Gastbeitrag von Peter und Alessandra Seitz



Peter Seitz habe ich vor deutlich mehr als zehn Jahren beim Augsburger Tango kennengelernt – als fantasievoll auflegenden DJ und hervorragenden Tänzer. Vor allem die Abende in der Kultkneipe „Kervansaray“ werden mir unvergesslich bleiben. Wenn Peter und seine damalige Partnerin „ganz normal“ auf dieser Milonga tanzten, ergaben sich oft magische Momente. Wir hatten damals wenig persönlichen Kontakt (was wohl an unserer gemeinsamen Eigenschaft liegt, lieber zu tanzen als zu reden) – aber heute muss ich es gestehen: Er war für mich ein tänzerisches Vorbild, dem ich auch in meinen Tangobüchern ein Denkmal gesetzt habe (mehr wird nicht verraten – einfach mal suchen…).

Irgendwann verschwand Peter von dieser Milonga – was blieb, waren Langeweile und Gerüchte, man habe ihn rausgeekelt. Der Liebe wegen sei er nach Wien gezogen, hieß es dann später.

Über Manuela Bößels Blog hat sich nun ein neuer Kontakt ergeben. Auf ihrer Seite und im Wiener Pendant von Alessandra und Peter erschienen Gastbeiträge:


Seit Jahren hatte ich den Wunsch, von Peter einmal zu erfahren, wie es damals wirklich war, was ein „Tango-Urgestein“ von den Anfängen und dem später einsetzenden Trend zum „Schmalspur-Tango“ zu erzählen weiß. Ich freue mich riesig und bedanke mich herzlich, dass er dies nun getan hat und Alessandra es aufschrieb:

Gut, darüber gesprochen zu haben…
Oder: Wie der Tango nach Augsburg kam vor etwa zweiundzwanzig Jahren

Alles begann mit Piazzolla und einem Flyer, der an eine Kneipenwand geklebt war: „Tango Argentino: Kurs für Anfänger". Abgehalten von einem Regensburger Lehrerpaar. Und irgendwas über Piazzolla stand auch noch dabei.

Peters damalige Freundin meinte: „Ach, lass uns das doch mal probieren...", und eine Idee war geboren. Die Vorstellung, sich zu den Klängen von Piazzolla geschmeidig auf der Tanzfläche bewegen zu können, war schier verlockend, wenngleich noch wenig konkret.

Und los ging es, das Wochenende mit Tango im evangelischen Pfarrsaal! Gelehrt wurde die Basse (daher kam in Folge der Spruch: „Ich hasse die Basse!") in einer aneinander gelehnten Tanzhaltung, die selbstständiges Stehen unmöglich machte. Der Unterricht war vielleicht ein klein wenig desillusionierend, aber es fanden sich noch zwei Paare, die unerschrocken genug waren, weitermachen zu wollen.

Augsburg war zu der Zeit ein weißer Fleck auf der Tango-Landkarte, also beschlossen diese drei Paare, selbstständig weiterzumachen. (Es gab damals kein Internet, wo man sich hätte schlau machen können über Unterricht, Milongas oder sonst etwas.)

Peter arbeitete zu der Zeit für den Stadtjugendring und konnte den Saal im Jugendzentrum für sonntägliches Üben organisieren. Voll motiviert legten sie los: Wochenlang die Basse („eine Kopfgeburt für Lehrer", wie Peter es später mal so treffend formulierte), weil Übung ja den Meister macht.

Dann luden die drei unverdrossen Paare besagte Lehrer nochmal ein, denn andere kannten sie nicht. So konnte die Linksdrehung und die Rechtsdrehung erfolgreich ins Repertoire aufgenommen werden. Es wurde fleißig weiter geübt und geübt und geübt, und nach etwa einem Jahr und noch einigen Besuchen der Lehrer wagten sie sich auf ihre erste Milonga in München. In Augsburg gab es ja keine. Es war damals in München das einzig regelmäßig stattfindende Tangoevent, veranstaltet von Mundo. Aufgelegt wurden CDs es gab immer noch kein Internet, Downloads, YouTube oder dergleichen. Mundo, selbst Musiker, legte unter anderem auch Piazzolla auf, und wenn er gelegentlich selbst live spielte, gab's schon auch mal „smoke on the water".

Aber zurück zur ersten Milonga unserer drei Tanzpaare: ein epochales, ein prägendes Erlebnis für jeden Tanguero – ein Fiasko!

Die Milonga war voll, das bedeutete etwa 20 Paare, auch auswärtige Gäste waren darunter. Alles begnadete Tänzer, aus der Sicht eines ahnungslosen Anfängers!

Ausgerüstet mit der Basse, war es für Peter nicht wirklich ein Vergnügen, sich auf der vollen Tanzfläche zu bewegen, um es gelinde auszudrücken. Auch seiner Partnerin erging es nicht besser, als sie von einem „fremden Herren" aufgefordert wurde. Ein Milonguero aus Hamburg, der „das rote Hemd" genannt wurde. Er stand mit ihr eine gefühlte Ewigkeit auf der Tanzfläche, ehe er den ersten Schritt tat. Vielleicht um sich mental auf sie einzustimmen, oder weil er die „Eins" im Musikstück nicht gleich fand. Jedenfalls war sie einer Ohnmacht nahe, leider nicht aus Verzückung, sondern ob ihrer Ohn-Macht und vor lauter Angst...

Unseren anderen vier Tänzern erging es ebenfalls nicht viel besser, und so stellten sie sich am Ende des Tages ernsthaft die Frage: Aufhören mit Tango oder weitermachen?

Sie machten weiter, jeder Einzelne wahrscheinlich aus anderen Gründen. Peters Grund war: „Das kann nicht alles sein, was Tango zu bieten hat, da muss es noch viel mehr geben, und das will ich finden!"

Die sonntäglichen Übungsstunden gingen weiter, die Lehrer kamen wieder, und es wurden weiterhin Milongas besucht. Peter begann alles zu lesen, was ihm über Tango argentino in die Finger kam, und auf den Milongas in München, Ulm, Nürnberg und Stuttgart (jeweils wöchentlich vielleicht eine in jeder Stadt, da es immer noch nicht mehr gab) fand ein reger Erfahrungsaustausch statt, der unsere Tänzer schon mal ein Stück weiter brachte, nämlich dahin, dass es durchaus möglich und erlaubt war, aufrecht und selbstständig stehend zu tanzen. Das eröffnete völlig neue Perspektiven und ungeahnte Möglichkeiten.

Das und ein Film, der sicher keinen Tanguero unberührt ließ: „A Tango Lesson"! Mit Pablo Verón war ein neuer Tanzstil geboren. Wen wundert es, dass Peter ihn zum virtuellen Lehrer" erkor und das Video mit der „stop and go"-Taste studierte?

Wir befinden uns immer noch in etwa in den Jahren 1996/97, und die Milongas in den oben genannten Städten würden heute vermutlich unter „mixed Milongas" laufen. Es wurde auch Piazzolla aufgelegt und halt alles, was die CD-Kiste der DJs hergab. UND es wurde NICHT über die Musik diskutiert! Es wurde getanzt, und nicht jeder, der einen Tipp parat hatte, avancierte gleich zum Lehrer. Übrigens, Begriffe wie „cabeceo", „mirada", „código" hörte man damals auch noch nicht...

Zu unseren drei Paaren aus Augsburg gesellte sich ein viertes, und es wurde ein Verein gegründet: „tango lun´azul". Peter war Vorstand des Vereins und konnte von der Stadt Augsburg Fördermittel akquirieren. TA war offiziell in Augsburg gelandet! So wurde eine Musikanlage angeschafft, neue Lehrer konnten eingeladen werden, und Einzelunterricht wurde finanziert. Das Regensburger Lehrerpaar protestierte gegen Fremdlehrer (sic! gab es damals schon) und drohte mit Fernbleiben, was auch postwendend akzeptiert wurde.

Sehr bald darauf organisierte Peter das erste Tangofest in Augsburg. Im legendären Café Eickmann. Und es gab Live-Musik. Er hatte „Quadro Nuevo" eingeladen, eine damals noch eher unbekannte Band. Worauf sich der Ruf begründete: Die Augsburger tanzen auf alles!" (sic!)

Das erste Augburger Tangofest jedenfalls war ein Erfolg, und der Verein gewann etliche neue Mitglieder. Es gab regelmäßig Milongas, und die Gründungsmitglieder wechselten sich als DJs ab. Immer noch wurde nicht über Musik diskutiert, obwohl sich schon unterschiedliche Stilrichtungen herauskristallisierten, sowohl beim Musikgeschmack als auch beim Tanz. Peters Vorlieben waren Piazzolla, moderne, experimentelle Musik und Pablo Veróns Tanzstil. Wie überhaupt viel experimentiert und ausprobiert wurde zu jener Zeit.

Das ging so über einige Jahre: Es wurden Gast-DJs zu den Milongas eingeladen, die immer an wechselnden Orten stattfanden, an unterschiedlichen Stilen gearbeitet mit immer mal neuen Lehrern, bei Stadtfesten Showeinlagen getanzt, was wiederum neue Leute zum Tango brachte; und es wurden viele Veranstaltungen im näheren und weiteren Umland besucht. Jede Stadt hatte auch ein bissal einen eigenen Stil entwickelt, und so fuhr man zum Beispiel nach Landsberg zur legendären Faschingsmilonga im Foyer des Stadttheaters, wo man wunderbar zu „gemischter Musik" tanzen konnte. Auch die Milongas in Ulm besuchte man gern, wenn man die Abwechslung liebte. Ein „special" war die „Geheim-Milonga" in der „Tanzschule im Deutschen Theater". Dahin lud Olaf ein, nach Marinas megalangweiliger Milonga. Über den Hinterhof in den Saal, und da galt : „Wir tanzen, wie wir wollen und wir legen auf, was wir wollen!" (sic!)

Es waren also etwa acht Jahre ins Land gezogen, als einige unserer sechs Tänzer begannen, selbst zu unterrichten. Nicht für den Verein, sondern privat, und da begann sich einiges zu verändern. Die einen fuhren die traditionelle Schiene, alles sehr reglementiert, alles sehr „deutsch", wie Peter sagte. Plötzlich war „Kohle" verdienen ein Thema, und damit wuchs auch langsam, aber stetig der Futterneid.

Peter tanzte Shows, unter anderem in Hamburg und Freiburg, und auch er unterrichtete. Die andere Schiene: Modernen Tango, das „Tan-Do" Prinzip, das Führbarkeit und Improvisation, Energie und den bewussten Umgang mit derselben zur Grundlage hatte, sowie die Tatsache, dass die „kleinste Einheit" beim Tango eine Bewegung ist. Vieles hatte er in der Zeit auch vom Ballett „abgeschaut", speziell was die Energie betrifft, zum Beispiel bei Sprüngen.

Den Verein gab es noch, aber Peter meinte, dass es nun an der Zeit für einen neuen Vorstand wäre, und so geschah es… dass sich die „Rückwärtsrolle" vollzog, hin zu strikt traditionell. Plötzlich wollte man Peter vorschreiben, welche Musik er aufzulegen hätte, wenn er DJ machte. Plötzlich war festgeschrieben, was „echter Tango" sei und was nicht. Die Geburtsstunde der „Tangopozilei"! Bei Stadtfesten und Sommerfesten, die der Verein immer mit Tango „bespielt" hatte, war „Tan-Do"-Tango vom Vorstand nicht mehr erwünscht, weil „das ist kein Tango, was ihr da treibt". Als der neue Vorstand bei einem dieser Feste zu Peter sagte, er müsse froh sein, keinen Eintritt bezahlen zu müssen, traten er und seine damalige Partnerin mit sofortiger Wirkung aus dem Verein aus. Was dann so abging, würde man heute als "shitstorm" bezeichnen, und zwar auf die übelste Art, untergriffig und persönlich.

Und „Tan-Do" war frei! Hat ja auch was... nein, ist das einzig Mögliche!
Die Milonga wurde nach München verlegt, hieß „Experimentango" und war das Vermächtnis von Alexander, der nach Berlin ging (nach Augsburg kamen nun eh keine „Neos" mehr, und warum auch ...), Peter machte DJing, legte „Gotan", „Cohen", „Piazzolla" und Konsorten auf... und alles war gut. Es gab auch hier Gast-DJs im Sinne der Vielfalt...

Es wurde weiter experimentiert, zum Beispiel mit dem Schwert und Aikido.
Zwei oder drei Jahre später veranstaltete „Tan-Do" ein modern tango festival in Augsburg – „Step A", und es wurde ein Erfolg. („Step B" und „Step C" folgten in den nächsten Jahren).

Vereinsnahe Lehrer legten ihren Schülern nahe, keine dieser Veranstaltungen oder Milongas zu besuchen, um sich nicht ihren Tango zu „versauen". Und das war durchaus ernst gemeint, wie einige „Abtrünnige" Peter dann versicherten - zum Beispiel auf der ausverkauften Silvestermilonga „Dekadance" mit zwei dancefloors: oben traditionell und unten neo! (sic! Man ist ja kein Taliban…)

Und Peter hörte nicht auf zu experimentieren. Neue Partnerin, neuer Ansatz: bondage! (Diesem Thema werden wir in unserem Blog eine eigene Serie widmen.)
Tango und bondage... ist Führen und Folgen in beiden Fällen, die Begrenzung des äußeren Raumes und die innere Freiheit. Bondage nicht als Selbsttherapie, sondern als Kunstform und Metapher, aber durchaus gefesselt getanzt. Und fesselnd, wie ich meine...

In diversen Foren brach ein Shitstorm los, der Seinesgleichen suchte: „Braucht unser Tango das???" „Das versaut unsere Jugend!!!" (die so stark vertreten ist beim TA…) „Schweinerei..." – und nicht bloß das Löschen eines Erklärungsversuches (sprich: das Thema auf eine inhaltliche Ebene zu bringen), sondern der Rausschmiss der Person, sprich Peter und seiner Partnerin, aus diversen Gruppen und Foren war die Folge.

Na, macht auch nix .... Auftritte bei der „Dekadance" Milonga von Tan-Do in Nürnberg (sehr gut besucht... ach !) und Workshops bei „Nackter Tango" in Stuttgart und immer weiter experimentieren... (und ja, Tangoschüler aus der SM-Szene lernten schnell – Führen und Folgen).

Tja, und dann kam ich... und Peter nach Wien, aber das ist eine andere Geschichte...

Eine kleine Anekdote hab ich noch:
Nach einem Auftritt wurden Peter und seine Partnerin gefragt:
"Wo lernt man so Tangotanzen? In BA, oder habt ihr einen eigenen Argentinier?????"
Kein Witz... die ernstgemeinte Frage einer Besucherin bei einem unserer Auftritte, ausgelöst durch die Frage, wo man denn so Tango tanzen lernen könne.
In BA oder eben der Argentinier aus dem Titel!

Von da an ging's bergab:

Tango gab einen kleinen, aber immerhin einen Markt ab, plötzlich hatte jeder Argentinier (obwohl mindestens 97 Prozent aller Argentinier gar keinen Tango können) den Tango im Blut und irgend einen Opa ausgegraben, der Tango getanzt, und das natürlich an ihn vererbt hat, einschließlich der Schellacks, die mangels Abspielgerät immer noch verstaubt sind.

Was mich am meisten verblüffte, war nicht die Tatsache, dass aus dem Nichts ein Haufen „Lehrer" auftauchte, die alle unglaubliche Vitae aufzuweisen hatten, nur indem sie den Ausdruck „gelernt bei..." auf einzelne Workshops und ähnlich entwicklungsbefreite Massenveranstaltungen anwandten und, das sei neidlos anerkannt, ein ausgeprägtes Geschick für Marketing hatten.
Sondern, dass die Masse der aufmerksam gewordenen Lernwilligen das glaubte und glaubt, sich fast kritiklos in ein Tangoklischee pressen lässt, das marketingmäßig darauf ausgerichtet ist, die meist dünnen Fähigkeiten der Geldempfänger als fast mystische Sensibilität erscheinen zu lassen.

Aber aufgemerkt, es gibt auch andere, wenn auch wenige, die sich ihren Tango erarbeitet haben und nebenbei dem Tango hier eine Chance gaben (manche, noch wenigere, haben auch finanziellen Erfolg, und der sei ihnen von Herzen gegönnt).
Der Tango hat Wurzeln, vor und nach der EdO (Época de Oro), denen haben sich die meisten von den „anderen" verschrieben (Individualität, Bezug zum realen Leben und dem individuellen kulturellen Background, Anarchie und einfach nicht in eine Schublade passen zu wollen).

Der Tango war nicht umsonst über weite Strecken in Argentinien verboten (seine Akteure waren für die Diktatur mit ihrem Nonkonformismus und ihrer anarchistischen Tradition zu gefährlich) und passen somit in guter alter Tango-Tradition einfach nicht in das Tanzschulsystem.
Sie gaben und geben grad mal ein wunderbares Feindbild ab... auch in alter Tango-Tradition :-)

Zur Belohnung gibt's Abende, da feiert sich der Tango mit all seiner Energie, Lebensfreude und konspirativer Kraft... an einem wohlbekannten Ort… :-)

Alles Liebe euch und ein Gruß aus Wien

Alessandra & Peter SyS
(also Seitz y Seitz, wie der Argentinier sagt!)


Alessandras Anspielung auf den „wohlbekannten Ort“ bezieht sich auf den Vergleich bestimmter „Enklaven“ des modernen Tango mit dem legendären Intro zu Asterix (siehe das kleine gallische Dorf) die beiden haben zu dieser Idee auch ein herrliches Video produziert:



Und hier der Link, falls das Video nicht funktioniert:
https://vimeo.com/169441715


Kommentare

  1. Die Augsburger Tangoszene war als ich vor ca. 15 Jahren dazu kam, so offen und tolerant, wie "des in Augschburg ja sonscht gar net findsch".
    Richtig lebendig, mit allen möglichen Querköpfen verschiedenster Ausrichtungen, die alle Platz hatten. Der eine mag's wild und der andere "sein Schrammel". So dachte ich - naiv wie ich war: wenn wir die Schrammelliebhaber ihr Zeugs hören lassen, dann gönnen die uns auch unser Vergnügen mit Piazzolla. Oder?
    No! War nicht so. Peter "durfte" noch eine Zeitlang Kabelträgerhausmeister für den Tangoverein spielen. Dafür bekam er statt einem "Dankeschön" von der Schrammelfraktionvereinsvorständin den Piazzolla-Maulkorb von ganz oben gnädig heruntergereicht. Die Dame bestimmte fortan, "was Tango sei" und richtete "ihren"(?) Verein danach aus. Und ich werfe mir heute noch vor, die Situation damals unterschätzt zu haben.
    Aber tangomundtot, tangofliegtot oder tangotanztot kriegt uns keiner! Das hab' ich auch gelernt!
    Herzliche Grüße nach Wien!
    Manuela

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    1. Zur Vereinfachung zitiere ich hier einen Kommentar, den ich soeben auch auf dem Forum "tanzmitmir" eingestellt habe:

      Vielleicht habe ich den Vorteil, diese Phase des Umbruchs im Tango vor zwölf und mehr Jahren noch persönlich erlebt zu haben. Ich möchte daher – anstatt mich darüber zu verbreitern, wer nun was und warum für traditionell oder fortschrittlich hält – lieber mal peinlich konkret werden:

      Die Geschichte um den Augsburger Tango, die da im ursprünglichen Beitrag erzählt wird, habe ich damals „von außen“ mitbekommen. Die „Szene“ traf sich zu der Zeit wöchentlich in der Kultkneipe „Kervansaray“; es legten verschiedene DJs das gesamte Musikspektrum von 1920 bis 2005 auf. Der Laden war stets randvoll und lebendig. Dann kam innerhalb kurzer Zeit der Umschwung: Bestimmte DJs wie Peter Seitz verschwanden, es gab nun fast ausschließlich traditionelle Musik, die Besucherzahlen gingen zurück, eine große Zahl der besseren Tänzer blieb weg. Der Tango in der Fuggerstadt hat sich lange nicht von dieser Krise erholt.

      Ich hörte damals gerüchteweise, man habe bestimmte Personen wie Peter Seitz „rausgeekelt“ – und daher habe ich ihn nun gebeten, einmal seine Version der Geschichte zu erzählen. Was er berichtet, deckt sich mit meiner Erfahrung an anderen Orten. Es stehen sich meist zwei Fraktionen gegenüber: Die eine versucht, es mit einem gemischten Musikprogramm allen recht zu machen, und hofft auf gegenseitige Toleranz. Die andere Abteilung zieht knallhart ihren Alleinvertretungsanspruch durch: Alles für sie, nichts für die anderen.

      Manuela Bößel war zu der Zeit im Vorstand von „Tango lun’azul e.V.“. In einem Kommentar auf meinem Blog schreibt sie:

      „So dachte ich - naiv wie ich war: wenn wir die Schrammelliebhaber ihr Zeugs hören lassen, dann gönnen die uns auch unser Vergnügen mit Piazzolla. Oder?
      No! War nicht so. Peter ‚durfte‘ noch eine Zeitlang Kabelträgerhausmeister für den Tangoverein spielen. Dafür bekam er statt einem ‚Dankeschön‘ von der Schrammelfraktionvereinsvorständin den Piazzolla-Maulkorb von ganz oben gnädig heruntergereicht. Die Dame bestimmte fortan, ‚was Tango sei‘ und richtete ‚ihren‘ (?) Verein danach aus. Und ich werfe mir heute noch vor, die Situation damals unterschätzt zu haben.“

      Diese „Kulturrevolution“ ging genauso wenig „vom Volk“ aus wie die in China, sie wurde von oben verordnet. Natürlich bilden sich dann mit der Zeit neue Mehrheiten, da die nicht mehr Erwünschten die Szene verlassen und eine andere Population nachrückt. Insofern verwirklichte sich treffenderweise gerade in der Brecht-Stadt eines der bekanntesten Zitate des Autors: "Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?"

      Wie man dann allerdings einen Rückfall in vergangene Musikepochen auch noch als „Weiterentwicklung“ verkaufen konnte – da hätte wohl selbst der in seiner Heimatstadt lange verpönte Autor gestaunt…

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  2. Ich bin noch nicht so lang beim Tango wie ihr Tangourgesteine. Und ich bin eigentlich grundsätzlich für leben und leben lassen, auch im Tango. Hab aber schon gemerkt, dass die Tradi-Fraktion sich häufig durchsetzt, obwohl nach meinem Eindruck viele Milongabesucher es gern zumindest gemischt hätten.

    Nun die Gretchenfrage an euch Urgesteine: Warum sind die Tradis so militant? Und so durchsetzungsfähig? Auf diese Fragen habe ich noch keine für mich schlüssige Antwort gefunden. Vielleicht könnt ihr eine geben?

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    1. Also, wie sag ich’s jetzt möglichst diplomatisch?

      In meinen ersten Tangojahren fragte sich die überwiegende Mehrheit: „Was geht?“
      Später lautete dann die Frage: „Wie geht das?“
      Momentan ist man bei angekommen bei: „So geht das nicht!“

      Kurt Tucholsky schrieb in seinem berühmten Artikel „Der Mensch“: „Der Mensch gönnt seiner Gattung nichts, daher hat er die Gesetze erfunden. Er darf nicht, also sollen die anderen auch nicht.“

      Ich dreh die Gretchenfrage mal um: Warum sind die Militanten Tradis?

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  3. Mei Harry
    Ich stehe immer wieder fassungslos vor dieser Frage und zweifle an mir. ( ich lebe hier in Österreich und erlebe gerade hautnah wie rechter Populismus atemberaubend Raum greift - Stichwort "Bundespräsidentenwahl" ) und Sicher ist auf jeden Fall die "Radikalen" sind die Minderheit aber sie sind laut, sehr laut und haben keine Skrupel Phänomene zu Tatsachen und diese als Basis für "Gesetze" zu stilisieren und sich als legitime Vertreter dieser "Wahrheit" darzustellen, inkl. Gesamtvertretungsanspruch.
    Aber mich erschrecken nicht so sehr die Rattenfänger als die hinterherlaufende Masse die, wie du wohl zurecht beobachtest lieber ne Vielfalt hätten, aber dann doch lieber den "echten" Tanguero geben weil es doch so kuschelig ist im Moorbad ( oder ist es doch nur teurer Dreck? :-))
    Und sie schließen die Augen bei der verzweifelten Suche nach der 1 ...
    Man möge mir den Sarkasmus verzeihen, und in den ersten Satz des Kommentars gucken.
    Zu Tucholsky wäre eine kleine Änderung bezüglich des Tango's angeraten, wie ich finde ... " er KANN nicht, also sollen die Anderen auch nicht "
    LG aus Wien

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    1. Lieber Peter,

      der Hinweis auf die österreichische Bundespräsidentenwahl lag mir schon auf der Zunge – ich bin froh, dass Du es erwähnt hast… Und schlechte Verlierer sind die Brüder auch noch: Wenn die Mehrheit nicht zustimmt, kann das ja nur „Betrug“ sein!

      Die Abänderung des Tucholsky-Zitats ist völlig richtig! Ein Wahnsinn: In allen möglichen Bereichen strebt man nach „schneller, höher, weiter“ – nur im Traditionstango gilt das olympische Motto: „langsamer, niedriger, kürzer“…

      Herzlicher Gruß nach Wien!
      Gerhard

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  4. Oha! Gleich zwei Stichworte, die mich sehr interessieren: Aikido und Bondage! Das ist ja sehr spannend! Zum Aikido werde ich hier demnächst mal auf Einladung von Gerhard einen Gastbeitrag schreiben, und auf Euren angekündigten Beitrag zum Thema Tango und Bondage warten wir (Helge und ich) mit großer Spannung. Ein wenig gestreift wurde dieses Thema ja auch schon in Gerhards Besprechung unserer HerzSchmerzMilonga.

    Jedenfalls vielen Dank für Euren interessanten Beitrag! Ich werde jetzt auch Euren Blog regelmäßig lesen. Das Thema Traditionstango ist wirklich eigenartig, mich wundert es auch immer wieder, dass manche meinen, in diese Richtung missionieren und gegen alle andere Geschmäcker eifern zu müssen. Wir machen jedenfalls, was wir wollen. Wem es gefällt, der kommt, wem nicht, der bleibt weg.

    LG Annette

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  5. Komisch, die Probleme hatte ich in München nicht. Meine erste Lehrerin, natürlich, wie sich's gehört, aus Argentinien, war Balletttänzerin und brachte uns "Showtango" bei, also interessante Figuren, ausgreifende Schritte und kreative Entfaltung, durchaus auch mit Piazzolla im Hintergrund. Das behielt ich bei, und als die Musik der anderen Milongas zu langweilig wurde, machte ich eben selber welche - in der Seidlvilla. Es gab allerdings Veranstaltungen, die ich frühzeitig verließ (Plattenauflegerin: Theresa F.) oder verlassen wollte (Plattenauflegerin: Birgit Pl.). Aber was soll's; zur Not kann man auch die Cortina tanzen und sich nachher hinterm Vorhang verstecken!

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    1. Tja, da hast Glück gehabt - oder warst einfach früh genug dran!

      Dass Du aber damals den Tango in der Seidl-Villa aufgegeben hast, tut mir heute noch leid. Die Stimmung war zauberhaft - und heute ist es eine der vielen austauschbaren Traditionsmilongas...

      Na ja, Nostalgie gehört bekanntlich zum Tango!

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