso regelmäßig in dem überflüssigen Blog Ihres „Lieblingskontrahenden“ Cassiel gelesen, der ja nun offensichtlich in Ruhestand gegangen ist.

    Dabei ist mir immer klarer geworden, was ich gerade an Ihren Beiträgen so schätze: es ist Ihre Kunstfertigkeit, mit Sprache umzugehen. Alles stimmt: das Tempo, die Pointen und deren Vorbereitung, vor allem aber die Melodie und der Rhythmus Ihrer „Schreibe“, gelegentlich dachte ich, Sie hätten Drehbücher für Billy Wilders Komödien schreiben können. Ganz großes und sehr ehrlich gemeintes Kompliment - bislang ist es mir nicht gelungen, einen Ihrer Beiträge nicht zu Ende zu lesen, obwohl ich Ihren Meinungen oft nicht zustimme.

    Sind beim Schreiben etwa auch Ihre magischen Kräfte mit im Spiel?

    Ich bevorzuge das traditionelle Tanzen in geschlossener Umarmung, das nach außen zwar oft wenig hermacht, „intern“ aber subtile Wahrnehmungen ermöglicht. Auch dabei gibt es Vokabeln, eine Grammatik und im besten Fall eine Stilsicherheit.

    So wie Sie schreiben, hoffe ich zu tanzen.

    Beste Grüße

    Andreas Toelke

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    1. Lieber Herr Toelke,

      da ich schon eitel bin, kann ich Ihre Komplimente akzeptieren, obwohl sie natürlich – gerade bezüglich Billy Wilder – fast schon ein Sakrileg sind.

      Ich bin allerdings ein großer Fan dieses Ausnahmeregisseurs und Drehbuchautors – aber der hatte ja mit I.A.L. Diamond schon einen perfekten Coautor… Ja, ich liebe die inzwischen fast ausgestorbene Kunst der „sophisticated comedy“ mit Autoren wie John Michael Hayes (für Hitchcock), Neil Simon oder Nora Ephron (Harry und Sally).

      Und über all dem schwebt natürlich unser aller Satire-Meister: Kurt Tucholsky.

      Schreiben war schon immer eine meiner Leidenschaften – dass ich sie nach meiner Pensionierung nun nach Herzenslust betreiben kann, empfinde ich als große Gnade. Auch bei meinen Zauberauftritten läuft sehr viel über diese Textlinie.

      Also, vielen Dank für die Komplimente! Und wenn Sie das nächste Mal mit einer tollen Tanzpartnerin zugange sind – sagen Sie ihr doch mal nach einem Tango: „Ich hoffe so zu tanzen wie Gerhard Riedl schreibt.“ Vielleicht antwortet sie dann: „Well, nobody is perfect“…

      Weiterhin viel Spaß mit meinen Texten und beste Grüße
      Gerhard Riedl

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    2. Markus Betz, WI21. Juli 2017 um 15:50

      Hallo Andreas,

      sehr schön formuliert, ich kann es nicht besser ausdrücken und möchte mich deinem Lob anschließen :-)

      "Leider" neige ich selbst wohl eher zum Melodie interpretieren, was wohl viele minimalistische Kontakttänzerinnen von einem Schwof mit mir abhält.

      Allerdings bin ich noch immer auch eine sehr scheue Person, was ich gerade in einem anderen Posting hier bereits zum Ausdruck brachte.

      Ich bin aber auch noch nicht so lange dabei und arbeite an diesem Tango Thema, genauso wie das leidige nach unten schauen, weil ich den Augenkontakt zum Publikum drumherum und der anderen Mittänzer scheue... und meine ständigen disfunktionalen Gedanken bezüglich des Schwitzens, aber die Artikel hier und die vielen Einsichten helfen da schon sehr.

      Vielen Dank Gerhard für das breite Themen Spektrum und auch einen großen Dank an "alle" deine Gastautorinnen/-en welche bereit sind ihre Gedanken, freiwillig und unfreiwillig mit uns zu teilen.

      Viele Grüße

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    3. Hallo Gerhard,

      ich habe mich lange nicht mehr gemeldet, weil wir diesen Sommer sehr beschäftigt sind, mit Aktivitäten, die unsere Milonga nur am Rand berühren. (Mein Helge kandidiert hier als Oberbürgermeister, hihi, aber das tut hier nichts zur Sache)

      Nach dem Sommer werde ich wieder aktiver. Aber eins muss ich los werden:

      Daniel Adoue ist nicht nur ein sehr guter Tangopianist, er ist außerdem ein phantastischer Komponist, Arrangeur und Lehrer. Er coacht unser Ensemble Tango Waggong, was es ohne ihn nicht gäbe. Und er hat für Tango Diavolo vier Stücke komponiert, zwei Tangos: HerzSchmerz-Tango, Latigazo, Diavolo Vals und die Milonga von Dolores. Die sind total schön, aber auch aufwendig zu üben. Im Stil eher nicht so traditionell. Die werden irgenwann auch im Internet zu hören sein.

      Viele Grüße

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    4. Liebe Annette,

      ich bin Dir für diesen Hinweis sehr dankbar! Wir hatten zwar noch eine Ahnung, wer das ist, aber hätten es nicht mehr so genau zusammen bekommen.

      Jedenfalls spielte Daniel die klassischen Titel mit einer solch modernen Verve, dass es wohl das dortige Publikum ein wenig verschreckt hat. Jedenfalls lichtete sich der Tanzboden, und wir hatten mehr Platz, diese tolle Musik umzusetzen.

      Liebe Grüße, auch an Helge
      Gerhard

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